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Wechselmodell nach der Trennung: "Pendelkinder" haben mehr als ein Zuhause


Wechselmodell nach der Trennung
"Pendelkinder" haben mehr als ein Zuhause

t-online, Nicola Wilbrand-Donzelli

Aktualisiert am 24.07.2017Lesedauer: 6 Min.
Nach einer Trennung teilen sich immer mehr Eltern die Kinderbetreuung zu gleichen Teilen.Vergrößern des BildesNach einer Trennung teilen sich immer mehr Eltern die Kinderbetreuung zu gleichen Teilen. (Quelle: Thinkstock by Getty-Images-bilder)
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Getrennt lebende Mütter und Väter wollen heute immer häufiger, dass ihre Kinder nicht mehr nur bei einem Elternteil leben. Sie entscheiden sich dann für das Wechselmodell, auch Paritätsmodell genannt, bei dem der Nachwuchs abwechselnd bei beiden Elternteilen wohnt, und zwar in einem möglichst gleichberechtigten Verhältnis. Ein Experte erläutert die Vorteile dieses Familienkonzepts.

Rund 170.000 Ehen wurden laut Statistischem Bundesamt 2013 in Deutschland geschieden. Davon betroffen waren gut 135.000 Kinder - diejenigen, deren Eltern nicht verheiratet waren, sind dabei gar nicht berücksichtigt. Weit über 90 Prozent der Väter und Mütter entscheiden sich nach ihrer Trennung für das Residenzmodell, wo sich die Eltern zwar in den allermeisten Fällen das Sorgerecht teilen, ihr Nachwuchs aber vorwiegend bei einem Elternteil lebt - fast immer ist das die Mutter.

Dieses verbreitete Betreuungskonzept, das weitgehend noch auf dem traditionellen Rollenbild "Der Mann verdient das Geld und die Frau kümmert sich um die Kinder" beruht, ist sozusagen das Gegenstück zum weniger alltäglichen Wechselmodell, das in den letzten Jahren aber von immer mehr Eltern angestrebt wird. Genaue Zahlen gibt es bislang noch nicht.

Die elterlichen Wohnungen sollten in derselben Stadt sein

Dabei wohnt das Kind in einem bestimmten zeitlichen Raster abwechselnd bei beiden Elternteilen. In den meisten Fällen ist es die 50:50-Lösung im sieben- oder 14-Tage-Rhythmus, die am besten realisiert werden kann, wenn die Wohnungen der Eltern nicht allzu weit voneinander entfernt sind. Das ist vor allem für Kindergarten- und schulpflichtige Kinder wichtig, damit sie ihre sozialen Kontakte und Hobbys weiter pflegen können.

Die Erziehungs- und Paarberaterin Barbara Liehr aus Berlin empfiehlt den 14-Tage-Rhythmus: "Kinder benötigen gute, stabile Vertrauenswurzeln für ein gefestigtes Leben. Diese Wurzeln können aber bei einem wöchentlichen Wechsel nicht die Tiefe erlangen, die wünschenswert und auch von Nöten wäre. Der wöchentliche Rhythmus befriedigt oftmals den Wunsch des jeweiligen Elternteils."

Das gilt beim Wechselmodell für den Unterhalt

Ein echtes Paritätsmodell besteht erst dann, wenn die Kinderbetreuung annähernd im Verhältnis 50:50 zwischen beiden Eltern aufgeteilt wird. In diesem Fall ist zunächst kein Elternteil berechtigt, Unterhalt zu fordern. Beide Eltern erfüllen gleichzeitig ihre Betreuungs- und Unterhaltspflicht. Der finanzielle Bedarf wird nach der Düsseldorfer Tabelle ermittelt, allerdings wird ein Aufschlag hinzugerechnet, weil zwei Haushalte geführt werden müssen und eventuell auch Fahrtkosten dazukommen. Das Einkommen beider Elternteile wird zusammengerechnet und der Unterhalt wird entsprechend den Einkünften aufgeteilt.

