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Nach Amoktat in Graz: Grenzen des Anstands überschritten


Nach Amoktat von Graz
Da wird jeder Anstand ignoriert

  • Nicole Diekmann
MeinungEine Kolumne von Nicole Diekmann

11.06.2025 - 13:27 UhrLesedauer: 4 Min.
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Trauernde in Graz: Die Berichterstattung überschreitet oft Grenzen. (Quelle: Darko Bandic/ap)
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Nach der Amoktat in Graz zeigt sich erneut das problematische Verhalten von so manchem Berichterstatter. Aber auch anderswo werden die Grenzen des Anstands völlig überschritten.

"Witwenschütteln" nennt sich eine nicht wirklich journalistische, unter Journalisten aber leider trotzdem verbreitete Praxis, vor allem in Boulevardmedien. Gemeint ist das Vorgehen nach Verbrechen: Wird etwa jemand getötet, ist der Fall möglichst spektakulär und verspricht große öffentliche Aufmerksamkeit (sprich: Klicks, sprich: Geld), dann strömen Reporter aus. Sie versuchen, möglichst schnell möglichst emotionale Informationen über das Ereignis zu erhaschen. Und wer eignet sich da besser als Quelle als das direkte Umfeld des Toten? Genau: die, die ihm am nächsten standen. Die also am emotionalsten betroffen sind und, so das Kalkül, hoffentlich auch denkbar emotional reagieren. Die Witwe etwa. Die Frau, die aus heiterem Himmel ihren Mann, womöglich den Vater ihrer Kinder, verloren hat und nun neben sich und vor den Trümmern ihres Lebens steht.

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Es wird versucht, sie rücksichtslos zu einem Interview zu überreden. Das Kalkül ist logisch, psychologisch aber ist es höchst verwerflich: Wer soeben einen schweren Schicksalsschlag erlitten hat, steht unter Schock und liefert potenziell erschütternde Sätze. Je frischer, desto besser. Das mögen die Leute. Und die Chancen dafür stehen gut: Die Frau, die Witwe im konkreten Beispiel also, befindet sich bei Ankunft der Pressemeute dermaßen im Ausnahmezustand, dass sie zu angemessenen Reflexen womöglich gar nicht mehr in der Lage ist. Wie zum Beispiel diejenigen zum Teufel zu jagen, die Kasse und/oder Karriere machen wollen mit dem Leid anderer.

Nicole Diekmann
(Quelle: Reinaldo Coddou H.)

Zur Person

Die Fernsehjournalistin Nicole Diekmann kennt man als seriöse Politikberichterstatterin. Ganz anders, nämlich schlagfertig und lustig, erlebt man sie auf X – wo sie über 120.000 Fans hat. Ihr Buch "Die Shitstorm-Republik" ist überall erhältlich. Bei t-online schreibt sie jeden Mittwoch die Kolumne "Im Netz". Mehr

Deshalb heißt es "Witwenschütteln". Es ist im selben Ausmaß abscheulich, wie es ein traditioneller Teil des Geschäfts ist. Ausrotten lässt es sich nicht – der Markt ist da, und er ist groß. Die Menschen lesen so etwas.

Dieses moralisch mehr als fragwürdige Ritual ist nun auch in Graz zu beobachten. Nach dem Amoklauf an einer Schule waren Journalisten schnell vor Ort, und sie fanden vor, wonach sie gesucht hatten: Eltern, die um ihre Kinder gebangt hatten. Kinder, die um ihr Leben gebangt hatten. Einige Journalisten machten außerdem die Mutter des Amokläufers ausfindig und versuchten, sie zum Reden zu bringen. So weit, so schlimm.

Der moralische Kompass wäre gefragt

Seit Social Media gibt es ein weiteres Ritual: Passiert etwas Furchtbares, stürzen sich User auf allen Plattformen mit voller Wucht auf die Geschichte. Eine Mischung aus Sensationsgeilheit, Geltungsbedürfnis und aus Langeweile gespeistem Interesse daran, die Welt brennen zu sehen, lässt Anstand und Seriosität bei manchen zu scheinbar überflüssigen und spießigen Relikten aus der Kreidezeit werden.

Fotos werden gepostet, Videos werden ebenso leichtfertig veröffentlicht wie laienpsychologische Täterprofile. Und zwar lange, bevor die Ermittlungsbehörden überhaupt irgendetwas in Erfahrung gebracht haben. "Schnell und schmutzig" lautet die Devise statt "zurückhaltend und angemessen" oder aber, selten verkehrt: "Einfach mal die Klappe halten".

Oft handelt es sich bei all dem, was da in die Kanäle gepustet wird, gar nicht um Fotos und Bewegtbilder der jeweiligen Tat. Das ist das eine. Aber selbst, wenn sie echt sind: Man sollte das lassen. Speziell in Fällen wie Graz, wo ein möglicherweise jahrelang gemobbter ehemaliger Schüler zehn Menschen und sich selbst erschossen hat.

So können Sie helfen

Denn wir reden von einer Schule. Es geht also um Kinder und Jugendliche. Auch wenn das Verlangen groß ist, sich an der Debatte zu beteiligen – und sei es aus dem verständlichen Wunsch heraus, der eigenen Ohnmacht irgendetwas entgegenzusetzen, die man ja auch als völlig Unbeteiligter empfinden kann – denken Sie lieber noch ein- oder zweimal darüber nach. Und dann lassen Sie es.

Ermittlungsbehörden sind mittlerweile sehr fit in den sozialen Netzwerken. Sie finden dort Portale, auf denen Sie Material hochladen können, das bei der professionellen Aufarbeitung einer solchen Bluttat helfen könnte. Sprich: So können auch Sie helfen. Der Polizei, aber auch sich selbst.

Das wäre ein Anfang – und gut investierte Zeit

Und noch zwei Tipps, wenn Sie helfen wollen, nicht nur akut: Machen Sie sich stark gegen Mobbing. Erklären Sie Ihren Kindern, was das ist. Dass man so etwas nicht tut. Und natürlich auch, wie sie selbst damit umgehen sollen, wenn sie Opfer von Mobbing werden. Seien Sie da, haben Sie ein offenes Ohr, nehmen Sie das ernst. Sprechen Sie mit der Kita oder der Schule darüber, ob man dort ein Projekt zu diesem Thema anbieten kann. Es gibt gute, wirklich gute Initiativen, die Profis in Kita-Gruppen und Schulklassen schicken und dort wichtige Arbeit leisten. Weiter: Erklären Sie Ihren Kindern rechtzeitig den Umgang mit den sozialen Netzwerken. Wie dort gemobbt wird, dass man das auch dort nicht tut und sich an jemanden wenden kann und sollte, wenn es einem passiert. Dass man sich als Opfer dafür nicht schämen muss, sondern diejenigen beschämt sein müssen, die so etwas anrichten.

Sensibilisieren Sie, falls nötig, auch die Lehrkräfte dementsprechend. Und engagieren Sie sich gerne gegen die Kürzungen von Geldern, wie zum Beispiel bei der "Nummer gegen Kummer" hier in Berlin. Das wäre ein Anfang. Und gut investierte Zeit. Im Netz wäre sie bei der hektischen Verbreitung von sensationsheischenden Inhalten, ob wahr oder unwahr, nicht nur verschwendet. Sondern sogar schädlich.

Verwendete Quellen
  • Eigene Meinung
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