Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Tagesanbruch Es ist bitter

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Im Berliner Regierungsviertel hat die Sommerpause begonnen, Parlamentsbüros und Ministerien leeren sich. Eine Gelegenheit, ohne Ablenkung durch Innenpolitik gen Osten zu blicken: Dort vollziehen sich gravierende Entwicklungen. In der Wahrnehmung der meisten Mitteleuropäer ist der Krieg in der Ukraine längst zum Hintergrundrauschen geworden, dessen Ausschläge sie nur noch dann wahrnehmen, wenn bei einem russischen Angriff besonders viele Zivilisten sterben. Wer sich Mühe gibt, erinnert sich vielleicht noch an den Schock im Februar 2022: In Europa herrscht wieder Krieg, und eine Atommacht ist daran beteiligt. Es war ein Rückfall in eine Vergangenheit, die längst überwunden schien.
Dieser Schrecken ist bei den meisten Menschen hierzulande verflogen. In den ersten beiden Kriegsjahren schaute man gebannt auf die Ereignisse – dann ließ das Interesse nach. Das ist tückisch, denn die Zeit steht keinesfalls still. Vielmehr verändert sich der Konflikt grundlegend, nur vollzieht sich der Wandel weitgehend unbemerkt.
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Auf den ersten Blick gibt es tatsächlich wenig Neues zu entdecken. Präsident Selenskyj hat nach massivem Druck der ukrainischen Bevölkerung und der europäischen Partner sein umstrittenes Gesetz zur Beschränkung der Antikorruptionsbehörden revidiert. Aus dem Berliner Kanzleramt ist Erleichterung zu vernehmen.
Abgesehen davon beginnen die Nachrichten von der Front zu verschwimmen: Russische Geschosse hageln auf ukrainische Städte – wie schon lange, nur intensiver. In den Schützengräben machen unzählige Drohnen den Soldaten das Leben zur Hölle: Auch das zählt seit Langem zum bitteren Alltag. Weiterhin werden in der Ukraine Männer zwangsrekrutiert, weil es dort an Soldaten mangelt. Der Kreml seinerseits lockt Männer aus den russischen Provinzen mit viel Geld an die Front. Alles nicht neu. In gewohnter Manier weisen einige Experten darauf hin, dass es für Putin wirtschaftlich nun aber wirklich eng werde – auch das, die immer gleiche Prognose. Man muss auf den Kalender schauen, um sich zu vergewissern, welches Jahr wir eigentlich haben.
Dennoch verändert sich die Lage, wenn auch so schleichend, dass es kaum Aufmerksamkeit erregt: Die Art, wie Krieg geführt wird, wandelt sich für immer. Viel Beachtung haben die allgegenwärtigen Drohnen erhalten, die überall an der Front für ein gläsernes Schlachtfeld sorgen. Mittlerweile hat sich die Todeszone dramatisch vergrößert. Insbesondere die russischen Einheiten machen massenhaft von einem Drohnentyp Gebrauch, der nicht mehr über Funk, sondern mit einem dünnen Käbelchen gelenkt wird, das die Drohne kilometerlang hinter sich herzieht. Das macht sie immun gegen Störsignale. Die allgegenwärtige Überwachung durch Putins Drohnenpiloten erfasst nun eine Zone von 20 Kilometern hinter der eigentlichen Front. Selbst Versorgungseinheiten, die sich vor Kurzem noch in sicherem Abstand von der "Kill Zone" befanden, sind jetzt ständig im Fadenkreuz.
Weit hinter den Linien vollzieht sich ein noch tiefgreifenderer Wandel. Auch hier sieht an der Oberfläche alles aus wie immer: Die Ukraine ist auf westliche Waffenhilfe dringend angewiesen, um überleben zu können. Das ist nach wie vor korrekt, doch die einheimische Rüstungswirtschaft ist zu einem europäischen Schwergewicht herangewachsen. Insbesondere bei der Drohnentechnologie spielt das Land ganz vorne mit – kein Wunder angesichts der Kriegserfahrungen. Früher waren die ukrainischen Rüstungsschmieden ein wichtiger Baustein der sowjetischen Militärmacht, jetzt kehren sie an der Seite des Westens zu neuer Kraft zurück. Das Interesse an Kooperation mit den ukrainischen Tüftlern ist groß, besonders bei der Bundeswehr, die sich für die nächsten russischen Attacken rüstet.
Auch die Grundkonstanten des Krieges haben sich gewandelt. Bisher schien er immer bald vorbei zu sein. Die ersten Angriffe würden das Schicksal der Ukraine binnen Tagen besiegeln, glaubte nicht nur Putin, sondern meinten auch die meisten Beobachter im Westen. Als sich die russische Armee als chaotische Gurkentruppe erwies, schien wiederum der Kollaps des Kremlheeres vor der Tür zu stehen. Später ließ eine mit großem Tamtam angekündigte Sommeroffensive der Ukraine das Kriegsende nah erscheinen, dann die vermeintlich unaufhaltsame Übermacht der russischen Bataillone. Gefühlt war der Krieg immer im nächsten Jahr zu Ende. Donald Trumps Zickzackmanöver sind bloß ein weiterer Schlussakt, aber sicher nicht der letzte.
