Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Tagesanbruch Putin macht Ernst – was macht Merz?

Guten Morgen, liebe Leserin, lieber Leser,
in der Ukraine fallen gerade Rekorde der fürchterlichen Art, Putin macht Ernst. Und wenn das für irgendetwas gut sein könnte, dann ja vielleicht dafür, dass der Westen endlich auch mal Ernst macht. Womit wir nicht nur bei Donald Trump wären, sondern auch bei Friedrich Merz.
355 Drohnen und neun Marschflugkörper – so viele hatte Wladimir Putin vor zwei Wochen in der Nacht von Sonntag auf Montag auf die Ukraine gefeuert. Eine bis dahin unerreichte Zahl in den mehr als drei Jahren, die der russische Angriffskrieg nun schon dauert.
Diese Woche ist der Rekord schon wieder Geschichte: In der Nacht von Sonntag auf Montag waren es der Ukraine zufolge 479 Drohnen sowie 20 Raketen und Marschflugkörper. Selbst die polnische Luftabwehr war im Einsatz, weil Putin auch in der Nähe von Polen angreift. Putin versucht zudem, in die Region Dnipropetrowsk im zentralen Osten der Ukraine vorzurücken. Mit wie viel Erfolg, darüber gibt es unterschiedliche Darstellungen. Gut sieht das alles jedenfalls nicht aus.
Embed
Putin eskaliert. Er ist derjenige, der die Ukraine überfallen hat. Er ist derjenige, der nicht nur militärische Ziele angreift, wie es die Ukraine zuletzt vor einer Woche mit ihrer großen "Operation Spinnennetz" gegen vier Militärflughäfen getan hat. Putin greift gezielt auch Zivilisten an, es ist seine Strategie.
Als Friedrich Merz am vergangenen Donnerstag im Oval Office saß, war das die eine Sache, bei der er seinem Gastgeber Donald Trump deutlich widersprochen hat. Mehrfach. Das war wichtig, es reiht sich ein in Merz' überdeutliche Ukraine-Rhetorik. Nur stoppen Worte eben keine Drohnen, keine Raketen und auch nicht das Sterben. Es braucht jetzt mehr handfesten Druck auf Putin, damit er bereit ist, über einen gerechten Frieden zu verhandeln.
Noch wichtiger war es deshalb, dass Merz etwas anderes versucht hat: Er will Trump dort packen, wo es bei ihm viel zu packen gibt: bei seinem riesengroßen Ego. Merz will Trump überzeugen, dass er zum großen Friedensbringer werden könnte, so wie die USA es für Europa im Zweiten Weltkrieg waren, mit dem D-Day und allem, was folgte. Donald J. Trump auf einer Stufe mit Franklin D. Roosevelt. Das sollte das gewaltige Bild werden, das in Trumps Kopf einwandfrei hineinpassen könnte.
Donald Trump soll harte Sanktionen gegen Russland unterstützen, das ist das Ziel. Der republikanische Senator Lindsey Graham hat ein Paket erarbeitet, dessen Kern etwas ist, das Trump liebt: gewaltige Strafzölle. Die USA würden Länder, die etwa noch Öl oder Gas aus Russland kaufen, mit Zöllen in Höhe von 500 Prozent belegen. Besonders China soll so dazu gebracht werden, Russland nicht mehr die Kriegskasse vollzumachen.
Lindsey Graham hat theoretisch genug Unterstützer, um auch ein Veto Donald Trumps zu brechen. Mancher geht davon aus, dass schon diese Woche etwas passieren könnte. Praktisch aber wird ziemlich sicher nichts passieren, solange Trump nicht an Bord ist. Er muss das Gefühl haben, dass die Sache von ihm ausgeht. Dass er der Friedensbringer ist. Davon sind viele in Berlin und Washington überzeugt. Was auch heißen dürfte, dass das Sanktionspaket noch mal verändert wird, vermutlich abgeschwächt. So zeichnet es sich jedenfalls ab. Wenn es denn überhaupt kommt.
Es gibt Leute, die sagen, Trump wisse eigentlich, dass Russland der Böse ist und nicht die Ukraine. Obwohl er öffentlich immer wieder viel dafür tut, die Schuld am Krieg auf beide zu verteilen. Auch im Oval Office war das wieder so, mit seinem absurden Bild von den zwei Kindern, die vielleicht einfach noch ein bisschen kämpfen müssten, bevor sie bereit seien für Frieden. Kann sein, dass Trump es eigentlich besser weiß. Kann aber auch nicht sein. Ich konnte im Oval Office nicht in seinen Kopf schauen. Noch wichtiger aber ist: Es hilft ohnehin nichts, wenn er nicht auch entsprechend handelt.
Und da wären wir bei Friedrich Merz. Der neue Bundeskanzler wurde vielfach gelobt für seine deutlichen Worte in diesem Krieg. Auch an dieser Stelle, auch von mir. Das ist weiterhin richtig. Aber mit jedem Tag und jedem Rekord-Drohnenangriff wird die Lücke größer zwischen seinen Worten – und seinen Taten. Also den Dingen, auf die er deutlich mehr Einfluss hat als auf einen US-Präsidenten, der manchmal wohl selbst morgens nicht weiß, was er abends tun wird.
