Ostern, Ramadan und Corona Gläubige sind nicht das Hauptproblem
Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Ostern steht an, Pessach hat bereits begonnen, der Ramadan folgt Mitte April. Religionsausübung in der Coronakrise zu untersagen, ist tabu. Aber strengere Schutzmaßnahmen wären nötig gewesen, meint unsere Kolumnistin Lamya Kaddor.
Religionen haben nicht unbedingt einen Lauf. Im Schatten von Radikalisierungen, Missbrauchsskandalen, homophoben und patriarchalen Tendenzen ziehen sie Kritik und Ablehnung gerade an wie Magneten. Corona setzt den Religionsgemeinschaften weiter zu. Sobald Infektionen in einem religiösen Kontext bekannt werden, löst das insbesondere in den sozialen Medien reihenweise Reaktionen aus – meist solche mit geiferndem Spott und triefendem Hass.
Pessach hat bereits begonnen, Ostern steht vor der Tür, Ramadan wird in Kürze beginnen – wir sind also mitten in einer religiösen Hauptsaison. Ein Fest für alle, die hier Aktien im Spiel haben. Kaum war die Idee von der Osterruhe geboren, trendete auf Twitter das Schlagwort "Ramadan". Nutzerinnen und Nutzer streuten wieder einmal die Verschwörung, die Politik wolle Muslimen und Musliminnen schonen und die Infektionszahlen vor dem Beginn des Fastenmonats Mitte April so weit zurückbringen, damit dann keine Einschränkungen mehr nötig seien.
Weil Islamisierung. Weil Schuldkomplex. Weil mit Christen und Christinnen könne man das ja machen und so. Das sind dabei die gängigen Erzählungen, und – so erstaunlich das ist – dieses absurde Theater funktioniert in gewissen Kreisen immer wieder aufs Neue.
Der Unmut der Kirchen ist nachvollziehbar
Dabei muss man konstatieren, dass Religionsgemeinschaften offenbar keinen sonderlich großen Anteil am Infektionsgeschehen haben und sich in der Vergangenheit überwiegend vernünftig verhalten haben. Als besondere Verursacher von Superspreader-Events wurden sie von den Behörden jedenfalls bisher nicht hervorgehoben. Im Frühjahr 2020 haben Kirchen, Moscheen und Synagogen in Deutschland die Beeinträchtigungen der Ostfeierlichkeiten, des Ramadans und des Pessachfests weitgehend widerspruchslos hingenommen.
Danach gab es lediglich vereinzelte Infektionsgeschehen. Unvernünftige gibt es halt immer und überall. "Nach unseren Kenntnissen halten sich die Religionsgemeinschaften sehr genau an die Auflagen, und wir erleben hier einen besonders verantwortungsvollen Umgang auch mit den Hygiene- und Abstandsregelungen", sagte zum Beispiel die Referatsleiterin für Gesundheit und Umwelt der Stadt München, Stephanie Jacobs, dem Bayerischen Rundfunk.
Ähnlich äußerte sich die Stadt Frankfurt nach einem Corona-Ausbruch in einer Baptisten-Gemeinde mit 75 positiven SARS-CoV-2-Fällen. Die Analyse des Geschehens habe keine länger anhaltenden Auswirkungen auf die Fallzahlen in Hessen ergeben, hieß es. Auch Weihnachten ging weitgehend reibungslos ohne größere Infektionsgeschehen vorüber. Genau genommen setzte sich nach den Festtagen das Absinken der Zahl an Neuinfektionen in der zweiten Coronawelle ohne nennenswerte Delle fort. Entsprechend nachvollziehbar war der Unmut der Kirchen auf den Appell der Bund-Länder-Konferenz, an Ostern nur virtuell Messen und Gottesdienste abzuhalten.
Religion als Stütze im Leben – und in der Pandemie
Für viele Menschen mögen Religionen lächerlich und Gott bloß ein Hirngespinst sein. Das ist auch völlig in Ordnung so, finde ich. Niemand muss vom Gegenteil überzeugt oder gar bekehrt werden, niemand darf herabgewürdigt, ausgegrenzt oder sogar bekämpft werden. Für andere Menschen ist Religion eine wichtige Stütze im Leben, und das gilt es ebenso zu respektieren. Insbesondere Menschen, die sich allein fühlen oder Angst vor der Zukunft haben, finden in der Religion Trost und Orientierung. Deshalb ist es wichtig, gerade für sie in teils existenziellen Krisen wie der Corona-Pandemie religiöse Angebote zu ermöglichen – insbesondere an Ostern, dem höchsten religiösen Fest der Christenheit.
