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Drogenszene: Deshalb braucht Nürnberg unbedingt Drogenkonsumräume


Überdurchschnittlich viele Drogentote
Dieser Arzt fordert Drogenkonsumräume endlich auch in Bayern

InterviewVon Jasmin Siebert

Aktualisiert am 29.06.2023Lesedauer: 5 Min.
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Dr. Jan Welker fordert einen neuen Umgang mit suchtkranken Menschen.Vergrößern des Bildes
Dr. Jan Welker fordert einen neuen Umgang mit suchtkranken Menschen. (Quelle: Jasmin Siebert)

Patienten mit Überdosis sieht ein Nürnberger Notarzt fast täglich. Oft sind sie aggressiv. Und das in einem ohnehin überlasteten System.

Ein Nürnberger Mediziner fordert einen neuen Umgang mit suchtkranken Menschen. Jan Welker spricht sich für Drogenkonsumräume aus, die es in Bayern wegen der CSU bislang nicht gibt – obwohl sie sich woanders längst bewährt haben. Die sollen das Gesundheitssystem entlasten.

t-online: Wie kamen Sie dazu, sich mit suchtkranken Menschen zu beschäftigen?

Jan Welker: Ich arbeite seit 2008 im Nordklinikum. Als Akutmediziner in Nürnberg kommt man um das Thema nicht herum.

Warum?

Hier gibt es für bayerische Verhältnisse eine große Drogenszene und viele Drogentote. Nürnberg ist eine relativ arme Stadt und durch die Nähe zur Tschechischen Republik ist viel Crystal Meth im Umlauf.

Sie haben Ende 2020 das Forschungsprojekt Nürnberger Modell mit ins Leben gerufen. Was ist das Ziel?

Wir wollen Konzepte entwickeln, um Versorgungslücken in der bereits sehr guten Drogenhilfe zu schließen. Der Auslöser war neben dem Leid der Drogenabhängigen auch das Problem, dass ein Teil der Suchtkranken zu einer zusätzlichen Belastung des lokalen Gesundheitssystems führt.

Wie oft kommt es vor, dass Menschen mit Überdosis eingeliefert werden?

Im Schnitt sehen wir das fast täglich. Stark betrunkene Patienten und Patientinnen machen ein Drittel bis die Hälfte dieser Fälle aus. Die anderen kommen mit einer Überdosis einer oder mehrerer illegaler Substanzen wie Heroin oder Crystal.

Oberarzt Jan Welker
Oberarzt Jan Welker (Quelle: Jasmin Siebert)

Jan Welker: Biografie

Jan Welker fährt als Notarzt Nachtschichten im Rettungswagen und ist seit 2020 Oberarzt in der Notaufnahme am Klinikum Nord in Nürnberg. Neben seiner Arbeit als Ober- und Notarzt gibt der 44-jährige Mediziner Notfalltrainings bei der mudra – einem Verein für Jugend- und Drogenhilfe. Dort schult er Konsumentinnen und Konsumenten im Umgang mit Naloxon-Nasenspray, einem Notfallmedikament, das bei einer Opiatüberdosierung eingesetzt wird. Welker hat das Nürnberger Modell mitinitiiert, ein Forschungsprojekt vom Klinikum, den Hochschulen und Drogenhilfsorganisationen in Nürnberg zur besseren Versorgung suchtkranker Menschen. Ein erster Schritt ist die geplante Subsitutionsambulanz "Sub-Port" in den Räumen der mudra. Diese soll eröffnen, sobald die Kassenärztliche Vereinigung ihre Zustimmung gibt. Suchtkranke, die noch keinen regulären Therapieplatz haben, können dort an sieben Tagen in der Woche unbürokratisch Drogenersatzstoffe bekommen.

Wie läuft die Behandlung dieser Patienten ab?

Schwer Intoxikierte landen in der Notaufnahme oder auf der Intensivstation. Sie haben ein höheres Risiko zu stürzen und sich schwer zu verletzen. Wir müssen dann erkennen, ob der Patient nur vom Drogenkonsum komatös ist oder ob er eine schwere Infektion, eine Hirnblutung, Unterzucker oder ein anderes Problem hat. Das ist eine komplexe Gemengelage, bei der man eine gewisse Expertise mitbringen muss. Für den Patienten ist es gefährlich, weil er potenziell lebensbedrohlich erkrankt ist. Und für die Mitarbeitenden ist es gefährlich, wenn die Patienten aufgeputscht sind und treten, beißen oder spucken.

Wie oft erleben Sie aggressive Patienten?

Mehrfach pro Woche. Sowohl im Rettungsdienst als auch in der Klinik versuchen wir primär, downzutalken, also verbal zu deeskalieren.

Und wenn Worte nicht ausreichen?

Dann müssen wir den Patienten fixieren, um ihn überhaupt behandeln zu können. Unser Personal ist größtenteils weiblich, etwa 80 Prozent der Tox-Patienten männlich. Wegen der körperlichen Diskrepanz werden dann oft mehrere Mitarbeiterinnen gebraucht. Wir sind manchmal zu fünft mit einem Tox-Patienten beschäftigt und das bis zu 30 Minuten.

Derweil fehlt das Personal an anderer Stelle.

