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Antikes Hierapolis: Warum ein Höllenschlund unzählige Tiere das Leben kostete


"Taten ihren letzten Atemzug"
Wie ein Höllenschlund unzählige Tiere das Leben kostete

Von Angelika Franz

Aktualisiert am 06.06.2021Lesedauer: 4 Min.
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Orakel von Delphi: Weniger übersinnliche Kräfte als unsichtbares Gas spielte bei manchen Kultstätten eine gewichtige Rolle. So wie ein Hierapolis, wo der Wissenschaftler Hardy Pfanz forschte.Vergrößern des Bildes
Orakel von Delphi: Weniger übersinnliche Kräfte als unsichtbares Gas spielte bei manchen Kultstätten eine gewichtige Rolle. So wie ein Hierapolis, wo der Wissenschaftler Hardy Pfanz forschte. (Quelle: United Archives/imago-images-bilder)

Konnte der mythische Höllenhund Kerberos Lebewesen per Todeshauch ins Jenseits befördern? Nein, aber in einem antiken Tempel sorgte etwas sehr Reales für ein Massensterben.

In Hierapolis, in der heutigen türkischen Provinz Denizli, liegt ein Tor zur Unterwelt. Unmittelbar dahinter, glaubten die alten Griechen, lauere der dreiköpfige Höllenhund Kerberos und hauche seinen tödlichen Atem jedem Lebewesen entgegen, das dem Eingang zum Jenseits zu nahe tritt.

Der Schriftsteller Strabon (63 vor Christus bis 23 nach Christus) hat es sogar selber ausprobiert: "Ich warf Spatzen hinein", schrieb er einst "und sie taten ihren letzten Atemzug und fielen zu Boden." An der Stelle stand ein sogenanntes Plutonium, ein Tempel, der den Unterweltsgottheiten gewidmet war. Und dort herrschte ein reges Opfergeschäft. Kleine Tiere konnten Besucher selbst über eine Sicherheitsreling in den Höllenschlund schicken. Größere dagegen durften nur Priester dem Kerberos darbringen.

Tödlicher Hauch aus der Hölle

Vor einer runden Zuschauertribüne führten vornehmlich die kastrierten Priester der Göttin Kybele Schafe, Ziegen und sogar Ochsen ihrem Verderben entgegen. Kaum betraten die Tiere den Eingang, begannen sie zu schwanken. Die Beine knickten ihnen weg, sie sanken zuckend zu Boden und taten bald ihren letzten verzweifelten Atemzug. Den Priestern dagegen konnte der Atem des Höllenhundes nichts anhaben. Gerade und aufrecht schritten sie daher, unbeirrt von den Qualen der Opfertiere.

"Noch heute liegen oft tote Insekten, aber auch Vögel und manchmal sogar ein Fuchs um diesen vermeintlichen Eingang zur Unterwelt", erzählt Hardy Pfanz von der Universität Duisburg-Essen. Der Professor für Angewandte Botanik und Vulkanbiologie hat herausgefunden, was die Erde an dieser Stelle ausatmet: "Wir haben es im Plutonium von Hierapolis mit einer so genannten Mofette zu tun, einem Austritt von Kohlenstoffdioxid."

Denn das Plutonium steht direkt auf einer tektonischen Verwerfung. Im Untergrund ziehen und reißen immense Kräfte an der Erdoberfläche. So entstehen Spalten und Risse, durch die Gase aus dem Erdmantel an die Oberfläche dringen – wie ein tödlicher Hauch aus der Hölle.

Bis zum Bauchnabel

An der Erdoberfläche angelangt, bleibt das Gas jedoch erst einmal liegen, denn Kohlenstoffdioxid ist schwerer als die Luft der Atmosphäre. "So entsteht ein regelrechter trockener Gas-See", erklärt Pfanz. "Man kann das Gas zwar nicht sehen, aber die Oberfläche ist ganz scharf gegen die Umgebung abgegrenzt. 40 Zentimeter über dem Boden kann die Konzentration schon tagsüber tödlich sein, doch nur wenige Zentimeter darüber kann ein Mensch wieder ungehindert atmen." Ein Opfertier, das in diesen "See" hineingeführt wurde, verlor bereits nach wenigen Atemzügen das Bewusstsein. Fiel es zu Boden, strömte das Kohlenstoffdioxid in einer noch stärkeren Konzentration in seine Lungen. "Spätestens nach zehn Minuten war selbst ein Ochse mausetot", so Pfanz.

