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Köln: Axel Reitz war der "Hitler von Köln" – dann stieg der Neonazi aus


Spitzname "Hitler von Köln"
Ex-Neonazi Reitz: "Szene ist wie 'Game of Thrones', nur schlechter"

InterviewVon Nils Frenzel

27.06.2023Lesedauer: 8 Min.
Interview
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Der Gesprächspartner muss auf jede unserer Fragen antworten. Anschließend bekommt er seine Antworten vorgelegt und kann sie autorisieren.

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Axel Reitz am Kölner Rheinufer: Der 40-Jährige hat gerade ein Buch veröffentlicht.Vergrößern des Bildes
Axel Reitz am Kölner Rheinufer: Der 40-Jährige hat gerade ein Buch veröffentlicht. (Quelle: Nils Frenzel)

Axel Reitz war hochrangiger Neonazi und wurde "Hitler von Köln" genannt. Im Interview erklärt er, wie er sich radikalisierte und warum er ausgestiegen ist.

Anfang der 2000er-Jahre war Axel Reitz ein prominentes Gesicht der Kölner Neonazi-Szene und Mitglied der NPD. Der heute 40-jährige, geboren in Dormagen, trat bei Demos und Veranstaltungen mit einem Seitenscheitel und einem schwarzen Ledermantel auf und erhielt dafür in Medienberichten den zweifelhaften Spitznamen "Hitler von Köln".

Nach zwei Inhaftierungen trat Reitz schließlich aus der Szene aus. Heute engagiert er sich im Kampf gegen Extremismus, besucht dafür unter anderem Schulklassen. Gerade erschien sein Buch "Ich war der Hitler von Köln – Mein Weg aus der Neonaziszene und wie Extremismus effektiv bekämpft werden kann". t-online hat Reitz in Köln zum Gespräch getroffen.

t-online: Herr Reitz, in Ihrem Buch beschreiben Sie, dass Sie erstmals in der Schulzeit mit rechtsextremem Gedankengut in Berührung kamen. Wie ist das passiert?

Axel Reitz: Wir haben in der achten Klasse ein Jugendparlament gegründet. Ich habe vorbereitend dazu Parteiprogramme der kleineren, nicht im Bundestag vertretenen Parteien vorgestellt, auch die Programme der Republikaner, der DVU und der NPD. Noch vor meiner Präsentation sagte mir meine Lehrerin, dass ich diese drei Parteien von meiner Collage entfernen müsse, da sie ihnen keine Plattform geben wolle. Das konnte ich nicht nachvollziehen. Schließlich hatte ich die Adressen vom Bundeswahlleiter bekommen und sie durften zur Bundestagswahl wie alle anderen Parteien auch antreten. Warum durfte ich sie also nicht im Unterricht vorstellen?

Für Sie eine Art von Zensur.

Ich war ziemlich genervt, denn das Verhalten meiner Lehrerin erinnerte mich an das meines Vaters. Seine Meinung war Gesetz, und Widerspruch wurde einfach nicht beachtet. Wenn er damals zu mir gesagt hätte, die Erde sei eine Scheibe, hätte ich die komplette Nasa vorschicken können, und er hätte trotzdem auf seiner Meinung bestanden. Argumentativ konnte ich mich zu Hause nie durchsetzen.

Und auch in der Schule hatte ich nun das Gefühl, mir wurde über den Mund gefahren. Meine Lehrerin diskutierte nicht, sondern ging einfach zur Tagesordnung über. Damit wollte ich mich nicht zufriedenstellen und schilderte den Parteien, was im Unterricht passiert war. Daraufhin lud mich ein Kreisverband der NPD zum Stammtisch nach Köln ein. Eine Einladung, die ich gerne annahm.


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Es wurde applaudiert und ich wurde ernst genommen. Das war genau das, was ich mir immer gewünscht hatte.


Axel Reitz


Wie ging es dort weiter?

Der Stammtisch war eher unspektakulär. Da saß ein Haufen älterer Herrschaften und nur wenige Jugendliche. Es wurde viel über den Wahlkampf der NPD und über Parteistatuten geredet. Da bin ich fast eingeschlafen. Aber ganz am Ende sagte der Vorsitzende, dass heute ein besonderer Gast hier sei, und stellte mich vor.

Er lobte mich für mein Interesse und dafür, dass ich heute hier sei, um mir selbst ein Bild zu machen. Es wurde applaudiert, und ich wurde ernst genommen. Das war genau das, was ich mir immer gewünscht hatte. Ich bin dann nach Hause gegangen und konnte mir nicht erklären, was so schlimm an dieser Partei sein sollte. Ich kam wieder.

Wie hat Ihr Umfeld darauf reagiert?

Meine Kumpels in der Schule waren genervt. Die nahmen das auch nicht richtig ernst. Manche baten mich, mit unserer Lehrerin über Politik zu diskutieren, weil diese Gespräche den Unterricht angenehm verkürzten. Auch mit meinen Eltern gab es immer wieder Streit über mein neues Betätigungsfeld. Das ging so weit, dass ich mit 16 Jahren vor die Tür gesetzt wurde.

