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Gewalt im Kreißsaal und traumatische Geburt: "Ich wollte nur noch flüchten"


Mütter berichten Erschütterndes
Gewalt im Kreißsaal: "Ich wollte nur noch flüchten"


Aktualisiert am 11.06.2023Lesedauer: 4 Min.
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Ein Neugeborenes im Kreißsaal (Symbolbild).Vergrößern des Bildes
Ein Neugeborenes im Kreißsaal (Symbolbild): Manche Mütter können die Erlebnisse der Geburt nicht so leicht verarbeiten. Dafür gibt es Hilfe. (Quelle: imago stock&people)

Gewalt und Hilflosigkeit: Manche Mutter kämpft mit den Folgen einer traumatischen Geburt. Von schrecklichen Erlebnissen im eigentlich schönsten Moment.

Nach der Geburt beginnt für manche Mütter eine Zeit voller Unsicherheit, Depressionen und manchmal auch Panikattacken – häufig ist ein sogenanntes Geburtstrauma der Auslöser dafür. Zwei Betroffene aus Bayern erzählen erschütternde Details.

Als bei Ann-Kathrin Heinkel (24) aus dem Raum Nürnberg die ersten Wehen einsetzten, hatte sie viele Monate hinter sich, die geprägt waren von "Unsicherheit, Angst, Panik und Gewalt". Von familiärer Seite, aber auch von medizinischer, wie sie erzählt. Doch als sie mit ihrem Partner ins Krankenhaus ging, fühlte sie sich eigentlich gut gewappnet.

"Ich wollte nur noch flüchten, es war sehr grausam"

Dort kümmerten sich vier Mitarbeiter um die werdende Mutter. Jedoch: "Statt Ruhe und Hilfe von Menschen, die Mut machen und unterstützen sollten, erlebten wir eine schockierende Rücksichtslosigkeit. Meine Bitten wurden ignoriert." Immer wieder wurde das Paar zu Maßnahmen gedrängt, welche die Geburt beschleunigen sollten, wie etwa ein Wehentropf.

Die Ablehnung sei vom Personal mit offener Wut quittiert worden. Der Chefarzt habe dem Paar gedroht, erinnert sich Heinkel: "Wenn Sie weiterhin alle Maßnahmen verweigern, werde ich sofort eine Sectio durchführen." Für die Fränkin ein absolutes Horrorszenario: "Ich wollte nur noch flüchten, es war sehr grausam."

Durch die vielen Diskussionen seien ihre Wehen schwächer geworden. Ohne ihr Einverständnis, so erzählt Heinkel, legte ihr das Personal daraufhin einen Wehentropf und später auch einen Blasenkatheter. Sie erinnert sich: "Als das Köpfchen meines Sohnes zu sehen war, wollte der Oberarzt einen Dammschnitt machen. Mein Partner setzte sich für mich ein und wehrte diese Maßnahme nach meinen Wünschen ab. Daraufhin handelte der Oberarzt im Affekt mit einem so brutalen Griff, der einen Dammriss erzeugte. So wurde mein Sohn geboren."

Die Glücksgefühle blieben aus

In den Tagen nach der Geburt habe sie das Erlebte versucht zu verdrängen, erzählt sie heute. Obwohl es ihr körperlich ganz und gar nicht gut gegangen sei: "Ich wollte so schnell wie möglich in mein altes Leben zurück."

Die Glücksgefühle blieben aus. Die extreme Belastung wirkte sich bald auch auf die Mutter-Kind-Beziehung aus, nach zwei Wochen begann ihr Sohn ununterbrochen zu schreien. Bald wurde ihr bewusst, dass die junge Mutter weit davon entfernt war, die Ereignisse rund um die Geburt verarbeitet zu haben.

Weitaus mehr Frauen, als in der gesellschaftlichen Wahrnehmung bekannt, stürzen rund um die Geburt ihres Kindes in eine seelische Krise. Die Krankheitsbilder umfassen Wochenbettdepression, Angststörung, Zwangsstörung, Psychose oder eben das Geburtstrauma.

Psychische Erkrankungen zur Schwangerschaft

Die Selbsthilfe-Organisation Licht & Schatten mit Sitz in Augsburg beschäftigt sich seit 1996 mit der Problematik. Bundesweit unterstützt der Verein Betroffene auf vielfältige Weise, etwa durch kostenfreie Beratungsangebote, (Online-)Selbsthilfegruppen, oder ein betreutes Forum. Vorsitzende Sabine Surholt erklärt: "Die wenigsten Eltern werden im Laufe der Schwangerschaft über psychische Erkrankungen aufgeklärt. Dabei kommen diese in allen Regionen und sozialen Milieus vor."

