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Nürnberg – Gesundheitsversorgung in Gefahr: Ärzte schlagen Alarm


Notruf der Gesundheitsversorgung
"Muss ich für den eingewachsenen Zehennagel wirklich die 112 wählen?"

  • Meike Kreil
Von Meike Kreil

Aktualisiert am 05.08.2022Lesedauer: 4 Min.
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Rettungssanitäter bringen einen Patienten in die Notaufnahme (Symbolbild): Die gesamte Branche sei am Ende, heißt es in Bayern.Vergrößern des Bildes
Rettungssanitäter bringen einen Patienten in die Notaufnahme (Symbolbild): Die gesamte Branche sei am Ende, heißt es in Bayern. (Quelle: localpic/imago-images-bilder)

Notruf der Gesundheitsversorgung: Ärzte schlagen Alarm. Es drohe der Abstieg von der Champions League in die Kreisliga. Die Lage ist ernst.

Die Lage ist ernst. Daran lassen die Minen aller Anwesenden keinen Zweifel. Dass zu dieser Pressekonferenz gleich neun hochkarätige Verantwortliche aus allen Gesundheitsbereichen aus dem Raum Nürnberg geladen haben, ist außergewöhnlich. Es ist ein Hilferuf der Branche. Nichts Geringeres als die Gesundheit der Menschen in der Region ist in Gefahr.

"Das Personal hat die Schnauze voll", fasst Ulrich Schwiersch, Versorgungsarzt aus Fürth, das Grundproblem der Branche zusammen. Viele seien am Limit, hätten in den zweieinhalb Jahren der Pandemie Unfassbares geleistet.

Ein Ende der angespannten Situation ist nicht in Sicht. Das gilt für Praxen, Kliniken, Rettungsdienste, Pflegeheime gleichermaßen mit allem, was dazugehört – von der Krankenhausküche über die Verwaltung bis hin zur Apotheke.

Viele Kräfte können oder wollen die Bedingungen in der Branche nicht mehr hinnehmen. Die Erwartungshaltung vieler Patienten, immer sofort dranzukommen – "Sofortismus" genannt. Die Aggressivität, mit der ihnen immer mehr Patienten begegnen, obwohl sie ihnen helfen wollen.

Die Polizeieinsätze seien signifikant gestiegen, erklärt Manfred Wagner, der Ärztlicher Direktor am Klinikum Fürth ist. Immer häufiger komme es vor, dass Patienten laut werden. Etwa wenn sie erfahren, dass eine Operation schon wieder aufgeschoben werde. Oder es randaliere einer, weil ihm die Wartezeit zu lang sei. Oder wenn Menschen abgewiesen werden, die kein Notfall seien.

"Ein Kind mit erhöhter Temperatur ist kein Notfall"

"Ein Kind mit erhöhter Temperatur ist kein Notfall." Eine Aussage wie diese fällt bei diesem Termin mehrfach. Sie verdeutlicht die Dramatik, die in den Krankenhäusern herrscht. Die Ärzte appellieren an die Eltern, sich zu hinterfragen, bevor es in die Notaufnahme geht: Tut’s nicht auch der Wadenwickel oder ein Rat der Oma?

Das "fiebernde Kind" blockiere sonst vielleicht einen Platz, den ein Mann mit Herzinfarkt dringender bräuchte. Das erklärt Karin Becke-Jakob, Chefärztin der Anästhesie der Klinik Hallerwiese. Bei ihr würden gerade 120 "Notfallkinder" versorgt. Die Kapazitäten seien ausgeschöpft. Offiziell könne die Notaufnahme keine weiteren Kinder mehr aufnehmen. "Wir haben eine noch nie dagewesene Gemengelage." Ob Covid daran schuld sei oder nicht, tue nichts zur Sache, betont sie.

Doppelt so viele Patienten in der Notaufnahme in Nürnberg

Früher seien durchschnittlich 150 Menschen am Tag in die Notaufnahme gekommen. Heute seien es bis zu 300 Patienten, skizziert Alexander Dechêne, der für die Notaufnahme am Nordklinikum Nürnberg zuständig ist. Dabei seien "ungewöhnlich viele Fußgänger". Er stellt fest: Wer selbst noch zum Krankenhaus spazieren könne, bei dem handele es sich meist nicht um einen Notfall. Oft seien sie so schon mittags voll.

