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Corona-Pandemie: Der Weg zurück zur Normalität wird schwer


Corona-Pandemie
Der Weg zurück zur Normalität wird schwer

  • Lamya Kaddor
MeinungVon Lamya Kaddor

09.06.2021Lesedauer: 5 Min.
Meinung
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Ein Stück Normalität kehrt im Sommer zurück nach Deutschland: Viele Kinder gehen wieder in die Schule.Vergrößern des Bildes
Ein Stück Normalität kehrt im Sommer zurück nach Deutschland: Viele Kinder gehen wieder in die Schule. (Quelle: dpa)

Paradoxerweise löst die Freude über die Lockerungen bei vielen Menschen auch Unbehagen aus. Wir werden uns alte Kulturtechniken wieder aneignen müssen, der Weg zurück zur Normalität ist lang.

Können Sie sich noch daran erinnern, als Sie das letzte Mal mit Freunden in einer Kneipe saßen und die Köpfe bei einem Glas Wein oder einer Virgin Mary zusammengesteckt haben? Von der brennenden Kerze in der Flasche tropft der Wachs. Im Hintergrund läuft leise "Billy Jean". Der Bierdeckel wandert beiläufig durch Ihre Finger und zerfleddert dabei zusehends. Gemeinsam beschwören Sie die guten alten Zeiten und tratschen über den jüngsten Fehltritt der gemeinsamen Bekannten.

Schön war’s. Noch schöner wär es, wenn wir bald wieder dahin kämen. Doch es wird ein langer und beschwerlicher Weg zurück zur Normalität sein – nach fast eineinhalb Jahren Corona-Pandemie. Die Infektionszahlen sinken zwar, und bei vielen wächst die Vorfreude auf Kneipenabende. Auf Konzerte und Festivals. Auf Disko- und Partybesuche. Auf Theatervorstellungen. Auf Lesungen… Gleichzeitig aber ist da dieses paradoxe Unbehagen. Impfung hin, Corona-Test her. Man fühlt sich irgendwie unwohl, geradezu nackt ohne Corona-Maske.

"Nicht direkt anatmen!"

Als diese Woche ein Handwerker zu uns nach Hause kam, saßen wir mit ihm am Wohnzimmertisch. Wir versicherten uns gegenseitigen bereits vorhandener Erstimpfungen und zuletzt durchgeführter Schnelltests, sorgten durch gekippte Fenster für etwas Durchzug, hielten am Tisch Abstand und verzichteten dann auf die Maske. Trotzdem konnten wir mit der Zeit ein leicht nervöses Hin- und Her rutschen auf den Stühlen untereinander bemerken. Gedanken spukten durch unsere Köpfe: "Nicht zu weit herüberbeugen, besser nach hinten lehnen!" "Nicht direkt anatmen!" "Lieber den Stuhl noch unauffällig einen Millimeter weiter wegrücken." Unser Verhalten kam uns selbst vielfach irrational vor, aber es war einfach da.

Ich glaube, viele Menschen können es sich zum jetzigen Zeitpunkt kaum vorstellen, innerlich frei und ungezwungen mit jemandem irgendwo in einem Innenraum die Köpfe zusammenzustecken. Die Unsicherheiten beginnen ja schon bei der Begrüßung: Faustgruß oder Küsschen rechts und linkst wie früher? Ellbogenbegrüßung oder Umarmung? Hand geben oder lieber nur ein kontaktfreies Hallo? Es wird Zeit brauchen, bis alte Kulturtechniken wieder sitzen und reibungslos ablaufen werden. Selbstverständlichkeiten und frühere Gewohnheiten müssen wieder eingeübt werden. Man wird lernen müssen, neues Vertrauen zu fassen, die Gedanken an Corona auszublenden. Das könnte Wochen, vielleicht Monate lang dauern.

Unsicherheit mit Blick auf den Herbst

Selbst dann, wenn man der Meinung ist: "Das ist doch alles Blödsinn. Sobald meine Stammkneipe wieder geöffnet hat, bin ich der Erste am Tresen." Gut, seien Sie das. Aber möglicherweise werden Sie viele alte, bekannte Gesichter vermissen, weil die nicht so schnell wieder bereit dazu sind wie Sie. Die Freundinnen werden vielleicht erst einmal nur in einen Biergarten gehen wollen. Oder maximal zu einer Gartenparty. Kinobesuche kommen nicht zustande, Videoabende platzen.

Freunde melden sich nicht, nicht weil sie keine Lust mehr auf Sie haben, sondern weil sie keine Ahnung haben, was man coronafrei zusammen machen kann. Kindergeburtstage fallen kleiner aus, weil die Gäste absagen. Manche Leute werden mehr, manche werden weniger Zeit brauchen, bis für sie alles wieder so ist wie vor der Corona-Pandemie.

Und dann ist da noch die Unsicherheit mit Blick auf den Herbst. Wird es eine vierte Corona-Welle nach dem Sommer geben? Taucht eine neue Mutante auf, die resistent gegen die derzeitigen Vakzine ist? Fällt der Politik im Zweifelsfall wieder nichts anderes als Lockdown ein? Sollen wir uns doch lieber darauf einstellen, dass wir erst nächstes Jahr den Weg zur Normalität einschlagen können?

