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Amokfahrt von Berlin: Wie sich die Gesellschaft vor schizophrenen Tätern schützen kann


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Psychisch kranke Täter
"Da vorn ist der Teufel, den musst Du umbringen"

InterviewVon Antje Hildebrandt

Aktualisiert am 11.06.2022Lesedauer: 6 Min.
Gor H.: Bei seiner Festnahme schrie er um Hilfe.Vergrößern des Bildes
Gor H.: Bei seiner Festnahme schrie er um Hilfe. (Quelle: Twitter)
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Nach der Amokfahrt von Berlin, die ein Todesopfer und mehrere Schwerverletzte forderte, wurde der Täter in die Psychiatrie eingeliefert. Vermutlich ist er schizophren und deshalb nicht schuldfähig. Wie kann sich die Gesellschaft vor solchen Tätern schützen?

Ulrich Warncke ist Opferanwalt. Sein bekanntester Fall war die Familie, deren achtjähriger Sohn im Juli 2019 von einem schizophrenen Eritreer vor einen ICE gestoßen wurde. Im Interview mit t-online fordert er, die Täter müssten besser vor sich selbst und die Gesellschaft besser vor den Tätern geschützt werden.

t-online: Herr Warncke, Sie haben in den vergangenen 20 Jahren schon viele Menschen vertreten, die Opfer schizophrener Gewalttäter wurden. Passt der Fall des Berliner Amokfahrers Gor H. in dieses Raster?

Ulrich Warncke: Ja, in meiner Praxis erlebe ich es immer häufiger, dass Gewaltstraftaten von Menschen begangen werden, die an einer paranoiden Schizophrenie leiden. Aber dass so viele Menschen zu Schaden gekommen sind, das ist schon sehr ungewöhnlich.

Augenzeugen haben uns berichtet, der Mann sei gezielt in eine Menschenmenge gerast und habe Gas gegeben. Nachdem seine Fahrt in einer Douglas-Filiale geendet hatte, erlebten Passanten aber einen Mann, der um Hilfe gerufen haben soll. Wie passt das zusammen?

Dieses Verhalten passt ins Bild bestimmter Erkrankungen. Wenn es stimmt, dass der Mann an einer paranoiden Schizophrenie erkrankt ist, dann leidet er ja selbst ungeheuer unter seiner Krankheit. Meine Empathie gilt in erster Linie den Opfern, aber man muss zur Kenntnis nehmen, dass diese Menschen auch selbst unter ihrer Krankheit leiden.

Heißt das, er hat keine Kontrolle mehr über sich?

Genau, ich gehe davon aus, dass jemand, der so etwas macht, fremdgesteuert ist. Ein Symptom der Schizophrenie ist ja, dass die Erkrankten Stimmen hören, die ihnen befehlen, bestimmte Taten zu begehen. Und in diesem Fall hat die Stimme dem Mann vielleicht befohlen: "Da vorne ist der Teufel, den musst Du umbringen. Sonst wird er die Menschheit ins Verderben stürzen."

Warum hat er am Ende selbst um Hilfe gerufen?

Ich kann da nur spekulieren. Diese Menschen erleben psychotische Schübe. Möglicherweise hat der Täter nach dem Abklingen eines psychotischen Schubs erkannt, was er angerichtet hat. Und dass er Hilfe braucht.

Gor H. hat mit seiner Mutter und seiner Schwester zusammengelebt. Nachbarn beschreiben ihn als freundlich. Wie passt das zusammen?

Jede Schizophrenie äußert sich unterschiedlich – und schubweise. Natürlich gibt es unter den Erkrankten auch empathische Menschen, die Kinder und Familie haben. Nehmen Sie den Mann, der 2019 den achtjährigen Leo vor den ICE im Frankfurter Hauptbahnhof gestoßen hat. Der hatte selbst zwei Kinder und wurde von Kollegen als hilfsbereit und freundlich beschrieben. Diese Krankheit bricht übrigens oft erst im Erwachsenenalter aus.

Wodurch?

Es ist häufig so, dass die Krankheit getriggert wird, einmal durch Drogen – und dann eben auch durch traumatische Erlebnisse, wie sie zum Beispiel im Krieg oder bei Flucht auftreten. Aber auch Schicksalsschläge wie der Verlust eines nahen Angehörigen können den Ausbruch einer Schizophrenie verursachen.

Gor H. war polizeibekannt. Er soll 21 Einträge in seiner Polizeiakte haben, unter anderem wegen Diebstahls und Körperverletzung. Er soll zweimal in psychiatrischer Behandlung gewesen sein, 2013 und 2014. Hätte Polizisten oder Richtern schon früher auffallen müssen, dass dieser Mann eine Gefahr für sich und andere ist?

Natürlich. Aber solange da kein Mord begangen wird, wird der Täter in der Regel aus der Psychiatrie wieder entlassen. Das ist genau das Problem. Ca. ein Prozent der Menschen erkranken irgendwann im Laufe ihres Lebens an Schizophrenie. Nach einer Statistik von 2012 werden aber 13 Prozent der Gewalttaten von Schizophrenen verübt. Mein Eindruck ist: Die Zahl dieser Gewalttaten hat sich in meiner Kanzlei seither verdoppelt.

Können Sie das statistisch belegen?

