Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Absurde Rebellion Sie werden es hautnah zu spüren bekommen

Ein neuer Trend im Netz treibt die Absurdität auf die Spitze: die Ablehnung von Sonnencreme als politisches Statement. Dahinter verbirgt sich ein bekanntes Muster der Spaltung.
Heute Morgen in der Straßenbahn in Berlin. Draußen lacht die Sonne. Und hier drinnen, da weint mein Verstand. Warum? Weil ich soeben Zeugin des folgenden Dialogs zwischen zwei Teenies wurde. Sie: "Ist Sonnencreme Propaganda?" Er: "Ja. Ich mach' das nicht. Ihr könnt euch ja alle eincremen. Mir ist das safe zu gefährlich."

Zur Person
Die Fernsehjournalistin Nicole Diekmann kennt man als seriöse Politikberichterstatterin. Ganz anders, nämlich schlagfertig und lustig, erlebt man sie auf X – wo sie über 120.000 Fans hat. Ihr Buch "Die Shitstorm-Republik" ist überall erhältlich. Bei t-online schreibt sie jeden Mittwoch die Kolumne "Im Netz". Mehr
Ich war traurig ob so viel Unsinns, das schon. Den Schalter rausgehauen hat es mir aber nicht. Dafür lese ich dann doch zu regelmäßig die Timelines der einschlägigen Plattformen, als dass ich den neuesten großen Verschwörungsquatsch nicht schon kennen würde. Auf X, TikTok, Telegram, Facebook usw. wird nämlich im Brustton der desorientierten Überzeugung von sogenannten, eigentlich aber vor allem selbst ernannten, Experten, Folgendes ernsthaft propagiert: Sonnenmilch sei schlecht. Die angeblichen Gründe dafür sind vielfältig. Die verstrahlteste Erzählung lautet so: Sonnenmilch erzeuge Hautkrebs. Und das ist keine Einzelmeinung.
Wir gegen die anderen
Und es gibt sie tatsächlich: diejenigen, die das glauben. Mehr, als der gesunde Menschenverstand hoffen lässt. Oder zumindest solche, die das glauben wollen. Denn es geht gar nicht so wirklich um Sonnencreme. Es geht um etwas Größeres. Wie ein Nutzer auf X in diesen Tagen schrieb: "Gleich essen wir Fleisch. Und Erdbeeren. Die haben wir hier lokal gekauft – ohne Quittung. Und wir sind draußen – und cremen uns nicht ein." Ein Muster, wie er glauben machen wollte – denn er beschloss die ja eigentlich völlig unspektakuläre Beschreibung seiner Freizeit mit den Worten: "Wir sind rechtsradikal."
Ich fasse zusammen: Sich einschmieren ist jetzt also nicht nur politisch, es ist auch noch links. Das ist natürlich Nonsens. Was aber stimmt: Es ist wieder so weit. Diejenigen, die stets emsig auf der Suche sind nach einem Thema, das sie als potenzielle Märtyrer dastehen lassen könnte, und die dann wie geölt laufen, wenn sie das Schema "Wir gegen die anderen" in Gang setzen können, sind endlich mal wieder fündig geworden. Ihre Erzählung basiert darauf. Sonnencreme ist nur ein Vehikel. Das wird relativ deutlich, wenn ihnen rationale Argumente entgegengebracht werden.
Die Hautkrebsrate habe sich in den vergangenen Jahrzehnten stetig nach oben entwickelt, schreibt zum Beispiel ein User auf X, und im selben Zeitraum auch der Verbrauch von Sonnencreme. Hallo? Der Fall liege doch wohl klar!
Zarte Hinweise von anderen Usern auf den wichtigen Unterschied zwischen Korrelation und Kausalität – dass also ein zeitlicher Zusammenhang nicht auch automatisch ein ursächlicher ist, verhallen im rauen Wind des Widerstands.
Unfreiwillig komisch
Denn das ist für einige zumindest tatsächlich der Gedanke dahinter: Man lässt sich nichts vorschreiben! Auch nicht von der Sonnencreme-Industrie. Erinnert verdächtig an die Diskussion um die Corona-Impfung. Aus Big Pharma ist jetzt nur halt Big Sonnencreme geworden. Man hat wieder ein Feindbild, und man ist wieder wer. Nämlich Teil einer Bewegung. Einer selbstbewussten, mutigen Bewegung, die standhaft bleibt, aufmuckt, sich nicht zensieren lässt. Gut, nun wird zwar, anders als während der Pandemie im Zusammenhang mit der Impfung, gar nicht über eine mögliche Pflicht diskutiert. Niemand denkt daran, außer denen, die leidenschaftlich gegen sie kämpfen. Aber das ist nebensächlich.
Blendet man mal die Kosten aus, die wegen der gesundheitlichen Folgen auf uns alle zukommen könnten (Krankenkassenbeiträge), wäre es ja lustig. Es finden sich wunderschöne, unterhaltsame Stilblüten wie diese hier auf dem Kurznachrichtendienst Threads: "Wer in den Tropen lebt", schreibt da ein beim Thema Sonnenschutz sehr engagierter und sehr konsequent falsch abgebogener User, "heller Hauttyp, stundenlang draußen und trotzdem ohne Sonnencreme keinen Sonnenbrand bekommt, erntet meist Hass statt Fragen." Wer kennt sie nicht, die Hetzjagden auf Tropenbewohner mit Hauttyp 1? Wenn der Cremedetektor bei einer der engmaschigen Kontrollen laut angeschlagen hat und aufdeckt: Hier hat sich jemand widersetzt? Wenn der Mob dann Jagd macht auf den mit heller Haut und ohne Schutz?
Es wird ja geprüft
Wie gesagt: Witzig oder auch bemitleidenswert, das ist eine Typfrage. Nur gibt es aber auch nicht wenige Dialoge wie diesen, in dem eine Userin fragt, welche Sonnencreme ihr andere für ihr sechs Monate altes Baby empfehlen – "möglichst natürlich und ohne Chemie". Und die erste Antwort lautet: "Keine Cremes … Das ist so schädlich." Puh.
In der anschließenden Debatte, in der sich zum Glück auch zurechnungsfähige Menschen zu Wort melden, werden dann Falschbehauptungen wie die verbreitet, dass es keine gesetzlich vorgeschriebene Prüfung der Inhaltsstoffe gäbe – "fällt ja unter Kosmetik". Das ist falsch. Und es gäbe doch immer Testberichte über bedenkliche Inhaltsstoffe, auch in Sonnenmilch. Das stimmt. Die gibt es aber eben gerade deshalb, WEIL geprüft wird. Nicht, weil Sabrina93 sich jetzt den Frühling über mithilfe von ChatGPT zur Chemikerin hat ausbilden lassen und im Zuge ihrer anschließenden Tätigkeit in ihrem Keller herausgefunden hat, was uns da vom internationalen Sonnencreme-Kartell angedreht werden soll.
Man kann sich auflehnen. Auch gegen gar nicht existente Vorschriften. Was ja zweifelsohne der angenehmste Weg ist. Da passiert dann nichts, zumindest rechtlich. Ob man kraft des eigenen starken Willens allerdings auch Phänomene wie Hautkrebs niederzuzwingen in der Lage ist – ich bezweifle es. Aber, und das wiederum befürchte ich: Manche werden es hautnah zu spüren bekommen.
- Eigene Meinung