An den Lockdown gewöhnt

Manchen Mitmenschen fällt es heute schon schwer, die aktuellen Lockerungen zu akzeptieren. Sie haben sich im Lockdown eingerichtet und an die Einschränkungen gewöhnt. Vielleicht sehen sie sogar Vorteile darin, weil der Lockdown ihnen hilft, gesellschaftlichen Verpflichtungen aus dem Weg zu gehen. Sie können ohne schlechtes Gewissen zuhause abhängen. Ihnen bleibt die Mühe erspart, sich für das Ausgehen fertig zu machen und dann die Herausforderungen menschlichen Beisammenseins meistern zu müssen.

Es wird Geduld nötig sein. Wir werden viel gegenseitiges Verständnis aufbringen und Freundinnen und Freunden dies oder das verzeihen müssen. Manche von ihnen werden offen Zweifel an der Gefährlichkeit des Coronavirus äußern, andere seine Gefahren dramatisieren. Darunter werden welche sein, die man durch die Pandemie monatelang kaum gesehen hat, und von denen man dies oder das "niemals" erwartete hätte. Bis zu einem gewissen Grad werden sich Menschen seit Frühjahr 2020 auseinandergelebt haben.

Ohne Rücksicht könnte es einsam um uns herum werden

Einige Freundinnen und Freunde, Bekannte und Verwandte werden sich nicht gegen Covid-19 impfen lassen, selbst wenn es tatsächlich mal irgendwann genug Impfstoff geben sollte. Werden sie dann ausgegrenzt wie früher jene, die sich auf Partys nicht besaufen wollten wie alle anderen? Oder die plötzlich auf Techno standen und keine Lust mehr auf R’n’B hatten? Ohne Rücksicht und viel, viel Gelassenheit könnte es schneller einsam um uns herum werden, als wir uns das gegenwärtig vorstellen können.

Nicht nur im Privaten warten Herausforderungen – auch im Job. Belegschaften müssen sich wieder zusammenruckeln. Einige sind seit Monaten im Homeoffice und haben ihre Kolleginnen und Kollegen das letzte Mal vor einem Jahr gerochen. Andere haben die Vorzüge von personell ausgedünnten Großraumbüros oder Industriehallen schätzen gelernt. Wenn die Mannschaft wieder komplett an Bord ist, wird es enger. Zudem werden sich Arbeitsabläufe, die während Corona gerade frisch eingeübt worden sind, erneut verändern müssen.

Das Homeoffice wird sicherlich nicht mehr ganz verschwinden, dennoch wird man in Teilen auch in den Betrieben wieder lernen müssen, direkt miteinander zu kooperieren oder der Chefin vis-a-vis unter die Augen zu treten. Man wird sich anfangs vielleicht noch unwohl fühlen, erschrickt sogar, wenn einem die Kollegin plötzlich die Hand auf die Schulter legt, um sie vom Flip-Chart wegzuschieben, weil sie ein Post-it aufkleben will. Oder man ist genervt, weil der Kollege vom Schreibtisch gegenüber andauernd mit seinem Bürostuhl herüberrollt, um mit auf den Bildschirm zu schauen.

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Folgen der Pandemie für Kinder

So beschwerlich diese und vieles andere für Erwachsene schon ist, wie sieht es da erst mit Kindern und Jugendlichen aus? Für sie ist ein Jahr gefühlt x-mal so lang, wie ein Jahr aus der Sicht einer 50-Jährigen. Woran haben sie sich alles gewöhnt? Was müssen sie neu lernen? Die Folgen der Pandemie für Mädchen und Jungen sollten wir als Eltern oder sonstige Vertrauenspersonen ganz besonders gut beobachten. Kinder reflektieren ihr Verhalten schließlich weniger und können Probleme nicht automatisch verbalisieren. Vielleicht stecken sie die Pandemie problemlos weg, vielleicht tragen sie aber auch längerfristig Schaden davon.

Sollte der lang ersehnte Sieg über die Pandemie endlich da sein, werden wir uns trotzdem nicht zur Ruhe setzen können. Die gesellschaftliche sowie die berufliche Anstrengungen gehen weiter. Für manche, die bisher glimpflich durch die Krise gekommen sind, geht die Arbeit vielleicht dann erst richtig los. Stellen wir uns darauf ein. Bereiten wir uns darauf vor, indem wir uns die möglichen Herausforderungen vergegenwärtigen und uns für die etwaigen Gefahren sensibilisieren.

Mehr Kolumnen von Lamya Kaddor lesen Sie hier.

Lamya Kaddor ist Islamwissenschaftlerin, Religionspädagogin, Publizistin und Gründerin des Liberal-Islamischen Bunds e.V. (LIB). Derzeit leitet sie ein Forschungsprojekt an der Universität Duisburg-Essen und ist Kandidatin der Grünen für den Bundestag. Ihr aktuelles Buch heißt "Die Sache mit der Bratwurst. Mein etwas anderes deutsches Leben" und ist bei Piper erschienen.

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