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Hamburger Notfallmediziner warnt: "Brauchen drastische Reformen"


Überlastetes Gesundheitssystem
"Wir sind an unserer Belastungsgrenze und bekommen keine Pausen"

  • Gregory Dauber
InterviewVon Gregory Dauber

Aktualisiert am 16.12.2022Lesedauer: 6 Min.
Interview
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Dr. Sebastian Casu steht vor der Zentralen Notaufnahme: Er ist Chefarzt an der Asklepios Klinik in Hamburg-Wandsbek.Vergrößern des Bildes
Sebastian Casu steht vor der Zentralen Notaufnahme: Er ist Chefarzt an der Asklepios Klinik in Hamburg-Wandsbek.

Steht die Notfallversorgung vor dem Kollaps? Mediziner schlagen angesichts vieler Personalausfälle und großer Patientenzahlen Alarm.

Jedes Jahr versorgen der Notfallmediziner Sebastian Casu und sein Team 35.000 Patienten, rund um die Uhr. Im Minutentakt muss entschieden werden, wer wie schnell versorgt werden muss. Doch nicht nur in der Notaufnahme der Asklepios Klinik in Hamburg-Wandsbek, die Casu als Chefarzt leitet, ist die Situation für Patienten und Angestellte extrem belastend. "Zeitweise kommt alle drei Minuten ein Patient und wir wissen nicht, was uns erwartet", sagt er im Interview mit t-online.

Deutschland ist mitten in einer Krankheitswelle, die nicht nur die Patientenzahlen in die Höhe schnellen lässt, sondern auch für viele Ausfälle beim Klinikpersonal führt. Irgendwann sei die Ressource Notfallversorgung erschöpft, warnt er. Die bisher von der Politik angestoßen Reformen kämen nicht an und die Situation werde von Jahr zu Jahr schlimmer. Der Experte fordert entschlossene und tiefgreifende Ansätze, um die Notfallversorgung auf höchstem Niveau aufrechterhalten zu können.

t-online: Wie erleben Sie die Überlastung des Gesundheitssystems in Ihrer Zentralen Notaufnahme?

Sebastian Casu: Das Gesundheitssystem ist derzeit auf allen Ebenen maximal belastet. Sowohl bei den niedergelassenen Kolleginnen und Kollegen, die Vollgas geben, um Patienten zu behandeln, als auch bei den Rettungsdiensten und natürlich auch im klinischen Bereich. Als Zentrale Notaufnahme sind wir immer die Pforte in die Klinik. Dementsprechend hoch ist unsere Belastung derzeit.

Warum sind gerade die Notaufnahmen so stark belastet? Gibt es mehr Notfälle als sonst?

Das ist eine komplexe Frage, die nicht so einfach beantwortet werden kann. Das Gesundheitswesen ist personell auf Kante genäht. Fachpersonal wird immer mehr zu einem raren Gut. Hinzu kommen saisonale Schwankungen. Jeden Winter kommen wir in Belastungsspitzen. RS-Virus, Influenza und Corona schlagen natürlich nicht nur auf Patientenseite, sondern auch aufseiten der Mitarbeitenden zu. Zweitens haben wir eine Notfallversorgung, die auf vielen Ebenen reformbedürftig ist. Wenn die Arbeitslast zu hoch wird, dann werden Notaufnahmen zu einem Flaschenhals in der Notfallversorgung mit der Gefahr von Überlastung.

Was für Szenen spielen sich dann in so einer überlasteten Notaufnahme ab?

Wir sprechen dann von "overcrowding", also Überfüllung. Patienten haben verlängerte Wartezeiten, die wir durch verschiedene Maßnahmen zu reduzieren versuchen. Wir sind aber auch gezwungen, die Versorgung schneller und pragmatischer zu gestalten, um den vielen Menschen gerecht zu werden. Außerdem sind dann oft auch räumliche Kapazitäten erschöpft, wenn keine Räume mehr zur Verfügung stehen und man Liegen auf den Fluren platzieren muss. Die Flure sind voll und das medizinische Personal rennt auf und ab, um die Versorgung so gut wie möglich aufrechtzuerhalten. Bilder, die man mehr oder weniger aus jeder Notaufnahme kennt.

