Kritik an Prüfungen Dieser Unsinn sollte aufhören
Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Im internationalen Vergleich schneiden deutsche Schulen nicht gut ab. Trotzdem bleibt es bislang beim alten System von Klassenarbeiten und Prüfungen. Geht es auch ohne?
Während in einigen Bundesländern die Schule gerade erst begonnen hat, werden in anderen schon Klassenarbeiten geschrieben. Dabei fürchten sich die Kinder vor dieser Art von Prüfungen, die sich seit vielen Jahren kaum verändert haben. Es geht aber auch anders.
Zur Person
Bob Blume ist Lehrer, Bildungsinfluencer und Podcaster. Er schreibt Bücher zur Bildung im 21. Jahrhundert und macht in den sozialen Medien auf Bildungsthemen aufmerksam. In seiner Kolumne für t-online kommentiert er aktuelle Bildungsthemen mit spitzer Feder. Man findet Blume auch auf Threads und auf Instagram als @netzlehrer, wo ihm mehr als 160.000 Menschen folgen. Sein neues Buch "Warum noch lernen?" ist ab sofort im Handel erhältlich.
Schulische Prüfungen geben zwar vor, bestimmte Fähigkeiten abzufragen: In Wirklichkeit schießen sie weit über das Ziel hinaus. Man könnte auch formulieren: Sie prüfen vor allem, ob junge Menschen schulische Prüfungen bestehen können. Über tatsächliche Fähigkeiten sagen sie wenig bis nichts aus. Das führt zu der Frage, warum genau es Prüfungen eigentlich braucht. Innerhalb der schulischen Logik sind sie vor allem Nachweis, bestimmte Lernziele (vermeintlich) erreicht zu haben.
Klassenarbeiten produzieren Noten, keine Bildung
Mehr noch: Prüfungen bestimmen über Lebenswege, indem sie dazu führen, dass Schüler von der Grundschule in die weiterführende Schule wechseln, mit der Erlangung der Mittleren Reife eine Ausbildung machen oder mit dem Abitur studieren können. Innerhalb der Schule sind Prüfungen aber oft bloße Verwaltungsinstrumente und Messinstrumente, mit denen das getan wird, was ohne sie aufwendiger ist: zu einer Note zu kommen. Weil die meisten Schülerinnen und Schüler das wissen, verengt sich das Lernen zu einem Auswendiglernen einen Tag vor der Prüfung oder dem Test.
Prüfungen, deren Zweck es ist, Noten zu produzieren, schaffen es nicht, tatsächliche Fähigkeiten auszuweisen. Sie dienen inzwischen oft als eine Selbstrechtfertigung von Schulen. Vor diesem Hintergrund überzeugt es auch immer weniger, mit Abschlüssen zu argumentieren.
Wie können Prüfungen sinnvoll werden?
Natürlich kann jeder durch ein autodidaktisches Selbststudium theoretisch Kompetenzen erwerben, die ihm oder ihr dabei helfen, im Leben glücklich und/oder erfolgreich zu werden. Aber die Perspektive auf jene, die einen solchen Weg gegangen sind, kann schnell täuschen. Weil es Zehntausende gibt, die es eben nicht schaffen. Ein formaler Abschluss führt nicht zwangsläufig zu einem finanziell unabhängigen, glücklichen Leben, aber der durch Abschlüsse erreichte Standard schafft eine Form der Zugangsvoraussetzung, die nicht flächendeckend durch Eigenstudium ersetzt werden kann. Dass Prüfungen generell nötig sind, um nachzuweisen, dass bestimmte Standards erreicht worden sind, werden die wenigsten bestreiten. Es stellen sich eher andere Fragen:
- Wie können Prüfungsaufgaben aussehen, die auf individuellen Wegen gelöst werden können und dabei trotzdem die notwendigen Standards erreichen?
- Wie können Prüfungen unabhängig von einem einzelnen Tag gestaltet werden, bei dem es mehr auf den richtigen Zeitpunkt ankommt als auf die tatsächlichen Fähigkeiten?
- Wie können Prüfungen so gelegt werden, dass nach einem Nichterreichen des Standards an der Kompetenz gearbeitet werden kann und nicht mit einem Malus weitergearbeitet wird?
- Sollten Prüfungsstandards bundesweit vereinheitlicht werden? Und wenn ja, wie?
- Inwiefern sind Prüfungen notwendig, um eine Allgemeinbildung nachzuweisen, die in vielen Fällen wenig mit dem Studium oder der Ausbildung zu tun hat, die man später auswählt?
Gerade mit der letzten Frage soll eine Unterscheidung gemacht werden, die oft nicht gemacht wird. Bei der Kritik an – wenn wir das häufigste Beispiel nehmen – Gedichtinterpretationen, der ich mich grundsätzlich anschließen würde, geht es nicht darum, dass Schülerinnen und Schüler sich nicht mehr mit Gedichten befassen sollen. Denn es stimmt, was der österreichische Philosoph Konrad Paul Liessmann sagt: "Ein Bildungssystem erhält seinen Wert dadurch, dass es Möglichkeiten des Kennenlernens und Erkennens von Dingen eröffnet, die in der Welt der jugendlichen Erfahrungen unmittelbar nicht vorgesehen sind."
Bildung macht man auch zu Hause
Dieses Kennenlernen kann aber eine Möglichkeit sein, die man zu dem Zeitpunkt vielleicht noch nicht nutzen kann. Weil man nicht reif genug ist oder sich nicht in der Lage fühlt, sicher mit dieser Art von kulturellen Gütern umzugehen. Aber eine Möglichkeit, auf die man zurückkommen kann. Damit ist Bildung auch das, was man tun kann, nachdem man von der Arbeit nach Hause gekommen ist. Die Frage ist dabei aber nicht, ob Schüler Benn, Brecht, Kaléko oder Bachmann kennenlernen sollten. Denn das sollten sie, allein deshalb, weil damit Geschichte, Sprache und Erkenntnis in eine fruchtbare Symbiose kommen können für den, der genau hinschaut.
Die Frage ist, ob dies in der jetzigen Form gemacht werden muss, die auf eine formal immer gleiche Struktur gebracht werden muss. Geht es darum, dass Schülerinnen und Schüler Gedichte kennenlernen und damit die dichteste Form sprachlichen Ausdrucks? Als etwas, das bewegt, zum Nachdenken anregt und berührt? Dann muss man konstatieren, dass Schulen dies regelmäßig nicht schaffen. Zumindest wenn man auf die vielen Stimmen von Schülerinnen und Schülern oder Ehemaligen vertraut, die den Sinn einer Gedichtinterpretation auch nach Jahren nicht erkennen können.
Standardisierte Prüfungen auf den Prüfstand stellen
Und das hat auch mit den standardisierten Prüfungen zu tun. Gerade wenn Eltern und Lehrkräfte dieser These zustimmen, können sie auch innerhalb des momentanen Systems für eine Änderung des Blickwinkels sorgen. Nicht, indem sie Kindern und Jugendlichen erklären, dass sie nicht mehr üben müssen. Sondern indem sie den Blick darauf lenken, dass die Übung selbst ein viel größerer Teil des Lernens ist als die Prüfung oder die Ziffer, die diese ergibt.
Die aktuelle Kolumne ist ein leicht angepasster Auszug aus Bob Blumes neuem Buch "Warum noch lernen?" (Mosaik Verlag), das am 11. September 2024 erschienen ist
- Eigene Meinung