Friedrich Merz hat einen großen Fehler gemacht. Die Mutter aller Fehler in solchen Situationen. Er hat für Putin eine rote Linie gezogen und dann nichts getan, als der einfach drüberspaziert ist. Als Merz mit Frankreichs Präsident Emmanuel Macron, dem britischen Premier Keir Starmer und dem polnischen Premier Donald Tusk in Kiew war, hatte er Putin eine Frist gesetzt, einem Waffenstillstand zuzustimmen. Sonst sollte es harte Sanktionen geben.
Die Frist verstrich – die Sanktionen kamen nicht. Zumindest keine, die nicht sowieso gekommen wären, wie das 17. Paket der EU. Auf das weist die Bundesregierung seitdem hin. Ist doch alles super, es kamen doch Sanktionen. Nur: Putin ist nicht blöd. Genau wie er weiß, dass das längst beschlossen war, weiß er auch, dass das nächste Sanktionspaket der EU bislang nur aus guten Ideen besteht. Es soll die Wiederaufnahme des Betriebs der Nord-Stream-Pipelines verhindern. Es soll weitere Sanktionen gegen den russischen Finanzsektor und die Schattenflotte enthalten. Und es soll den Ölpreisdeckel absenken, der den Preis bestimmt, zu dem Russland offiziell Öl verkaufen darf.
Diese Sanktionen in Brüssel zu beschließen, ist überfällig und zugleich kompliziert genug. Alle Mitgliedstaaten müssen neuen Sanktionen zustimmen. Damit Ungarn das tut, muss also Viktor Orbán überzeugt werden. Ein Mann, den mancher EU-Regierungschef längst für verloren hält für die gute Sache. Vielleicht wäre diese Überzeugungsarbeit ja eine Aufgabe für einen neuen Bundeskanzler?
Friedrich Merz muss liefern. In diesem Fall passt das abgegriffene Sprachbild mal. Er muss die Sanktionen liefern, die er schon vor Wochen versprochen hat. Und ja, auch wenn er nicht mehr darüber reden will: Er muss der Ukraine auch mehr Waffen liefern. Und wenn Merz ihr den Marschflugkörper Taurus jetzt doch nicht mehr überlassen will, nachdem er das als Oppositionsführer monatelang gefordert hat, muss er erklären, was sich seitdem geändert hat.
Mit "strategischer Ambiguität" jedenfalls kann er sich nicht rausreden. So begründet er seine neue Linie, so wenig wie möglich über Waffenlieferungen zu sprechen: damit Putin nicht weiß, was die Verbündeten genau tun. Das aber verhindert gerade vor allem, dass die Öffentlichkeit sehen kann, wie viel Deutschland wirklich hilft. Putin selbst weiß durch seine Spione und Drohnen ohnehin, was auf dem Schlachtfeld los ist. Aus "strategischer Ambiguität" ist bei Friedrich Merz "bequemes Verschweigen" geworden. Und das passt so gar nicht zum Kanzler der klaren Worte.
Termine des Tages
Was treiben die Extremisten? Bundesinnenminister Alexander Dobrindt (CSU) und der Vizepräsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz, Sinan Selen, legen den Verfassungsschutzbericht 2024 vor. Die mehrere Hundert Seiten umfassenden jährlichen Berichte geben Einblick in die Lagebewertung des Inlandsnachrichtendienstes bei Rechts- und Linksextremismus, Islamismus sowie Terrorismus.
Magazin-Verbot rechtmäßig? Das Bundesverwaltungsgericht in Leipzig überprüft ab heute das Verbot des rechtsextremen Magazins "Compact". Im Eilverfahren hatten die Richter das Verbot im vergangenen Sommer ausgesetzt, sodass das Blatt vorerst weiter erscheinen kann. Nun steht die endgültige Entscheidung im Hauptsacheverfahren an.
Was passiert in den Niederlanden? Eine Woche nach dem Bruch der Regierung in den Niederlanden empfängt Bundeskanzler Friedrich Merz den geschäftsführenden Ministerpräsidenten Dick Schoof. Der niederländische Rechtspopulist Geert Wilders hatte die von Schoof angeführte Vier-Parteien-Regierung im Streit über die Migrationspolitik zu Fall gebracht.
Historisches Bild
2003 stürzten die USA Iraks Gewaltherrscher. Mehr lesen Sie hier.
Lesetipps
Russland verschleißt seine Ressourcen im Angriffskrieg gegen die Ukraine. In der Hauptstadt Moskau sorgt hingegen ein anderes Thema für erhitzte Gemüter, wie unser Kolumnist Wladimir Kaminer schreibt.
Höckes ehemaliger Büroleiter zieht in den Bundestag ein. Als Mitarbeiter engagiert er einen ehemaligen Neonazi und Vordenker der Neuen Rechten, wie Kollegin Annika Leister berichtet.
Victor Davis Hanson ist Donald Trump wichtigster intellektueller Verteidiger. Im Interview mit meinem Kollegen Bastian Brauns spricht er über das Treffen von Friedrich Merz und Donald Trump, die Fehler Angela Merkels und harte Sanktionen gegen Russland.
Zum Schluss
Ich wünsche Ihnen einen guten Start in diese kurze Arbeitswoche.
Ihr Johannes Bebermeier
Chefreporter
BlueSky: @jbebermeier.bsky.social
Instagram: @johannesbebermeier
Was denken Sie über die wichtigsten Themen des Tages? Schreiben Sie es uns per E-Mail an t-online-newsletter@stroeer.de.
Mit Material von dpa.
Den täglichen Tagesanbruch-Newsletter können Sie hier kostenlos abonnieren.
Alle Tagesanbruch-Ausgaben finden Sie hier.
Alle Nachrichten lesen Sie hier.