Da war ich bereits "Schrittmacher" bei den Rechtsextremen, jemand, der sein Gesicht zeigte, organisierte und plante, dadurch wurde ich natürlich schnell zur Zielscheibe für Linksextremisten. Es wurden Flugblätter über mich verteilt, Farbbeutel flogen auf das Haus meiner Eltern und ich wurde zum Ortsgespräch. Auch die Polizei schaute jetzt öfter vorbei. Das war für meine Eltern sehr schlimm und sie wussten keine andere Lösung mehr, als mich hinauszuwerfen.

Der Rauswurf passte mir aber ganz gut. Ich hatte keinerlei Ziele, eine gute Ausbildung zu machen oder einen guten Job zu finden. Ich verstand mich als Vollzeitaktivist im Kampf gegen das "System".


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Wir verstanden uns als Opfer. Das Vorgehen gegen uns war in unserer Wahrnehmung systematisch.


Axel Reitz


Richtig aktiv wurden Sie dann im Bundestagswahlkampf 1998.

Zu dieser Zeit wurde ich das erste Mal auf den Kölner Straßen aktiv. Ich sammelte Unterschriften und hing Plakate auf. Als ich eines Abends am Rudolfplatz plakatierte und auf einer Leiter stand, spürte ich plötzlich einen stechenden Schmerz in meinem Rücken. Ein vermummter Radfahrer hatte mir ein Messer in die Seite gerammt und "Scheiß Nazis!" skandiert.

Das führte allerdings nur dazu, dass ich eine noch massivere "Jetzt-erst-recht-Haltung" einnahm. Mein Ziel war es, Ungerechtigkeit zu bekämpfen, und dass ich angegriffen wurde, empfand ich natürlich als Ungerechtigkeit. Auch dass wir uns als NPD in der Berichterstattung kaum wiederfanden und unsere Plakate zerstört wurden, war Wasser auf unsere Mühlen. Wir verstanden uns als Opfer. Das Vorgehen gegen uns war in unserer Wahrnehmung systematisch. Diese Art von Opferdarstellung ist bis heute ganz wichtig im Rechtsextremismus.

In den 2000er-Jahren wurden Sie eine der zentralen Figuren der "Freien Kameradschaften" und einer der Mitbegründer der "Autonomen Nationalisten". Welche Rolle füllten Sie hier aus?

Ich war sehr laut, ständig im Einsatz für meine "Sache" und immer vorne dabei. Außerdem war ich ein gern gesehener Redner, fähiger Organisator und ein richtiger Demotourist, der weg von der eingestaubten NPD wollte. Wenn irgendwo eine Veranstaltung der Szene war, war ich da. Fand keine statt, organisierte ich selbst eine.

Das war wichtig, denn wenn wir irgendwo auftauchen, berichtet die Presse über uns. Das war damals schon ein Konzept, dem auch die AfD bis heute folgt: maximale Aufmerksamkeit durch maximale Provokation zum Zwecke der maximalen Selbstinszenierung. Das ging so weit, bis die Presse mich als "Hitler von Köln" bezeichnete.

Dabei war es auch mein Ziel, die Szene diverser zu machen. Ich wollte weg vom Klischeebild des Rechtsextremisten mit Springerstiefeln und Glatze und machte mich dafür stark, auch gegenüber anderen Jugendkulturen anschlussfähig zu sein. Zu uns sollten auch Jugendliche mit Piercings und langen Haaren kommen können, die die Punkband "Slime" oder "Die Ärzte" hörten. Mich interessierte nicht, was jemand für einen privaten Geschmack hatte, solange er sich politisch in unserem Sinne betätigte.

Wir warben auf meine Initiative hin auch mit eher linken Themen: einem krassen Antiamerikanismus, Antikapitalismus, Solidarität mit Palästina oder auch Tierschutz und wurden so für viele Jugendliche interessant, die sich nie für klassische Themen der rechten Szene interessiert hätten.

Trotzdem haben Sie sich intern überworfen.

Die interne Struktur der Szene war und ist ein wenig wie "Game of Thrones", nur viel schlechter. Ich sage gerne: Der Traum eines jeden Neonazis ist "ein Volk, ein Reich, ein Führer". Die Realität der Neonaziszene ist jedoch: "kein Volk, kein Reich, aber 1.000 Führer".

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Außerdem war ich kontrovers, sagte beispielsweise, dass es mir egal sei, ob jemand homosexuell ist, solange er für unsere Überzeugungen eintritt. Das war für viele ein Problem. Schließlich wurde ich 2005 wegen einer antisemitischen Hetzrede angeklagt und musste 21 Monate ins Gefängnis. Das bestärkte mich noch einmal massiv in meinem Irrglauben, ich wäre ein politisch Verfolgter. Nach der Entlassung ging es also erst einmal weiter wie zuvor: Demos, Kundgebungen, Kameradschaftsabende, Versammlungen, Strategie-Besprechungen. Ein ewiger Kreislauf, der mich langsam zu zermürben begann.

