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Prozess in Nürnberg: Ärztin wegen Cannabis auf Rezept vor Gericht


Wegweisender Prozess in Nürnberg
Privatärztin wegen Cannabis auf Rezept angeklagt

Jasmin Siebert

Aktualisiert am 07.10.2022Lesedauer: 3 Min.
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Vor dem Landgericht Nürnberg-Fürth muss sich eine Privatärztin verantworten, die Cannabis auf Rezept verschrieben haben soll – ohne genug über die Risiken aufgeklärt zu haben.Vergrößern des Bildes
Vor dem Landgericht Nürnberg-Fürth muss sich eine Privatärztin verantworten, die Cannabis auf Rezept verschrieben haben soll – ohne genug über die Risiken aufgeklärt zu haben. (Quelle: Jasmin Siebert)

Verschrieb eine Ärztin ihren Patienten Cannabis allzu leichtfertig? Der Prozess in Nürnberg offenbart ein tiefer liegendes Dilemma – und ist wegweisend.

Der erste Zeuge, der an diesem vierten von insgesamt sieben Verhandlungstagen in den Sitzungssaal gebeten wird, wirkt zappelig. Bereitwillig gibt er Auskunft darüber, was ihn vor vier Jahren in die Privatpraxis der überwiegend homöopathisch arbeitenden Ärztin geführt hat, die sich nun vor dem Landgericht Nürnberg-Fürth verantworten muss.

Der Vorwurf der Staatsanwaltschaft: Sie habe in 89 Fällen Privatrezepte für Cannabisblüten ausgestellt, ohne zuvor andere Behandlungsmethoden ausgeschöpft und ausreichend über Risiken aufgeklärt zu haben. Außerdem soll sie laut Anklageschrift wahrheitswidrige Atteste, etwa über die Fahrtauglichkeit, ausgestellt haben. Eine Kontrolle des Therapieverlaufs sei nicht erfolgt.

Homöopathische Ärztin bringt vor Gericht in Nürnberg "Weisheitskarten der Seele" mit

Die 59-jährige Privatärztin, die hauptsächlich homöopathisch behandelt, hat die Prozessunterlagen vor sich auf dem Tisch ausgebreitet, daneben auch ein Schächtelchen mit "Weisheitskarten der Seele". Aufmerksam hört sie zu, selbst geäußert hat sie sich in der Verhandlung noch nicht.

Der erste Zeuge ist Mitte 30, lebt inzwischen in Berlin und gibt als Beruf "freischaffender Künstler" an. Sein ADHS und sein Asthma therapiere er selbst seit Jahren mit Cannabis und weil er dies nach der Gesetzesänderung 2017 gern legal tun wollte, habe er sich auf die Suche nach einem Arzt gemacht, der ihm Cannabis verschreibt. So sei er 2018 bei der Fürther Privatärztin gelandet.

Was er in der Vergangenheit gegen seine Beschwerden gemacht habe und ob die Ärztin ihm auch alternative Behandlungsmöglichkeiten vorgeschlagen habe, möchte die Richterin wissen. Atemübungen seien "definitiv" Thema gewesen, sagt der Zeuge und auch, dass er ein Attest in die Hand gedrückt bekommen habe, das seine Fahrtauglichkeit nach einer Tagesdosis von einem Gramm Medizinalhanf versicherte. Ob die Ärztin über Risiken aufgeklärt habe? "Da war nicht viel Gesprächsbedarf", sagt der Zeuge und räumt ein, seit Jahren ein bis zwei Gramm Cannabis am Tag zu rauchen. "Cannabis ermöglicht mir persönlich ein entspannteres, freieres Leben – ja überhaupt ein Leben", sagt er. Das Rezept habe er nie eingelöst, "zu teuer", und sich stattdessen weiterhin mit Gras vom Schwarzmarkt versorgt.

Gezielt nach Arzt gesucht, der Rezepte für Cannabis ausstellt

Ähnliches ist auch von anderen Zeugen zu hören. Sie hatten sich bereits selbst mit Cannabis therapiert und gezielt nach einem Arzt gesucht, der ihnen ein Rezept ausstellt, um der Illegalität zu entkommen. Über Hörensagen waren sie zu der angeklagten Privatärztin gekommen.

Sie behandle ihre Patienten bevorzugt homöopathisch, sagt diese in einer Prozesspause zu t-online. Sie versuche, Veränderungen in den Lebensumständen herbeizuführen, um eine ganzheitliche Heilung zu erreichen. Es sei nicht ihre Intention gewesen, Cannabis zu verschreiben. Wenn Patienten aber mit diesem Wunsch zu ihr kamen und sie gesehen habe, dass es ihnen helfe, habe sie es ihnen nicht verwehrt. Egal ob Cannabis oder Cortison bei Asthma, sie betrachte beides nur als "Krückstock" auf dem Weg zur Heilung.

Prozess in Nürnberg offenbart grundsätzliches Dilemma bei medizinischem Cannabis

Der Prozess offenbart ein grundsätzliches Dilemma, in dem sich der Umgang mit Cannabis auch fünf Jahre nach der Gesetzesänderung noch befindet. Seitdem ist es erlaubt, Cannabis bei schwerwiegenden Erkrankungen einzusetzen. Da der Gesetzestext aber bewusst offengehalten ist, ist nicht zweifelsfrei klar, wann eine Verschreibung medizinisch gerechtfertigt ist und wann nicht.

Und so diskutieren die Richterinnen, der Staatsanwalt und der Gutachter in diesem Prozess über viele medizinische Details. Da geht es etwa darum, ob das Rauchen von Cannabis mit Nikotin bei Asthma nicht kontraindiziert sei. Oder wann Cannabis bei chronischen Schmerzen medizinisch gerechtfertigt ist und wann nicht. Auch die Grenze zwischen Suchterkrankung und erfolgreicher Medikation ist Thema.

Viele Ärzte sind im Umgang mit Cannabis unsicher, Kassenärzte scheuen zudem den bürokratischen Aufwand, der mit einer Verschreibung verbunden ist. Daher weichen viele Patientinnen und Patienten auf Privatärzte aus. So scheint es auch der Fürther Ärztin ergangen zu sein, der die Staatsanwaltschaft nun vorwirft, Cannabis nur verschrieben zu haben, um daran zu verdienen.

Es ist nicht das erste Mal, dass ein Arzt in Bayern wegen Cannabisrezepten vor Gericht steht. Weil er in mehr als 500 Fällen unbegründet Cannabis verschrieben hatte, wurde im Februar 2022 ein Arzt in München zu dreieinhalb Jahren Haft verurteilt. Außerdem gab er freiwillig seine Approbation zurück. Das Urteil gegen die Fürther Ärztin wird am 24. Oktober erwartet.

Im Koalitionsvertrag der Ampelregierung in Berlin ist vereinbart, eine "kontrollierte Abgabe von Cannabis an Erwachsene zu Genusszwecken in lizenzierten Geschäften" einzuführen. Derzeit laufen die Vorbereitungen für das Gesetzgebungsverfahren.

Verwendete Quellen
  • Reporterin vor Ort
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