Geblockt wegen Nacktheit? Twitter, das ist dumm!
Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung ΓΌbernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.

Unsere Kolumnistin wurde von Twitter gesperrt. Und erlebte, wie stur, komplett unerreichbar und vor allem dumm das Netzwerk agiert.
Wie ironisch kann das Leben sein? Nach zwei Jahren Corona-Pause ist endlich wieder re:publica. Menschen, die einander nur von Twitter kennen, treffen sich in echt. Um dann darΓΌber zu twittern. Dieses Jahr ziert auch noch zum allerersten Mal ein deutscher Regierungschef die GΓ€steliste der re:publica. Noch mehr Stoff zum Twittern.
Ziemlich blΓΆd, wenn man ausgerechnet an diesem Tag zum allerersten Mal bei Twitter gesperrt ist. So wie ich. Der Grund: RegelverstoΓ. Ich hatte das weltberΓΌhmte Bild vom "Napalm-MΓ€dchen" gepostet.
Die preisgekrΓΆnte Schwarz-WeiΓ-Fotografie zeigt mehrere Kinder, die mit verstΓΆrten, verzerrten Gesichtern auf die Kamera des Fotografen zulaufen. Genau in der Mitte des Bildes lΓ€uft ein MΓ€dchen. Es ist nackt, es schreit, es hat seine Arme ausgebreitet. Beim genaueren Hinschauen sieht man Wunden an seinem linken Arm. SpΓ€ter im Krankenhaus werden die Γrzte Verbrennungen dritten Grades an einem Drittel des kleinen KΓΆrpers feststellen. Und doch ΓΌberlebt das Kind. 17 Operationen binnen zwei Jahren werden dafΓΌr notwendig sein.
Das Bild ist eine der Ikonen des Kriegsfotografie
Hinter dem geschundenen MΓ€dchen und den anderen schockierten und vΓΆllig verΓ€ngstigten Kindern sieht man Soldaten. Und dicke Rauchschwaden. Das Bild mit dem Titel "The Terror of War" gehΓΆrt zu den Ikonen der Kriegsfotografie.
Entstanden ist es vor genau 50 Jahren, am 8. Juni 1972. Im Vietnamkrieg. An diesem Tag fliegen die SΓΌdvietnamesen Napalm-Angriffe auf das Dorf TrΓ ng BΓ ng. Dort lebt das neunjΓ€hrige MΓ€dchen namens Kim Phuc. Sie und ihre Cousins sind auf dem Bild zu sehen, wie sie rennen. Weg vor mΓΆglichen weiteren Angriffen, vor ihren Schmerzen und ihrer Angst.
Die Fernsehjournalistin Nicole Diekmann kennt man als seriΓΆse Politik-Berichterstatterin. Ganz anders, nΓ€mlich schlagfertig und lustig, erlebt man sie auf Twitter β wo sie ΓΌber 120.000 Fans hat. Dort filetiert sie politische und gesellschaftliche Aufreger rund ums Internet. Ihr Buch "Die Shitstorm-Republik" ist ΓΌberall erhΓ€ltlich, ihr neues Blog findet man hier.
Das Bild fΓ€hrt einem bis ins Mark. Das Leid der Zivilgesellschaft in Kriegen ist immer entsetzlich, und Kinder als Opfer zu sehen, ist noch mal etwas Furchtbareres. Kinder in ihrer Unschuld und ihrer Wehrlosigkeit. Die offensichtlichen Qualen der kleinen Kim Phuc, die in dem Moment des AuslΓΆsens nicht mal ansatzweise ermessen kann, was ihr gerade passiert ist, warum es passiert und wie haarscharf sie am Tod vorbeischrammt, quΓ€len auch den Beobachter. Wer auch nur ΓΌber einen Hauch von BeschΓΌtzerinstinkten verfΓΌgt β dieses Bild weckt sie.
Auch, weil das MΓ€dchen nackt ist. Das steigert seine Verletzlichkeit noch. Und ist der Grund, warum dieses Foto schon in der Vergangenheit zu Sperren in sozialen Netzwerken gefΓΌhrt hat. So wie nun bei mir.