Werden dadurch auch Leben gefährdet oder schlechtere Gesundheitszustände in Kauf genommen?

Durch eine gute Vernetzung zwischen den Kliniken und auch durch die Möglichkeit, eine Notaufnahme von den Leitstellen der Rettungsdienste zeitweise abzumelden, wird so etwas abgewendet. Es gibt ja Szenen aus anderen Ländern, wo Rettungsfahrzeuge Stunden vor Notaufnahmen stehen, bis diese ihre Tore öffnen und Patienten hereinlassen. Wir haben ein dichtes Netz an Kliniken, in dem man sich die Bälle zuspielen kann. Wir können die Schwankungen und Stoßzeiten im Patientenaufkommen leider nicht vorhersagen. Es kann nicht so viel Personal vorgehalten werden, dass zu jeder Zeit eine unendliche Anzahl von Patienten und Patienten versorgt werden könnte. Damit müssen wir umgehen können und darin muss Deutschland noch besser werden.

In Hamburg durften sich Notaufnahmen in dieser Woche eine Zeit lang nicht mehr abmelden. Was bedeutet das, wenn sich eine Notaufnahme abmeldet?

Notaufnahmen können sich in extremen Situationen für kurze Zeit von der Notfallversorgung abmelden. Das ist jedoch nichts anderes als eine Bitte, denn wir sind zur Notfallversorgung gesetzlich verpflichtet. Rettungsdienste versuchen dann, eine andere Notaufnahme anzufahren, die noch nicht so belastet ist. Das ganze System ist gerade derart beansprucht, dass sich teilweise alle Kliniken abmelden wollen, was natürlich nicht gut gehen kann. Patienten sind in vollen Notaufnahmen immer noch besser aufgehoben als auf der Straße. Das kurzzeitige Abmeldeverbot ist insofern eine formal nachvollziehbare Maßnahme, nur hat es extreme Konsequenzen innerhalb der Kliniken: Wir sind an unserer Belastungsgrenze und bekommen keine Pausen. Dadurch verzögert sich alles: die Diagnostik, die ärztliche Sichtung, die Möglichkeit zu therapieren. Das wird einer Notfallversorgung auf höchstem Niveau, und die ist unser Anspruch in Deutschland, nicht gerecht.


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Das ist keine Lösung, die man über mehrere Monate halten könnte. Die Leute brauchen Pausen und wollen nach ihrem Arbeitseinsatz irgendwann auch wieder nach Hause gehen.


Dr. Sebastian Casu


Sie und viele ihrer Kollegen in Hamburg waren Kritiker dieser Maßnahme. Was wäre passiert, wenn das Verbot länger Bestand gehabt hätte?

Wir betreiben Teamsport. Wenn sich das abgezeichnet hätte, wären zusätzliche Notfallpläne notwendig gewesen. In den meisten Kliniken passiert so etwas schon unterschwellig, beispielsweise wenn geplante Eingriffe verschoben werden. Auch die Feuerwehren tun, was sie können, indem sie zusätzliche Kräfte auf Rettungsmittel setzen. Wenn so ein Zustand aber länger anhält, braucht es einen umfassenden Notfallplan, der von den Behörden ausgelöst wird. So eine Belastung darf aber nicht chronisch werden, denn diese Notfallpläne sind für Ausnahmesituation gedacht, wenn es zu einem Flugzeugabsturz oder Vergleichbarem kommt. Dann werden Ressourcen aktiviert, die sonst nie vorgehalten würden. Das ist keine Lösung, die man über mehrere Monate halten könnte. Die Leute brauchen Pausen und wollen nach ihrem Arbeitseinsatz irgendwann auch wieder nach Hause gehen.

Es gibt viele Berichte über eine regelrechte Personalflucht, in der Pflege gab es auch schon vor Corona große Probleme. Einschneidende Verbesserungen gab es aber noch keine, oder?