Nach aktueller Rechtsprechung ist bei einem Verhältnis von 40:60 oder mehr der Partner mit dem geringeren Betreuungsanteil zahlungspflichtig.

Kritiker: Mangel an Geborgenheit und Stabilität

Gegner des Wechselmodells kritisieren immer wieder, dass eine solche Regelung vor allem die Bedürfnisse der Eltern befriedige und nicht unbedingt dem Kindeswohl diene. Ihre Argumente: Ein Kind könne wohl kaum glücklich aufwachsen, wenn es unter den Eltern aufgeteilt würde und so zwei Lebensmittelpunkte und nicht nur ein "Nest" habe. Das bedeute auch, dass es sich auf zwei Familien und unter Umständen auf zwei unterschiedliche Erziehungsstile einstellen müsse. Dieses Ping-Pong-Prinzip, bei dem Stabilität, Alltagsroutine und Geborgenheit fehle, verhindere eine optimale kindliche Entwicklung.

Diese Thesen teilt Peter Thiel nicht. Es ist Familientherapeut und Fachgruppensprecher für Familienrecht bei der Deutschen Gesellschaft für Systematische Therapie, Beratung und Familientherapie (DGSF). Denn die Belastung der Kinder durch Pendeln, erklärt er im Gespräch mit t-online.de, sei beim oft praktizierten Residenzmodell nicht geringer als beim paritätischen Konzept.

"Kinder wechseln auch im Residenzmodell zwischen zwei Elternhäusern, und zwar manchmal häufiger als im Wechselmodell. Der Unterschied ist nur, dass sie im Wechselmodell zu einem gleich einbezogenen Elternteil in einer ihnen vertrauten Wohnumgebung hin wechseln, zu dem sie ebenfalls eine enge Bindung haben und bei dem sie zu Hause sind, nicht nur zu Besuch. Das ist ein Vorteil."

Positive Auswirkungen auf die Entwicklung des Kindes

Dass sich Trennungskinder unproblematisch sowohl bei Mama als auch bei Papa zu Hause fühlen können, belegte 2011 auch eine Studie des Deutschen Jugendinstituts (DJI), wo die Multilokalität von Familien untersucht wurde: Danach können sich Kinder - nicht nur ältere - meist sehr gut mit dem Leben in zwei Elternhäusern arrangieren. Das kann sich sogar positiv auf ihre Entwicklung auswirken, vorausgesetzt die Rahmenbedingungen stimmen.

Demnach kommt es für ein Kind vor allem drauf an, wie Eltern ihnen begegnen und nicht, in welchen Räumen dies stattfindet. Stabilität und Geborgenheit sind so eher als emotionale und nicht als geografische Größe zu verstehen.

Ebenfalls eine Befürworterin des paritätischen Konzepts ist die Rechtswissenschaftlerin Hildegund Sünderhauf. Als einzige deutsche Autorin hat sie den aktuellen Stand der internationalen Forschung zum Thema analysiert und kommt zu dem Schluss, dass ein funktionierendes Wechselmodell die beste Betreuungslösung für Kinder getrennt lebender Eltern ist.

Dabei führt sie unter anderem die "Wechsel-Tradition" in Schweden an. In dem skandinavischen Land werden rund ein Drittel aller Kinder getrennt lebender Eltern auf diese Weise betreut. In der Altersgruppe der Sechs- bis Neunjährigen sind es sogar 50 Prozent. Seit 2006 kann dieses Modell auch gegen den Willen eines Elternteils gerichtlich angeordnet werden.

Keine einheitliche Rechtsprechung in Deutschland

Vergleichbare Urteile gab es bei Streitigkeiten um das Umgangsrecht in jüngster Zeit auch in Deutschland. Sie sind aber noch selten. So entschied kürzlich das Amtsgericht Heidelberg bei einer Familie, dass trotz Widerspruchs der Mutter das paritätische Konzept im Interesse des Kinderwohls der beiden Söhne umgesetzt werden müsse und begründete dies mit den Vorteilen des Wechselmodells: Es gäbe weniger Loyalitätskonflikte, die Kinder könnten eine gleichmäßige emotionale Bindung zu beiden Elternteilen aufbauen und auch unterschiedliche Rollenbilder erfahren.

