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Essen: Ärztin trotz Tourette-Syndrom – das ist Stellas Ziel


Leben mit den Tics
Ärztin trotz Tourette – das ist Stellas Ziel

  • Nils Heidemann
Von Nils Heidemann

Aktualisiert am 25.03.2022Lesedauer: 3 Min.
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Stella Lingen: Erst im Erwachsenenalter wurde das Tourette-Syndrom bei ihr festgestellt.Vergrößern des Bildes
Stella Lingen: Erst im Erwachsenenalter wurde das Tourette-Syndrom bei ihr festgestellt. (Quelle: privat)

Stella Lingen hat das Tourette-Syndrom. Vor zwei Jahren fingen die Tics bei der Essenerin an. Erst motorisch, dann akustisch. Heute hat sie sie akzeptiert – und ermutigt in den sozialen Medien, offen mit psychischen Erkrankungen umzugehen.

Stella Lingen streckt aus dem Nichts ihre Zunge heraus, fuchtelt mit ihren Armen, verdreht ihre Augen oder spricht mit tiefer Stimme heftige Beleidigungen aus: "Arsch", "Ficker" oder noch schlimmere Worte kommen ihr dabei über die Lippen. Unterdrücken kann sie das in den vielen Situationen nicht. Doch sie hat eingesehen, dass die Tic-Störungen nun ein Teil von ihr sind.

Dabei führte die 24-Jährige aus Essen über 20 Jahre ein ganz normales Leben. Plötzlich bemerkt sie erstmals Zuckungen an Armen und im Gesicht, ohne sich dabei etwas zu denken. Ein halbes Jahr später kommen unkontrollierbare vokale Äußerungen, ähnlich wie ein Räuspern, hinzu.

Diagnose Tourette: "Eine Zeit der Ungewissheit"

Von Freunden und der Familie wird das Thema nun an sie herangetragen. "Das scheinen wirklich irgendwelche Tics zu sein", denkt sie sich. "Zu diesem Zeitpunkt habe ich das zum ersten Mal in meinem Kopf zugelassen", sagt sie im Gespräch mit t-online.

Die Probleme werden mit der Zeit komplexer und schwerer. "Das hat meine Depression sehr befeuert. Ich musste mein Studium für eineinhalb Semester beenden", sagt sie. "Es war eine Zeit gefüllt mit Ungewissheit." Das habe ihr die Stabilität genommen. "Die eigentlich sehr klaren Rahmenbedingungen meines Lebens waren ja plötzlich aufgelöst."

Das Tourette-Syndrom ist eine Nervenerkrankung. Benannt wurde das Tourette-Syndrom nach Gilles de la Tourette, der 1885 die Symptomatik der Krankheit erstmals beschrieb. Betroffene leiden unter mehreren motorischen und vokalen Tics, die sich in unterschiedlichen Abständen wiederholen. Von einem motorischen Tic wird gesprochen, wenn es zu spontanen, unkontrollierten und schnellen Muskelbewegungen kommt. Auch die vokale Lautäußerung entzieht sich dem Willen der Betroffenen.

Es folgen Gespräche mit Ärzten, Neurologen und ein Besuch in einer psychosomatischen Klinik. Heute weiß sie: Vieles spreche für das Tourette-Syndrom, "obwohl es vom Alter her nicht passt". Tourette tritt demnach bereits im Kindes- oder Jugendalter auf. Dennoch stellt ihr ein Arzt die Diagnose: "Wir geben dem Kind jetzt einen Namen und wir fangen an, das zu behandeln." (Einen Text zu Verlauf, Symptomen und Behandlung von Tourette finden Sie hier.)

Lingen hat nun Klarheit und ist – obwohl die Tics vermutlich nie mehr ganz weggehen – auch deshalb erleichtert, da sie laut ihrem Arzt weiter als Rettungssanitäter arbeiten kann und ihr Medizin-Studium nicht gefährdet ist. "Beim Auto oder Rettungswagen fahren habe ich eigentlich fast überhaupt keine Tics", sagt sie. Auch im Umgang mit Patienten, etwa beim Blutabnehmen, gebe es keine Probleme.

Generell ist es bei ihr so: Je mehr Reize auf das Gehirn einprasseln, desto größer die Tics. Ist Lingen aber konzentriert oder in einem Workflow, kann sie sich entspannen und die Tics nehmen ab. "Es gibt sogar Tage, an denen ich damit gar keine Probleme habe."

In Behandlung ist sie weiterhin. Sie probiert psychotherapeutische Angebote aus und auch medikamentöse Therapien. "Die helfen zwar sehr gut, aber machen unfassbar müde." Auch medizinisches Cannabis sei eine Option. "Den Antrag haben wir noch nicht gestellt. Aber ich weiß, dass es mir grundsätzlich auch sehr gut hilft."

Diese Angebote sind wichtig und dennoch gibt es weiterhin auch unangenehme Situationen, sagt sie. Etwa, wenn sie in der Öffentlichkeit etwas Rassistisches oder in einer bestimmten Situation etwas Unpassendes sagt. Es helfe dann, wenn die um sie stehenden Personen entweder nicht auf die Tics eingehen oder darüber lachen. "Es ist wichtig, dass sich niemand auf den Schlips getreten fühlt."

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Allerdings sei die Aufklärung über das Tourette-Syndrom in den vergangenen Jahren deutlich vorangeschritten, sodass die Menschen insgesamt lockerer damit umgehen. "Ich hatte zum Beispiel mal Kontakt mit der Polizei. Die haben direkt erkannt, dass ich erstens keine Drogen dabei hatte und konnten zweitens meine Tics auch einordnen." Sie sprachen sie nicht auf die Beleidigungen an.

Trotzdem gibt es laut Lingen noch viel zu tun. Sie macht in den sozialen Medien auf Tourette und psychische Erkrankungen aufmerksam. Auf Instagram folgen ihr über 23.000 Menschen. Psychische Erkrankungen seien immer noch sehr stigmatisiert. "Weil wir sie nicht sehen können. Einen Bluthochdruck kannst du messen und darstellen. Eine psychische Erkrankung eben nicht", so die angehende Medizinerin.

"Ich glaube, die Menschen und die Medizin müssen lernen, dass wir nicht alles genau definieren können. Wir können nicht für alles klare Grenzen setzen. Vieles von dem, was im Kopf passiert, haben wir noch nicht vollends verstanden", so Lingen. "Wir sollten offener werden und sehen, dass es viele Variablen gibt".

Verwendete Quellen
  • Gespräch mit Stella Lingen
  • Instagram: "stellali697"
  • Eigene Recherchen
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