Das stimmt leider. Gefühlt muss ich sagen, es sind noch keine wesentlichen Verbesserungen angekommen, zudem steigen die Belastungen zusätzlich. Wir müssen die Berufe attraktiver gestalten. Wir haben ja eine hohe Konkurrenz mit "Ich will irgendwas mit Google machen", Nine-to-Five und gerne Homeoffice vom Strand aus. In unserem Bereich muss man bereit sein, mit viel Leidenschaft 24 Stunden am Tag zur Verfügung zu stehen. Dass man Weihnachten und Silvester freihat, das ist schlichtweg nicht üblich. Der zweite Punkt ist, dass die Ressourcen des Gesundheitssystems auch bezahlbar sein müssen: Medizin wird immer teurer, weil wir immer mehr Hightech haben, um eine bestmögliche Versorgung sicherzustellen. Es gibt zwar nette Ansätze, aber es braucht drastische Reformen des Gesundheitswesens. Bei adäquater Bezahlung brauchen wir Karrierechancen im Berufsbild der Pflege. Wir brauchen Dienstplanstabilität, damit man sein Leben planen kann, dafür braucht man genug Köpfe. Und wir brauchen fest in die Arbeitszeiten integrierte Fortbildungen, denn das wird von der Politik noch zu wenig als wesentlicher Bestandteil unserer Berufe gesehen und auf viel zu wenig in Finanzierungsgedanken eingebunden.

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Also geht es letztlich wieder um mehr Geld aus der Staatskasse?

Das weiß ich gar nicht. Wir investieren ja schon sehr viel Geld ins Gesundheitswesen und ich bin auch kein Volkswirt. Aber wir müssen wohl die Verteilung des Geldes besser steuern. Wir brauchen eine komplette Reorganisation von ambulanter und stationärer Versorgung. Diese Bereiche so klassisch zu trennen, halte ich für einen Fehler, und es verhindert, die Arbeitslast so zu verteilen, wie es für die Patienten angebracht wäre und von allen Seiten leistbar ist.

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Sie fordern also eine engere Verzahnung der klinischen und ambulanten Bereiche?

Ich glaube, dass wir da zusammenwachsen müssen, etwa im digitalen Datenaustausch. Da ist eine Menge Luft nach oben. Auch Rettungsdienste müssen gestärkt werden. Gleichzeitig benötigen wir eine gute, zentral organisierte Möglichkeit, Patientenströme in der Notfallversorgung zu lenken, um die Arbeitslast dynamisch und transparent zu verteilen und unsere Patienten jederzeit am richtigen Ort durch die richtigen Kollegen behandeln zu lassen.

Wie schnell müssen solche Reformen nun vorangetrieben werden?

Ich habe jetzt kürzlich in der Zeitung gelesen, dass es fünf nach zwölf ist. Keiner der Lesenden wird jetzt überrascht sein, wenn man sagt, die Notaufnahmen sind überlastet. Das haben Sie schon 2016, 2017 und 2018 gelesen. Von Jahr zu Jahr wurde es schlimmer. Und nächstes Jahr werden wir vermutlich wieder sagen, die Notaufnahmen sind überlastet, weil tiefgreifende Reformen nicht so schnell umgesetzt werden können. Wenn Sie also fragen, wann wir anfangen müssen, dann sage ich vor einigen Jahren. Aber das hilft jetzt nicht mehr. Wir brauchen ein Maßnahmenpaket auf allen Ebenen der Versorgung, um in der Lage zu sein, das Geld, das zur Verfügung steht, optimal einzusetzen.

Das Budget ist also nicht das Problem, sondern die Verwendung des Budgets?

Ich glaube, dass eine Umverteilung sinnvoll ist. Manchmal ist mein ganz persönlicher Eindruck, dass wir uns in Deutschland auch besonders im Weg stehen und es hochkomplex machen. Dann kommen wir nicht so schnell voran. Wie gesagt, ich bin kein Volkswirt. Ob dann ganz zum Schluss, nach diesen Umschichtungen und Reformen, genug zur Verfügung steht, das wage ich gar nicht zu beurteilen. Wahrscheinlich liegt die Wahrheit in der Mitte.

Verwendete Quellen
  • Persönliches Interview mit Dr. Sebastian Casu
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