Doch viele Familienrichter sind skeptisch und halten das 50:50-Betreuungsmodell für keine grundsätzlich empfehlenswerte Lösung, vor allem dann nicht, wenn ein Elternteil dagegen ist, die Kommunikation zwischen Vater und Mutter sehr konfliktbeladen ist oder wenn sehr junge Kinder betroffen sind.

So resümierte die Kinderrechtskommission des Deutschen Familiengerichtstages im vergangenen Jahr, dass das paritätische Wechselmodell überschätzt werde und "bei Kleinkindern im Hinblick auf ihre Bindungs- und Betreuungsbedürfnisse praktisch kaum kindgerecht durchführbar ist."

Kinder wünschen sich häufig das Wechselmodell

Wenn sich Mütter und Väter ohne Streitigkeiten für das Wechselmodell entscheiden, stehen für viele die Kindesinteressen im Vordergrund, weiß Thiel. "Die meisten Eltern, die sich trennen, schaffen es, das Glück und das Wohl ihrer Kinder im Blick zu behalten. Für sie ist es selbstverständlich, dass Kinder beide Eltern zum Aufwachsen brauchen und dass sie weiter eine gelebte enge Beziehung zu beiden haben sollen. Dies ist auch häufig der Wunsch der Kinder, wenn sie alt genug sind, dazu etwas zu sagen."

Aber auch die Eltern haben ein eigenes Interesse, den engen Bezug zu ihren Kindern nicht zu verlieren und weiterhin eine wichtige Rolle in deren Leben zu spielen: "Wenn das Kind nicht zur Waffe im Beziehungskrieg erklärt wird", so der Familientherapeut, "müssen die Eltern sich dieses Bedürfnis wechselseitig zugestehen. Schließlich ist es eine Entlastung, wenn Eltern auch mal kinderfreie Zeit haben und leichter Beruf und Familie vereinbaren können."

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Das Konzept funktioniert auch bei hohem Konfliktpotenzial

Um das Wechselmodell leben zu können, sollten die Beteiligten möglichst gut miteinander kooperieren. Falls die Eltern aber keinen guten Draht mehr zueinander hätten, unterstreicht der Therapeut, sei dies kein Grund, das Konzept nicht umzusetzen. "Dann sind eben zwischen Mutter und Vater starre Absprachen und deren Einhaltung erforderlich. Im suboptimalen Fall schreiben sie sich E-Mails oder berichten in einem Übergabebuch, was das Kind in den Tagen bei einem Elternteil erlebt hat oder welche Infos weiter gegeben werden müssen."

Im kooperativen Miteinander könnten hingegen, je nach Bedürfnis von Eltern und Kindern, zum Beispiel Betreuungszeiten getauscht werden. Das ermögliche Flexibilität, die auch ältere Kinder bräuchten und sehr schätzten.

Beste Betreuungsform für Trennungskinder

So lautet das Fazit von Thiel: "Nach allen Erkenntnissen der psychologischen Forschung ist ein funktionierendes Wechselmodell die beste Betreuungsform für Kinder getrennt lebender Eltern - auch wenn möglicherweise elterliche Konflikte bestehen. Es ist auf jeden Fall ein Lebensentwurf, der dem der intakten Familie am nächsten kommt."

Wechselmodell-Expertin Sünderhauf prognostizierte in einem Fernseh-Interview: "Ich bin mir sicher, in den nächsten 20 Jahren wird sich das Wechselmodell als das zu favorisierende Betreuungsmodell durchsetzen. In sehr vielen Fällen ist es bestimmt eine Lösung, die auch zu einer friedlicheren und kooperativen Kultur im Umgang mit Trennung und Scheidung führen wird, weil eben dieser Kampf ums Kind mit den Folgekämpfen wie Unterhaltsstreitigkeiten et cetera gar nicht mehr geführt werden muss."

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