Genau. Die Personaldecke ist zu kurz und egal wo wir sie hinziehen, es schaut irgendetwas raus. Wir erleben gerade eine sehr, sehr angespannte Lage im Gesundheitssystem. Es gibt hier im Großraum ganze Wochen, in denen es in den Kliniken keine freien Kapazitäten mehr gibt. Jeder Patient, der extrem ressourcenaufwändig ist, ist ein zusätzliches Problem.

Wie ist die Notaufnahme gerade ausgelastet?

Wir sind wie alle Nürnberger Notaufnahmen die meiste Zeit von der Rettungsleitstelle abgemeldet.

Was heißt das? Der Rettungswagen fährt doch trotzdem zu einem Krankenhaus.

Es gibt bei uns im Rettungsdienst ein Sprichwort: "Wenn alle rot sind, sind alle grün." Wir machen dann eine sogenannte Akutbelegung, das ist der euphemistische Begriff für Zwangsbelegung. Man zwingt also eine ohnehin schon überlastete Klinik noch zusätzlich Patienten aufzunehmen.

Welche Auswirkungen hat das für die Patientenversorgung?

Wenn ein Krankenhaus abgemeldet ist, hat es keine freien Betten und so stauen sich die Patienten in der Notaufnahme. Wenn jetzt noch ein misch-intoxikierter Patient versorgt werden muss, müssen die anderen Patienten bestenfalls unnötig lange warten. Schlimmstenfalls können sie erst mit Verzögerung behandelt werden.


Quotation Mark

"Konsumräume hätten Gamechanger-Potenzial."


Mediziner Jan Welker


Was wäre Ihr Lösungsvorschlag, damit weniger Menschen mit Überdosis in der Notaufnahme landen?

Ein wichtiger Baustein sind Drogenkonsumräume, die gehören zur ersten Säule "Prävention" im Nürnberger Modell. Wir planen auch Aufklärungsprogramme an Schulen und wollen in der Clubszene das Thema ins Bewusstseinrücken, um den Überkonsum zu verhindern. Die zweite Säule ist die Akutversorgung: Wir brauchen mehr spezialisierte Intensivkapazitäten, damit nicht Tox-Patienten mit den anderen Patienten um Intensivbetten konkurrieren müssen. Als dritte Säule brauchen wir eine optimierte Nachsorge: Patienten mit einem Entzugswunsch warten oft wochenlang auf einen Platz zur Entgiftung. Hier wollen wir Verbesserungen erreichen.

Die Versorgung von Suchtkranken fällt in den Bereich Prävention?

Prävention heißt bei uns Prävention von Drogenkonsum und wenn schon Drogen genommen werden, die Prävention von Notfällen. In Drogenkonsumräumen kommt es seltener zur Überdosierung und Krankenhauseinweisungen. Es gibt Zahlen aus anderen Ländern und Städten, dass Konsumräume die medizinischen Strukturen entlasten. Wichtig ist, dass es nicht darum geht, einfach einen Konsumraum zu eröffnen. Er muss immer eingebettet sein in ein Gesamtkonzept, so wie wir es im Nürnberger Modell verwirklichen wollen. Konsumräume hätten dabei Gamechanger-Potenzial.

Solange die CSU regiert, wird es in Bayern wohl nichts mit Drogenkonsumräumen.

Wir erfahren parteiübergreifend Unterstützung. Ich bin zuversichtlich, dass die Vernunft siegt. Die wissenschaftliche Evidenz ist eindeutig.

Welche Vorteile bringen Drogenkonsumräume?

Man muss verstehen, dass es nicht um Partykonsum, sondern um chronisch suchtkranke Menschen geht, von denen ein relevant großer Teil nie mehr von den Drogen wegkommen wird. Die haben einen sicheren und hygienischen Ort, wo sie stressfrei konsumieren können. Es kommt zu weniger Überdosierungen, weniger Infektionen und – ein ganz wichtiger Punkt – zu weniger Gewalt. Vor allem Frauen werden während oder direkt nach dem Konsum häufig Opfer von sexualisierter Gewalt. Wir würden gern einen Drogenkonsumraum für Männer und einen eigenen für Frauen eröffnen. Dort hätten wir auch die Möglichkeit, die Patientinnen und Patienten suchtmedizinisch und hausärztlich anzubinden. Viele Suchtkranke tun sich schwer, einen Hausarzt zu finden, dabei brauchen auch sie mal eine Impfung oder ein Rezept.

Wie profitiert die Gesellschaft insgesamt von Drogenkonsumräumen?

Sie bieten die Möglichkeit zu einem geordneten Konsum und damit eine Steuerung der Szene. Eine offene Drogenszene, wie wir sie jetzt haben, wabert dagegen unübersichtlich vor sich hin und wirkt bedrohlich.

In Nürnberg gibt es schon seit über 20 Jahren zwei Safer-Use-Automaten. Nach jahrelangem politischen Ringen wurde im vergangenen Jahr beschlossen, zwei weitere Spritzenautomaten aufzustellen – wann das geschieht, ist allerdings noch nicht absehbar. Was wünschen Sie sich für den Umgang mit Suchtkranken in Nürnberg?

Wir brauchen einen Paradigmenwechsel hin zu einer menschenwürdigen und progressiven Versorgung dieser chronisch kranken Menschen. Damit könnten wir die Zahl der Drogentoten reduzieren und das lokale Gesundheitssystem sowie die Sozialkassen entlasten.

Verwendete Quellen
  • Gespräch mit Jan Welker
  • Gespräch mit Verantwortlichen der mudra
  • Eigene Recherchen
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