Kerstin Wenig, 36, aus Vilshofen an der Donau, ist Rettungssanitäterin, unter anderem im Katastrophenschutz. Sie kennt den Begriff Geburtstrauma auch aufgrund ihres medizinischen Hintergrunds: "Allerdings dachte ich: Na ja, eine Geburt ist kein Spaziergang und vielleicht sind die Frauen einfach nur etwas empfindlich." In ihre eigene Schwangerschaft startete sie mit viel Unterstützung ihrer Familie. Doch dann kam der Schwangerschaftsdiabetes und eine daraus resultierende Risikoschwangerschaft.

Betroffene zweifelt ärztliche Entscheidung heute stark an

Auch deshalb wurde sie eine Woche früher vor dem eigentlichen Entbindungstermin ins Krankenhaus gebeten. Um die Geburt künstlich einleiten zu lassen. Eine Maßnahme, welche Kerstin Wenig in der Situation aus Angst nicht hinterfragte. Heute zweifelt sie diese Entscheidung jedoch stark an. Die 36-Jährige bereut, nicht auf die natürliche Geburt gewartet zu haben.

Genau wie Ann-Kathrin Heinkel erlebte auch Kerstin Wenig Momente der Hilflosigkeit sowie medizinisches Fehlverhalten, wie beide sagen: Ein Assistenzarzt verschätzt sich in Größe und Gewicht des ungeborenen Kindes, die Hebammen im Kreißsaal waren überlastet und unfreundlich. Auch Kerstin Wenig wurde ohne ihr Einverständnis ein Blasenkatheter gelegt. Für diese Praxis stehen Krankenhäuser schon länger in der Kritik: Die Maßnahme schone vor allem die zeitlichen Ressourcen des Personals, da man die Gebärende dann nicht auf die Toilette begleiten muss.

Nach 24 Stunden Wehen entschied sich Wenig für einen Kaiserschnitt. Dieser sei aus ihrer Sicht auch gut vorbereitet worden, das OP-Team war freundlich und einfühlsam. "Kurz danach folgte jedoch der nächste Hammer: Ohne einen ersichtlichen Grund wurde mir mein Sohn nach der Geburt nicht auf den Oberkörper gelegt, sondern sofort rausgebracht. Ich hatte Angst, mit ihm sei etwas nicht in Ordnung." Erst eine Stunde später sah sie ihr Kind im Kreißsaal wieder. Dem Neugeborenen ging es augenscheinlich gut, doch die Angst saß tief.

Auch Tage später wollte keine Ruhe einkehren: "Mein Sohn schrie und schrie und war kaum zu beruhigen". Bald bemerkte die Mutter eine überstreckte Kopfhaltung. Spätere Untersuchungen hätten nach ihrer Schilderung ergeben, dass das Kind aufgrund einer Halswirbelblockade, die vermutlich durch ein Ziehen am Kopf während des Kaiserschnitts verursacht worden war, unter starken Schmerzen litt.

Sie erzählt heute: "Ich war vollkommen erschöpft und wollte nur schlafen. Obwohl wir viel Unterstützung von meinen Eltern hatten, war mir einfach alles zu viel. Bis ich eines Tages in der Küche stand und das einfachste Essen nicht mehr zubereiten konnte." Sie habe in regelrechter Panik davor gelebt, mit ihrem Kind allein zu sein. "Man liebt sein Kind, aber fühlt es nicht."

Mutter-Kind-Kur kann für Betroffene Wunder wirken

Die Familie verständigte den Hausarzt, der sofort erkannte, was los war. Wenig machte eine Mutter-Kind-Kur. Obwohl mittlerweile bekannt ist, wie wichtig eine frühzeitige Behandlung bei psychischen Erkrankungen rund um die Geburt ist, betont auch der Verein Licht & Schatten, dass es eine große Herausforderung sei, ambulante und (teil-)stationäre Therapieplätze für die betroffenen Mütter zu bekommen.

Kerstin Wenig ergänzt: Werdende Mütter sollten sich vor der Geburt mit möglichen Folgen für die mentale Gesundheit auseinandersetzen. Zudem sei es wichtig, sich mit der Person, die einen bei der Geburt begleitet, über die eigenen Wünsche auszutauschen und einen Geburtsplan zu schreiben. "Das Wichtigste ist aber, auf sein Gefühl zu hören. Wenn das Bauchgefühl einen warnt, sollte man nachfragen, nicht alles hinnehmen und Situationen klar ansprechen."

Verwendete Quellen
  • Gespräche mit den Betroffenen
  • Gespräch mit Vorsitzender von Licht & Schatten
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