Aus dem kurzen, dramatischen Krieg – und dann dem mittellangen, aber endlichen – ist ein zermürbender, dauerhafter geworden. Niemand vermag in die Zukunft zu blicken, aber man kann sagen, wonach es aussieht: Dieser Krieg kann leider noch sehr lange dauern. Putin weicht keinen Deut von seiner imperialistischen Agenda ab, scheffelt weiterhin Geld mit dem Öl- und Gasverkauf und kann auf eine teils verängstigte, teils verblendete Bevölkerung bauen. Die Ukrainer wehren sich bewundernswert tapfer, und die Westeuropäer geben Kiew gerade so viel Unterstützung, dass der Widerstand nicht zusammenbricht. Jegliche Verhandlungen scheitern an Putins Maximalforderungen: Er will die gesamte Ukraine unterwerfen. Mit Sicherheit feststellen lässt sich nur dies: Bislang ist kein Ende des Dramas in Sicht.
Das ist unfassbar brutal, weil das Gemetzel täglich viele Opfer kostet. In Berlin, Paris und London darf die Unterstützung für die angegriffene Ukraine nicht nachlassen. Aber man sollte sich von der irrigen Vorstellung verabschieden, dass sich der Krieg in absehbarer Zeit beenden und die russische Aggression bannen lässt. Das sollte man insbesondere in der gespaltenen Regierungspartei SPD auch nicht mehr versprechen, weil man meint, auf das Geplapper von Rechts- und Linkspopulisten eingehen zu müssen.
Europa steckt mittendrin in der schlimmsten Sicherheitskrise seit dem Zweiten Weltkrieg. Das ist die bittere Wahrheit. Und es braucht noch sehr viel Resilienz und einen sehr langen Atem, um diese Krise durchzustehen. Manchmal hilft ein Blick in die Vergangenheit. Im Jahr 1979 marschierte der Kreml in Afghanistan ein. Es dauerte zehn Jahre, bis Moskau seine geschlagenen Truppen endlich abzog.
Trump golft auswärts
Grundsätzlich ist die Loyalität seiner Wählerbasis nahezu unerschütterlich. Ob US-Präsident Donald Trump demokratische Institutionen schleift, der ganzen Welt den Handelskrieg erklärt oder in der Ukraine-Politik einen Schlingerkurs vollführt – seine Fangemeinde trägt alles mit. Nur in einem Fall wirkte der MAGA-Mann plötzlich angreifbar und geradezu hilflos: im Streit über die berüchtigten Epstein-Akten, deren Offenlegung er einst versprach und nun verschleppt. Der Verdacht, ihr Idol könne selbst zum Netzwerk des toten Sexualstraftäters gehört haben, beschäftigt auch die Republikaner. Um eine Abstimmung über die Freigabe der Akten zu verhindern, schickte der republikanische Chef des Repräsentantenhauses die Abgeordneten diese Woche sogar vorzeitig in die Sommerferien.
Trump nutzt die Atempause auf seine Weise: Der US-Präsident bricht heute zu einer mehrtägigen Schottlandreise auf, um seine dortigen Golfresorts zu besuchen. Neben der Ausübung seines Lieblingshobbys sieht das Programm auch Treffen mit Großbritanniens Premier Keir Starmer und dem schottischen Regierungschef John Swinney vor. Journalisten des "Wall Street Journals" strich das Weiße Haus von der Liste der Reporter im Regierungsflieger, weil das Blatt kritisch über die Causa Epstein berichtet hatte. Zudem verklagte Trump die Zeitung auf zehn Milliarden Dollar Schadenersatz. Unser Korrespondent Bastian Brauns beschreibt die zunehmende Bredouille des Präsidenten.
Neue Atomgespräche
Bis heute ist nicht klar, wie es nach den Angriffen Israels und der USA auf iranische Atomanlagen im Juni wirklich um das Teheraner Nuklearprogramm steht. Wurde die Fähigkeit der Mullahs zur Urananreicherung durch die Bombardierung "ausgelöscht", wie es US-Präsident Trump vollmundig verkündete – oder nur um einige Monate zurückgeworfen, wie es ein US-Geheimdienstbericht nahelegt? Um das herauszufinden, wäre wohl eine Wiederaufnahme der Kontrollen durch Inspektoren der Internationalen Atomenergiebehörde nötig.
Letzteres gehört folglich zu den zentralen Forderungen der Europäer, wenn heute in Istanbul Delegationen aus Deutschland, Frankreich und Großbritannien zu Verhandlungen mit dem Iran zusammenkommen. Als Druckmittel führen die sogenannten E3-Staaten den "Snapback-Mechanismus" ins Feld: Als Mitunterzeichner des auslaufenden Wiener Atomabkommens von 2015 könnten sie beantragen, frühere UN-Sanktionen gegen Teheran automatisch wieder einzusetzen.
Fröhliches Warmlaufen
Das Reichstagsgebäude muss ohne Regenbogenflagge auskommen, dafür erstrahlt der U-Bahnhof Bundestag bereits in bunten Farben: Berlin läuft sich warm für den morgigen Christopher Street Day. Unter dem Motto "Nie wieder still!" soll dann ein Demonstrationszug von der Leipziger Straße bis zum Brandenburger Tor führen. Die Veranstalter rechnen mit mehreren Hunderttausend Teilnehmern – die vielleicht sicherheitshalber eine Regenjacke einpacken sollten.
Ohrenschmaus
Sie wollen sich mal wieder so richtig quicklebendig fühlen? Bitte schön!
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Zum Schluss
Ich wünsche Ihnen einen entspannten Freitag.
Herzliche Grüße und bis morgen
Ihr
Florian Harms
Chefredakteur t-online
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de
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Mit Material von dpa.