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HomePolitikGerhard Spörl: Der Welterklärer

Stimmung in Deutschland: nicht mehr nur Corona, Corona, Corona


Leben mit und ohne Pandemie
Deutschland im Corona-Sommer: eine seltsame Stimmung

  • Gerhad Spörl
MeinungEine Kolumne von Gerhard Spörl

Aktualisiert am 15.06.2020Lesedauer: 4 Min.
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Das Isarufer in München am vergangenen Wochenende: Viele Menschen können den Sommer trotz Corona-Krise genießen.Vergrößern des Bildes
Das Isarufer in München am vergangenen Wochenende: Viele Menschen können den Sommer trotz Corona-Krise genießen. (Quelle: Peter Kneffel/dpa-bilder)

Wie ist die Stimmung derzeit im Land? Nicht schlecht, weil die große Politik die Deutschen auf die Straße ruft – und außerdem der Sommerurlaub bevorsteht.

Am meisten interessiert mich momentan, in welcher Stimmung Deutschland ist. Es ist nicht einfach herauszufinden, sei es durch Lektüre der Tageszeitungen oder Wochenblätter, sei es durch die vielen Sondersendungen im Fernsehen. Also versuchen wir es einfach mal.

Anscheinend liegt die monothematische Zeit hinter uns. Nicht mehr ist alles Corona, Corona, Corona. Unterschiedlich ist nur das Maß an Lockerungsübungen. Vorige Woche ging ich in ein Restaurant in Potsdam und wollte meine Maske aufsetzen, das war aber nicht nötig, anders als in Berlin. War ich erstaunt. Kurz zuvor war ich in Hamburg und dachte, um 22 Uhr müssten wir das Restaurant verlassen, mussten wir jedoch nicht, anders als in Berlin. War ich erfreut.

Föderalismus ist prima. Föderalismus hat viele Zentren und bietet mehr Abwechslung als der Zentralismus in Frankreich oder England. Allerdings wäre jetzt eine Abstimmung wie in den Pandemie-Anfängen ein Segen. Ist ja zu albern, wenn wir uns erkundigen müssen, was wir in Niedersachsen dürfen und in Hessen nicht. Ich bin für ein Mittelmaß, mir ist Bayern zu restriktiv und Nordrhein-Westfalen prescht zu schnell vor. Die Umfragen zeigen ja, dass Vorsicht à la Söder geschätzt wird und Eile à la Laschet nicht besonders gut ankommt.

Zwischenbilanz: Die Deutschen sind offenbar immer noch geduldig, wenn auch irritiert. Sie genießen das Wetter, Cafés und Restaurants sind überall voll. Eine Mehrheit hält sich – nach allem, was wir wissen – an die Regeln. Ab heute können wir wieder ins europäische Ausland reisen, sofern Flugzeuge fliegen, sonst bleibt die Bahn oder das Auto. Ist doch was, die Welt wird wieder größer.

Daneben beschäftigt uns Rassismus, vorzugsweise in Amerika, aber nicht nur. Ich bin mein Leben lang gerne drüben gewesen, habe einige Jahre dort gelebt, habe mich aber auch immer wieder über diese schwärende Wunde Rassismus gewundert, die regelmäßig aufbricht. Hier in den Talkshows kommt allerdings zu kurz, dass es im Rassismus auch immer um Klassenverhältnisse geht. Wenn Schwarze in die Mittelklasse aufsteigen, haben sie eine Chance, dem Rassismus zu entgehen. Wer sozial so weit unten steht wie George Floyd, ist ihm ausgeliefert.

Andere wichtige Themen bekommen wieder Beachtung

Dass in Berlin und München Leute gegen Rassismus demonstrieren, finde ich gut. Ich glaube, da schwingt Erleichterung mit, dass wirklich große politische Themen wieder ins Zentrum rücken und das ewige Corona relativieren. Nebenbei sind die Verschwörungstheoretiker, die uns mit ihren Phantasmagorien verblüfft haben, dorthin gerückt, wo sie hingehören: ins Abseits.

Die Rückfrage, wie es hier bei uns zugeht, liegt nahe und ist vernünftig. Rassismus ist Menschenverachtung, wer würde das nicht sagen, außer den Höcke-Verehrern, die von Deutschland gestern träumen. Rassismus kommt bei uns vor, genauso wie Antisemitismus. Schlimm genug. Die Einsicht, dass es wahrscheinlich nie eine Gesellschaft ohne Abgrenzung und Ausgrenzung, ohne Diffamierung und Diskriminierung geben wird, hilft nicht viel weiter. Also muss die Gesellschaft auch immer wieder gegen dieses Unrecht angehen, was denn sonst. Der Kampf geht weiter, immer weiter.

Nun soll der Begriff "Rasse" aus dem Grundgesetz gestrichen werden. Kann man machen, kann aber genauso gut eine Ersatzhandlung sein. Rassismus beruht auf einem Gedankenstrom, der sich seit Jahrhunderten durch die europäische Geschichte zieht. Wird schwierig. Wahr ist aber auch, dass die Identität der Gegenwart vom Umgang mit der Vergangenheit mitbestimmt wird. Ich bin gespannt, wie tief die Diskussion gehen wird und ob sie versöhnt oder spaltet.

Zweite Zwischenbilanz: Die große Politik war nie weg, aber im Stillstand der Corona-Krise eingedämmt. Im Kleinen kehrt sie in ihr Recht zurück, weil wir in den Städten sehen können, dass der Bäcker an der Ecke aufgegeben hat und auch der Schmuckladen in dritter Generation. Im Großen hat sich womöglich jetzt schon entschieden, ob Donald Trump am 3. November abgewählt wird.

Die Deutschen dürfen wieder reisen

Da wir wieder reisen dürfen, können wir endlich den Urlaub planen. Wahrscheinlich eher Europa als Asien oder Südamerika oder Karibik. Egal: Hauptsache, raus und weg und möglichst nicht dorthin, wohin alle wollen, also lieber Formentera als Mallorca, lieber Santorin als Kreta. Oder denken alle so und überall ist es voll? Auf alle Fälle genug Homeoffice und Homeschooling, jetzt Sonne und Sand und Bücher und möglichst wenig an die kleinen und großen Probleme denken.

Dritte Zwischenbilanz: Sofern der Job sicher ist und das Bankkonto ungeplündert, fällt die Vorfreude auf den Sommer leicht. Und wenn wir im Urlaub auf Franzosen oder Briten oder Spanier treffen, können wir Vergleiche anstellen und uns darin sonnen, dass es uns gut geht.

Wahrscheinlich pendelt unsere Stimmung momentan zwischen frohgemut und beklommen. Die Wahrheit liegt im Herbst, wenn die Rezession durchschlägt und die Arbeitslosigkeit steigt und Pleiten zunehmen und Corona nach wie vor unseren Alltag prägt. Ich bin gespannt, wie uns dann zumute sein wird.

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