Nein, es ist nur meine subjektive Wahrnehmung, aber ich tausche mich auch mit der Mordkommission K 11 in Frankfurt aus. Auch dort hat man den Eindruck, dass die Straftaten durch Schizophrenie erheblich zugenommen haben. Ich würde mir wünschen, dass die Wissenschaft das mal bundesweit empirisch erfasst.

Die Direktorin der Klinik für Psychiatrie in der Charité würde Ihnen da widersprechen. Sie hat nach der Amokfahrt betont, dass psychisch Kranke nicht gewaltbereiter sind als Gesunde.

Ich möchte der Psychiaterin da gar nicht widersprechen. Wenn sie von psychisch Kranken spricht, sind damit ja alle gemeint, zum Beispiel auch Depressive. Ich rede aber speziell von Schizophrenen, die gewaltbereit sind. Und 87 Prozent der Schizophrenen sind nicht gewaltbereit.

Sie haben vor einiger Zeit eine Frau vertreten, die von einem schizophrenen Gewalttäter beinahe getötet worden wäre. Sie hat den Staat in Gestalt einer Richterin verklagt, die den Mann entgegen ärztlicher Warnungen aus der Psychiatrie herausgelassen hat. Fehlt es Richtern an Fachwissen, um solche weitreichenden Entscheidungen zu treffen?

In der Ausbildung wird das gar nicht gelernt, das ist "training on the job". Bei einem so weitreichenden Eingriff in die Freiheitsrechte ist das natürlich ein Unding. Es geht darum, welches Recht man höher einschätzt: das Recht auf Krankheit oder das Recht der Gesellschaft auf den Schutz vor kranken Tätern. In diesem Fall hätte die Richterin einfach auf die Ärzte hören müssen. Die hatten darauf hingewiesen, dass der Mann schon einige Male zwangseingewiesen wurde und nach jeder Entlassung wieder straffällig geworden ist.

Es ist eine wahnsinnig schwierige Entscheidung. Und was passieren kann, wenn Richter einen psychisch Kranken zu Unrecht in die Psychiatrie einweisen, hat der Fall Mollath gezeigt. Der kam nach sieben Jahren wieder frei.

Ich plädiere ja auch gar nicht dafür, dass alle Straftäter lebenslänglich in die Psychiatrie sollen. Kein Mensch kann Zustände wie im Dritten Reich wollen. In Paragraph 63 des Strafgesetzbuches steht, dass, wenn jemand aufgrund einer psychischen Krankheit eine Gefahr für die Allgemeinheit ist, in die Psychiatrie kommt – allerdings nur so lange, bis er keine Gefahr mehr ist. Aber seit der Entlassung Mollaths sind die Richter vorsichtiger geworden sind und lassen Straftäter im Zweifelsfall eher raus.

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Würde das die von Ihnen behauptete Zunahme der Gewalttaten erklären?

Das kann gut sein. Ich erkläre mir die Zunahme damit, dass Drogen, die solche Erkrankungen triggern können, immer gesellschaftsfähiger werden und dass Menschen nach Deutschland einwandern, die traumatische Erlebnisse mitbringen, zum Beispiel durch Flucht- oder Bürgerkriegserfahrungen.

Was fordern Sie jetzt von der Politik?

Sie muss die Voraussetzungen dafür schaffen, dass der Schutz der Allgemeinheit mehr Gewicht bekommt. Wenn jemand als gefährlich eingestuft wird, muss er auch ohne seine Einwilligung mit Psychopharmaka behandelt werden.

Dagegen wehren sich viele Erkrankte. Warum?

Diese Psychopharmaka sind zwar keine chemischen Keulen mehr wie noch vor zwei Generationen, sie haben aber immer noch erhebliche Nebenwirkungen. Sie dämpfen die Vitalität und die Libido, die meisten nehmen zu. Das führt dazu, dass viele Erkrankte diese Medikamente weglassen, sobald sie draußen sind.

Wie kann man das verhindern?

Eine Möglichkeit wäre, ihnen bei der Entlassung Drei-Monats-Spritzen zu geben. Sie müssten nachweisen, dass sie auch danach regelmäßig ihre Medikamente nehmen.

Klingt brutal.

Das stimmt. Aber jetzt kommen wir wieder zurück zu dem Amokfahrer von Berlin, der gerufen hat: "Helft mir!" Ich glaube nicht, dass das eine Show war. Der leidet unter den Folgen seiner Krankheit. Es geht also nicht nur um den Schutz der Bevölkerung ....

... sondern auch um den Schutz der Kranken vor sich selbst?

Ja, wer schizophren ist und gerade einen Krankheitsschub erlebt, der hat keinen freien Willen mehr.

Gor H. sitzt jetzt nicht in Untersuchungshaft, sondern in der Psychiatrie. Heißt das, er ist schuldunfähig?

Es spricht vieles dafür, dass er für schuldunfähig erklärt und von der Tat freigesprochen wird und vom Gericht in die Psychiatrie eingewiesen wird.

Was würde das für die Opfer und Hinterbliebenen bedeuten?

Es wäre eine absolute Katastrophe. Vielen Menschen fehlt ja das Wissen um die Leiden dieser Menschen. Viele unterstellen den Tätern, sie würden nur simulieren, um einer Bestrafung zu entkommen. Dass die Täter in der Psychiatrie statt im Gefängnis landen, lässt sich schwer mit ihrem Rechtsempfinden vereinbaren.

Wir bedanken uns für das Gespräch.

Verwendete Quellen
  • Interview mit Ulrich Warncke
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