Dem gegenüber stünden zehn bis 20 Prozent weniger verfügbare Betten, sowohl in Intensiv- als auch in Normalstationen. Ein bundesweites Phänomen, erklärt Wagner aus Fürth. "Es braucht eine grundlegende Reform des Gesundheitswesens und kein 'Weiterwurschteln' auf dem Rücken der Beschäftigten."

Durch die Ausfälle auf allen Seiten würden das ganze System und die Versorgungskette ineffizienter, so Wagner. Bis zu zehn Stunden müssten Patienten mittlerweile auf einen Krankentransport warten, um verlegt zu werden. Bis zu 100 Heime müssten Mitarbeiter mittlerweile anfragen, um einen einzelnen Patienten unterzubekommen. Das alles koste Zeit, die die Kräfte nicht haben. Operationen würden aufgeschoben. Aber wohin? In den Herbst, wenn die Situation vielleicht noch angespannter ist? Eigentlich sei er ein positiver Mensch, sagt Wagner. "Aber diese Situation macht mich ratlos."

"Muss ich für den eingewachsenen Zehennagel wirklich die 112 wählen?"

Einen "massiven Anstieg an Notrufen" stellt auch Marc Gistrichocsky fest. Er ist Leiter der Integrierten Leitstelle im Rettungsdienst Nürnberg. Im Vergleich zu 2019 gebe es eine Steigerung von 14 Prozent. Durchschnittlich 1.900 Mal am Tag wird der Notruf in Nürnberg gewählt, schreibt die Stadt dazu in einer Pressemitteilung. Allzu oft handele sich dabei eben nicht um Notrufe. "Wir müssen vermehrt medizinische Beratungsgespräche führen." Das blockiere die Leitung, erklärt Gistrichocsky. So entstünden Wartezeiten unter der Notrufnummer. Er appelliert, sich zu hinterfragen, bevor man zum Telefon greift: "Muss ich für den eingewachsenen Zehennagel wirklich die 112 wählen?"

Wann wähle ich den Notruf und wann den Bereitschaftsdienst?
Wann wähle ich den Notruf? (Quelle: Pixabay)

112 oder 116117?

Bei nicht lebensbedrohlichen Krankheiten und Verletzungen gibt es den kassenärztlichen Bereitschaftsdienst, der rund um die Uhr unter 116117 erreichbar ist. Die Notrufnummer 112 gilt grundsätzlich bei lebensbedrohlichen Erkrankungen, schweren Verletzungen, Unfällen oder Bränden.

Sollte tatsächlich ein medizinischer Notfall vorliegen, gibt’s das nächste Problem: "Heute morgen erst" habe es keine verfügbaren Rettungswagen mehr gegeben, sagt Gistrichocsky an diesem Donnerstagvormittag. Sämtliche Fahrzeuge seien unterwegs gewesen. In solchen Fällen müsse etwa die Feuerwehr mit ihrem Fuhrpark aushelfen. Außerdem: Gerade mal vier Notärzte gebe es im gesamten Stadtgebiet mit rund 520.000 Einwohnern.

"Absturz von der Champions League in die Kreisklasse"

Dabei sollte die Branche im Sommer eigentlich durchschnaufen. Kräfte sammeln – für das, was die nächste Corona-Welle im Herbst vielleicht mit sich bringe. Aber auch jetzt sei die Belastung enorm, sagt Jürgen Büttner, der stv. Vorsitzende des bayerischen Hausärzteverbands. Die Mitarbeiter seien erschöpft.

"Jeder Einzelne im System steht massiv unter Druck", bestätigt Dechêne von der Nürnberger Notaufnahme. Alle Anwesenden wünschen sich für ihre Branche mehr Wertschätzung – vonseiten der Bevölkerung und auch der Politik. Die Branche könne es sich nicht leisten, noch mehr Personal zu verlieren. Denn: Nachwuchs ist kaum in Sicht. Die junge Generation scheue Schichtdienste, Nacht- oder Wochenenddienste, erklärt Büttner.

Deutschland werde weltweit um seine Gesundheitsversorgung beneidet, ergänzt Khalil Anton Assaf, Chefarzt an einer Fachklinik in Herzogenaurach. Doch diese gebe es bald so nicht mehr, wenn nicht gegengesteuert würde. "Es droht der Absturz von der Champions League in die Kreisklasse."

Trotz der prekären Lage: Dringende Notfälle könnten nach wie vor behandelt werden. Aber wie lange noch?

Verwendete Quellen
  • Pressekonferenz vor Ort
  • nuernberg.de: Mitteilung vom 23.7.22
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