Todesfahrt in Berlin Augenzeuge: "Der ist gezielt auf die Leute drauf"
Mehr als 150 Journalistinnen und Journalisten berichten rund um die Uhr für Sie über das Geschehen in Deutschland und der Welt.
Zum journalistischen Leitbild von t-online.Die Todesfahrt am Tauentzien weckt bei vielen Erinnerungen an den Terroranschlag vom 19. Dezember 2016. Dabei ist noch gar nicht geklärt, ob der Fahrer vorsätzlich handelte. Biagio Viti hat die Tat miterlebt. Ein Augenzeugenbericht.
An dem Tag, an dem die ganze Welt plötzlich wieder auf den Breitscheidtplatz schaut, schläft Biagio Viti auf dem Weg zur Arbeit in der U-Bahn ein.
Vielleicht hat ihm das das Leben gerettet. Normalerweise steige er an der Station Ku'damm aus, sagt er. Er setze sich dann in ein nahegelegenes Café, um nochmal durchzuatmen. Um 11 Uhr öffnet die Pizzeria eines Freundes, in der er aushilft. Heute aber wacht er erst auf, als die U-Bahn im Bahnhof Zoo ankommt. Es ist gegen 10.25 Uhr. Die Sonne scheint. Er schlendert in Richtung Breitscheidtplatz. Statt ins Café setzt er sich auf die Treppenstufen der Gedächtniskirche.
Berlin: "Ich glaube, es war Absicht"
Was dann geschieht, wird er nie vergessen. Ein silberner Renault nähert sich aus Richtung Ku'damm. Viti sagt, er habe seinen Augen nicht getraut. Der Fahrer hätte den Wagen erst vorsichtig auf den Bürgersteig gefahren, er sei dann aber in eine Menschenmenge gerast. Die Gegend um die Gedächtniskirche ist ein touristischer Hotspot und an diesem Tag belebt. Hunderte Menschen bummeln vorbei an Cafés, Kaufhäusern und Shops. Ein lauter Knall. Ein Körper schleudert durch die Luft. Schreie. Menschen flüchten sich in Todespanik in eine H&M-Filiale.
Embed
Ein Unfall, denkt Viti. Doch dann sieht er, wie der Fahrer noch einmal Gas gibt und auf die nächste Menschenmenge zurast. Viti sagt, in diesem Moment sei ihm ein schrecklicher Gedanke durch den Kopf geschossen: "Ich glaube, es war Absicht. Der ist gezielt auf die Leute drauf."
Ein Attentat? An dem Platz, der schon einmal Tatort eines Terroranschlags wurde? Viele der Anwohner, die jetzt vor den rot-weißen Absperrbändern der Polizei stehen, erinnern sich noch. Es ist der 19. Dezember 2016. Ein Mann namens Anis Amri rast mit einem Sattelzug über den Weihnachtsmarkt am Breitscheidtplatz. Amri war Islamist und den Behörden schon lange als Gefährder bekannt. Ein Untersuchungsausschuss des Bundestags wertete das Attentat als Fall von Behördenversagen.
Auch bei der Horrorfahrt diesen Mittwoch mehren sich im Lauf des Tages Hinweise, dass es kein Unfall gewesen sein könnte. In dem Auto, das der Schwester des Fahrers gehört, lagen Schriftstücke und Plakate mit Äußerungen zur Türkei, wie sie auf Demonstrationen hochgehalten werden. Polizeipräsidentin Barbara Slowik sprach von einem "Tatverdächtigen", der in ein Krankenhaus gebracht wurde. Dennoch: Im Moment gebe es keine Erkenntnisse zu einer politischen Motivation.
Die heutige Unfallstelle vor der H&M-Filiale liegt keine hundert Meter Luftlinie von dem damaligen Tatort entfernt. 13 Menschen kamen 2016 ums Leben. Ihre Fotos stehen auf der anderen Seite der Kirche. Ein goldener Riss im Boden erinnert an die Opfer des Terrorschlags.
Vorsatz oder Unfall?
Und jetzt der 8. Juni 2022. Den Fahrer des Wagens hat die Polizei kurz nach der Tat festgenommen. Es soll sich um den 29-jährigen Deutsch-Armenier Gor H. handeln, der in Berlin lebt. Doch ob er vorsätzlich in die Menschenmenge gerast ist oder es sich um einen medizinischen Notfall wie im September 2019 handelte, kann die Polizei noch nicht beantworten. Damals hatte ein SUV-Fahrer am Steuer einen epileptischen Anfall erlitten und das Gaspedal mitten in der Stadt voll durchgedrückt. Vier Menschen wurden auf einem Gehweg in der Invalidenstraße getötet.