Der Osterruhe-Appell von Bund und Ländern an die Kirchen zeugte somit wieder einmal von wenig Gespür für die Belange eines erheblichen Teils der Bevölkerung.
Erneut zeigt sich, dass sich eine Pandemie, je länger sie dauert, nicht alleine nach Zahlenlage überwinden lässt. Die wissenschaftliche Beratung der Politik muss breiter aufgestellt sein und neben Virologen und Virologinnen, Epidemiologen und Epidemiologinnen, Medizinern und Medizinerinnen andere Experten und Expertinnen einschließen. Zudem gehören die grundsätzlichen Entscheidungen in den Bundestag mit seinen vielfältigen Perspektiven.
Das RKI stochert im Dunkeln
Sorge bereitet mir dennoch der Blick auf die Osterfeiertage und vor allem den anschließenden 30 Tage währenden Ramadan mit seinen üblicherweise allabendlichen Gemeinschaftsgebeten. Ich weiß nicht, ob die vielen Appelle, die Infektionsschutzregeln einzuhalten, tatsächlich ausreichend sein werden. Das Problem ist leider, dass es hierzu wie in so vielen anderen Bereichen kein ausreichend belastbares Zahlenmaterial gibt.
Das Robert-Koch-Institut hat in seiner Analyse zum Infektionsumfeld von erfassten COVID-19-Ausbrüchen in Deutschland vom vergangenen September fast 40 verschiedene Orte aufgeführt: vom Privathaushalt über Kaserne, Reha-Einrichtung, Schule, Uni, Verein bis zu Bus, Flugzeug und Fähre. Kirchen, Moscheen oder sonstige Gemeindehäuser tauchen nicht auf. In den Lageberichten des RKI zur Coronavirus-Krankheit heißt es wenig spezifisch, die hohen bundesweiten Fallzahlen würden durch zumeist "diffuses Geschehen" unter anderem "ausgehend von religiösen Veranstaltungen" verursacht. Gäbe es genauere empirische Daten, könnte man entsprechende Maßnahmen besser justieren. So bleibt mal wieder nur das Stochern im Dunkeln.
Was bleibt ist auf die Vernunft der Gläubigen zu hoffen
Mehr als Appelle haben Bundeskanzlerin Angela Merkel und Ministerpräsidentinnen und -präsidenten nicht mehr im Köcher. Nach dem Abblasen der Osterruhe bleibt es bei den bereits bestehenden Regeln für die Durchführungen von religiösen Veranstaltungen, neue Regelungen wurden nicht getroffen. Dabei wären sie angesichts der jetzt dominanten ansteckenderen Coronavirus-Variante und der deshalb steigenden Infektionszahlen generell angezeigt gewesen –beispielsweise durch Ausgangsbeschränkungen.
Die vielen Fehler und Defizite der Corona-Politik von Bund und Ländern in den vergangenen Monaten lassen jetzt einfach keine andere Wahl mehr, als eine Verschärfung der Corona-Schutzmaßnahmen durchzusetzen – Religionsausübung ist da nicht ausgenommen. Eine erneute strikte Absage von religiösen Feiern ist zwar tabu, aber man hätte zum Beispiel eine striktere Begrenzung von Teilnehmerzahlen beschließen können.
Auch eine verpflichtende Teststrategie für die Durchführung religiöser Veranstaltungen wäre eine Option gewesen. Mobile Teststationen oder Schnelltests zum Selbstkostenpreis zur Verfügung stellen. Ob sich das nach Ostern noch mit Blick auf den Ramadan durchsetzen lässt, ohne Widerstände wegen Stigmatisierungen zu provozieren, ist fraglich.
Ich würde jedem raten, der sich in der Lage dazu fühlt, auch in diesem Jahr auf Präsenzgottesdienste und Präsenz-Gemeinschaftsgebete zu verzichten und stattdessen auf Online-, Radio- und TV-Angebote zurückzugreifen. Aktuell können wir wohl nur auf die Vernunft der Gemeindeverantwortlichen und die der Gläubigen setzen. Das ist jedoch ein Spannungsbogen, auf den ich angesichts der vielen anderen Herausforderungen in dieser Krise gerne verzichtet hätte.
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Lamya Kaddor ist Islamwissenschaftlerin, Religionspädagogin, Publizistin und Gründerin des Liberal Islamischen Bunds e.V. (LIB). Derzeit leitet sie ein Forschungsprojekt an der Universität Duisburg-Essen. Ihr aktuelles Buch heißt "Die Sache mit der Bratwurst. Mein etwas anderes deutsches Leben" und ist bei Piper erschienen. Sie können unserer Kolumnistin auch auf Facebook oder Twitter folgen.