Normalerweise liegt der Kohlenstoffdioxid-Gehalt unserer Atemluft bei rund 0,042 Prozent. In der Grotte direkt unter dem Tempel zeigten die Messwerte von Pfanz und seinem Team dagegen eine Sättigung von bis zu 91 Prozent. In dem Gas-See unmittelbar vor dem Eingang zur Grotte beträgt der Kohlendioxidgehalt je nach Abstand zum Boden immer noch zwischen 4 und 53 Prozent – und ist damit lebensbedrohlich für jedes Tier. Etwa bis auf Bauchnabelhöhe reicht die Gaslinse. Ein hochgewachsener Priester dagegen musste lediglich darauf achten, ihre Oberfläche nicht zu stark zu verwirbeln – so kam er ungeschoren davon.

Die Kohlenstoffdioxid-Konzentration variiert allerdings je nach Tageszeit und Wetter. "Am höchsten ist sie in der Nacht und am frühen Morgen", berichtet der Vulkanbiologe, "bei Sonneneinstrahlung oder Wind löst sich der See rasch auf." Durch die Sonneneinstrahlung entstehen thermische Strömungen, die ebenso wie Windbewegungen das Gas verteilen. Ob der Kohlenstoffdioxid-See gerade groß und tief genug war, um ein Tier zu töten, testeten die Priester mit einem einfachen Trick: "Sie verteilten Öllämpchen in dem Bereich", verrät Pfanz. "Dort wo der See war, konnte keine Flamme brennen."

Visionen durch Vergiftung

Das Plutonium ist nicht das einzige Heiligtum von Hierapolis, das sich den Gasaustritt der Mofetten zu Nutzen machte. In unmittelbarer Nähe steht ein Tempel des Orakelgottes Apollon. Auch hier arbeiteten die Priester mit dem austretenden Gas – allerdings auf ganz andere Art und Weise. Denn zu den Symptomen einer leichten Kohlendioxidvergiftung beim Menschen gehören Benommenheit und Verwirrtheit. Die Orakelpriester des Apollon atmeten vorsätzlich geringe Mengen der Dämpfe ein, die aus der Erde traten.

In dem geistig verwirrten Zustand, der dadurch ausgelöst wurde, orakelten sie die Zukunft. Auch das große Apollon-Orakel von Delphi stand einst auf einer Verwerfung, aus der Kohlenstoffdioxid austrat. "Dort hat die Erde sich allerdings in den vergangenen Jahrhunderten so stark bewegt, dass der Austrittsort heute 300 Meter vom Tempel entfernt liegt", erzählt Pfanz. "In Hierapolis ist dagegen noch alles genau so wie vor 2000 Jahren."

Dass Orakelstätten auf tektonische Verwerfungen gebaut wurden, ist ein weit verbreitetes Phänomen. Wahrscheinlich waren es Hirten, vermutet Pfanz, die als erste das austretende Gas bemerkten. "Hirten beobachten die Natur an den Orten, wo sie ihre Tiere weiden, sehr genau", erläutert er. "Sie wussten, dass es Stellen gab, die von den Tieren bewusst gemieden wurden oder an denen sie sich seltsam benahmen." Von diesen Beobachtungen erzählten sie den Priestern – und die nutzten das Naturphänomen für ihre Zwecke.

Für Menschen werden die Mofetten vor allem dann gefährlich, wenn sie nicht aufrecht stehen bleiben, sondern sich mit Mund und Nase dem Bode nähern. Besonders in Italien kommt es immer wieder zu Todesfällen an Erdspalten, rund zehn Menschen jährlich kostet dort der unsichtbare Gasaustritt das Leben. Mal sind es Jäger, die sich nur kurz für ein Päuschen auf einen Stein setzen wollten, mal ein auf weiches Moos niedergesunkenes Liebespaar.

Auch in Deutschland tritt Kohlenstoffdioxid aus der Erde aus – am Laacher See in der Eifel. "In der Gegend sollte man schon vorsichtig sein, wo man sein Zelt aufschlägt", warnt Pfanz. Das Kohlenstoffdioxid aus den Eifel-Mofetten erfüllt allerdings keine religiösen Zwecke, sondern wird heute industriell genutzt. "Wir trinken es jedes Mal, wenn wir ein Glas Cola, Fanta oder Mineralwasser leeren", lacht der Forscher.

Verwendete Quellen
  • Eigene Recheche
  • Gespräch mit Hardy Pfanz
  • Hardy Pfanz: Kalter Atem schlafender Vulkane. Die unbekannte Welt der CO2-Mofetten, Heidelberg 2019
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