Ein Todesopfer hat die Autofahrt an der Gedächtniskirche an diesem Mittwoch gefordert. Berlins Innensenatorin Iris Spranger (SPD) hat inzwischen bestätigt, dass es sich dabei um eine Lehrerin aus dem hessischen Bad Arolsen handelt, die mit ihren Schülern auf Klassenfahrt in Berlin war. Sechs weitere Menschen schweben in Lebensgefahr. Drei Menschen wurden schwer verletzt. Unter den Verletzten befinden sich zahlreiche Schülerinnen und Schüler der hessischen Klasse, ein weiterer Lehrer ist schwer verletzt. Laut Innensenatorin Spranger würden die Schüler psychologisch betreut.
Eine Stunde nach dem Vorfall ist die Gegend um die Gedächtniskirche abgesperrt. Ein Polizeihubschrauber kreist über dem Ort des Geschehens. Schaulustige säumen die Straßen. Viele der Läden haben geschlossen. Vis-a-vis der H&M-Filiale läuft eine Frau und filmt. "Da ist er durchgebrettert", sagt sie in ihr Handy. Ümran, 50, wohnt gleich um die Ecke. Sie sagt, es sei ihr freier Tag. Shoppen und dann beten in der Gedächtniskirche, das sei ihr Plan gewesen. Die Worte sprudeln aus ihr heraus, plötzlich kippt ihr die Stimme weg.
Plötzlich schießen ihr die Tränen ins Gesicht
Ümran sagt, sie habe bei H&M Klamotten anprobiert, als ein Knall ihren Einkaufsbummel beendete. Schreie. Plötzlich sei alles voller Menschen gewesen. Ümran schießen jetzt Tränen ins Gesicht, mit spitzen Fingern korrigiert sie ihr verwischtes Make-up. Sie sagt, auch den Terroranschlag 2016 habe sie am Rande erlebt. Ihre Freundin habe einen Stand auf dem Weihnachtsmarkt gehabt, nur 20 Meter von der Stelle entfernt, wo der Sattelschlepper eine Spur der Verwüstung hinter sich herzog und Menschen überfuhr. "Die Bilder waren sofort wieder da", sagt sie.
Die Frau steht unter Schock, wie die meisten, die dabei waren, als an diesem Mittwoch ein Mann in eine Menschenmenge raste. Als er dann noch einmal Vollgas gegeben haben soll und mit dem Wagen in eine Douglas-Filiale krachte. Als er weglaufen wollte und nur durch Passanten – Zeugen seiner Tat – festgehalten werden konnte, bis wenig später die Polizei eintraf. Der Mann habe unter Schock gestanden, heißt es bei der Polizei.
Sie lotst die Zeugen zur Vernehmung in die Gedächtniskirche. Biagio Viti sitzt mit drei Dutzend Menschen auf Bänken. Jemand bietet ihm einen Schluck zu trinken an. Ein Pastor redet beruhigend auf die Menschen ein. Er schaut in versteinerte Gesichter. Manche sind noch wie gelähmt vor Schreck. Der Tod brach plötzlich in ihr Leben ein. Sie können immer noch nicht glauben, was gerade geschah. Eine junge Berlinerin sagt, das Nummernschild des Todesfahrers sei vor ihren Füßen gelandet, vor der H&M-Filiale. Schüler aus Hessen hätten erlebt, wie ihre Lehrerin vor ihren Augen schwer verletzt wurde. Erste Hilfe zu leisten, habe sich die Frau nicht getraut. Sie habe sich aber um die nicht-verletzten Mädchen gekümmert, die verstört auf dem Boden saßen.
Biago Viti ist untröstlich. Seine linke Hand steckt noch immer in einem blauen Plastikhandschuh. Den trägt er eigentlich bei der Arbeit, in der Pizzeria seines Freundes. Heute hat er ihn sich übergestreift, als er sah, wie ein Mensch nach dem anderen auf dem Bürgersteig umfiel. Er sagt, ihren Anblick werde er nie vergessen. Ihre verrenkten Körper. Und dann das viele Blut. Deshalb hat er den Handschuh angezogen. Zusammen mit anderen Passanten habe er versucht, einen jungen Mann wiederzubeleben. Herzdruckmassage. "Der Mann hatte keinen Puls mehr." Biagio Viti zieht sich den Plastikhandschuh aus. Er fährt nach Hause, aber auch dort findet er keine Ruhe. Er sagt: "In meinem Kopf geht alles durcheinander."
- Reporter vor Ort
- Mit Material der Nachrichtenagentur dpa
- Mit Material der Nachrichtenagentur afp