Twitter sperrt den Accout β wegen KΓΌnstlicher Dummheit
Twitter informiert mich per Mail, dass mein Tweet gegen die Regeln verstoΓe, und fordert mich auf, ihn zu lΓΆschen. Nachdem ich das getan habe, bleibe ich trotzdem gesperrt. ZwΓΆlf Stunden lang. Sobald ich auf meinen Account gehe, kann ich dort die verbleibende Dauer meiner Sperre lesen. Transparenter wird es jedoch nicht mehr werden.
Die viel gepriesene KΓΌnstliche Intelligenz, die auch fΓΌr das Scannen von Social-Media-Inhalten genutzt wird, sieht nur Nacktheit. Und schlΓ€gt Alarm. Dass sie es mit einem Dokument der Zeitgeschichte zu tun hat, das 1972 unter anderem mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichnet wurde, weiΓ sie nicht. Und ganz offensichtlich wusste ein Mensch bei Twitter, der dann meine Sperrung veranlasste, das auch nicht.
Das kann passieren. KΓΌnstliche Intelligenz ist eben auch oft genug KΓΌnstliche Strunz-Dummheit. Sie wird von Menschen programmiert.
Ich habe den Tag auch so gut herumgekriegt und bin inzwischen wieder entsperrt. Und trotzdem ist dieser Fall keine Lappalie. Denn Twitter hat sich mit seinem vΓΆllig intransparenten Verhalten mal eben so ΓΌber geltendes Recht hinweggesetzt. Das passiert ΓΆfter, erfuhr ich wΓ€hrend meiner Sperre, als mich sehr freundliche Juristen anschrieben und mir ihre Hilfe anboten.
Twitter agierte rechtswidrig β scheint sich daran aber nicht zu stΓΆren
Plattformen dΓΌrfen Nutzer ohne vorherige AnhΓΆrung allerdings gar nicht sperren. Das hat der Bundesgerichtshof so entschieden. Twitter aber ist das erschreckend oft vΓΆllig egal. Auch in meinem Fall. Man versucht auch gar nicht, diesen Eindruck zu verwaschen. Auf die Versuche nicht weniger Leute, mich aus dieser misslichen Lage wieder zu befreien, reagierte das Unternehmen in der ΓΌberwiegenden Zahl der FΓ€lle nicht mal.
Dasselbe Unternehmen, das Drohungen und Beleidigungen nicht lΓΆscht, die nach Auffassung von deutschen Gerichten rechtswidrig sind. Dasselbe Unternehmen, auf dem tΓ€glich gehetzt, beleidigt, gedroht wird. Das ewig brauchte, um Donald Trump zu sperren. Das als ein zentraler Hort von Desinformation gilt, sei es nun im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie oder dem russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine. Das unter Strafermittlern verschrien ist als vollkommen unkooperativ.
Meine kleine, fΓΌr mich selbst ja nicht so tragische Geschichte birgt ΓΌbrigens in noch einem weiteren Punkt Ironie: Beinahe wΓ€re das Foto vom "Napalm Girl" damals nicht erschienen. Der an diesem Tag verantwortliche Redakteur bei der Nachrichtenagentur Associated Press (AP), fΓΌr die der Fotograf Nick Γt arbeitete, wollte es nicht verΓΆffentlichen. Es habe gegen die Regeln verstoΓen: Es zeige einen nackten Menschen von vorne.
Doch in der Redaktion entbrannte eine Debatte. Das Bild polarisierte dermaΓen, dass der BΓΌroleiter aus seiner Mittagspause herbeitelefoniert werden musste. Er entschied, es trotz des Bruchs mit den Vorgaben an die Presse zu schicken. Am darauffolgenden Tag erschien es auf der Titelseite der "New York Times". Und markierte einen Wendepunkt: Ab da kippte die Stimmung in der amerikanischen BevΓΆlkerung, ab da kippte ihre Zustimmung fΓΌr den Krieg. Der Anblick der lebensgefΓ€hrlich verletzten, vor Schmerz schreienden Kim Phuc war zu schwer ertrΓ€glich.
Eine kluge Entscheidung des AP-Verantwortlichen, das Foto freizugeben. Trotz des RegelverstoΓes. Menschliche Intelligenz.