Damals hätte ich es mir nie eingestanden, aber ich begann immer mehr an dem Bild zu zweifeln, das ich in meinem Kopf von der Szene und der Welt an sich zurechtgelegt hatte. Als mit Thomas Brehl eine sehr wichtige Bezugsperson aus der Szene starb, war ich noch zusätzlich demotiviert und kam ins Grübeln. Ich hatte ja selbst gesehen, welches trauriges Leben er geführt hatte. Er starb als einsamer Sozialhilfeempfänger und seine gesamte Existenz hatte sich über viele Jahre hinweg immer nur in zwei Straßen seiner Heimatstadt abgespielt, während sein ganzes Leben an ihm vorbeirauschte. Für schwachsinnige Überzeugungen.

Außerdem hatte ich mittlerweile das Bedürfnis nach Dingen, die in meiner Wahrnehmung damals dekadent waren, wie gutes Essen, Opernbesuche oder teure Kleidung. Ich wollte irgendwann nicht mehr auf Demonstrationen fahren und meinen Hass hinausschreien.

2012 wanderte ich noch mal ins Gefängnis. Ich wurde der Unterstützung einer als krimineller Vereinigung angeklagten Neo-Nazi-Gruppe in Rheinland-Pfalz angeklagt und wanderte in U-Haft. Das war für mich der Punkt, an dem ich realisierte: So kannst Du und so willst Du nicht mehr weitermachen. Es war Zeit, einen Schlussstrich zu ziehen und das tat ich, indem ich mit den Behörden kooperierte. Ein unverzeihliches Vergehen in der Szene. So wurde ich vom "Hitler von Köln" zum "Judas von Köln" und war für meine alten "Kameraden" vogelfrei.


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Ich freue mich über jeden einzelnen Menschen, den ich erreichen und davor bewahren kann, dieselben schwerwiegenden Fehler in seinem Leben zu begehen, die ich in meinem begangen habe.


Axel Reitz


Ist Ihnen Ihr Ausstieg schwergefallen?

Im ersten Moment nicht. Ich habe aber auch jeden Kontakt rigoros abgebrochen und die Szene selbst begann Kübel von Dreck über mir auszukippen und mich massiv verächtlich zu machen. Ich war draußen und für die Szene jetzt ein "Feind". Das hat es mir sehr einfach gemacht, meinen Blick auf Dinge zu fokussieren, die ich in meinen 15 Jahren als Neonazi komplett verkümmern ließ: Familie, Freundschaften, Hobbys, Arbeit und Verdienst.

Und ich konnte mir die Frage stellen: Wer bist du eigentlich und was willst du aus deinem Leben machen? Für mich war ich bis dahin ein guter Mensch, weil ich ein guter Aktivist war. Der Nazi war für mich identisch mit dem Menschen. Das Private war bei mir immer politisch. Aber als die Politik wegfiel? Wer war ich dann eigentlich? Es entstand eine Leere.

Was half Ihnen beim Ausstieg?

Ich habe ein paar alte Schulfreunde wieder getroffen und auch mit einigen Journalisten über normale Themen gesprochen. Außerdem suchte ich Kontakt zu einem anderen ehemaligen Rechtsextremen, der zeitgleich mit mir die Szene verlassen hatte und mir ein Aussteigerprogramm empfahl. Ein Tipp, für den ich bis heute dankbar bin. Dort stellte ich mir das erste Mal in meinem Leben elementare Fragen, die ich bis dahin immer verdrängt hatte. Was ist familiär bei dir vorgefallen? Was ist deine Eigenverantwortung gewesen? Was ist deine Schuld? Warum bist du dabei geblieben, obwohl du schon schnell gemerkt hast, dass nicht alles rund läuft?

So was braucht natürlich Zeit, viel Zeit. Die mir gegeben wurde. Auch von meiner zweiten wichtigen Stütze bei meinem Ausstiegsprozess: dem Landespfarrer Andrew Schäfer von der Evangelischen Kirche im Rheinland, der sich nach meinem Interview im "heute-journal", in dem ich meinen Ausstieg bekannt gegeben hatte, bei mir gemeldet und seine Hilfe angeboten hatte. Auch er half mir in Jahren der Aufarbeitung und Betreuung dabei, zu verstehen, was mit mir los war. Vor allem habe ich aber gelernt, nicht länger mit dem Finger auf andere zu zeigen, sondern auf mich selbst.

Ein Ausstieg ist immer ein langer Prozess, ein Marathonlauf. Heute sage ich immer, dass Menschen, die aus einer extremistischen Szene aussteigen, unbedingt Hilfe in Anspruch nehmen sollten. Ganz gleich, ob es ein Therapeut oder ein Aussteigerprogramm ist. Die Last, die nach einem Ausstieg auf den Schultern ruht, ist oft so ein dicker Brocken, dass man es kaum alleine schafft, ihn abzutragen.

Worin bestehen heute Ihre Aufgaben?

Heute engagiere ich mich in der Bildungsarbeit für die Extremismus-Prävention, betreibe einen erfolgreichen YouTube-Kanal, in dem ich auch mit anderen Aussteigern zusammen über extremistische Szenen aufkläre, halte Vorträge und Workshops zum Thema Deradikalisierung. Ich arbeite außerdem an Schulen, bin zertifizierter Anti-Gewalt-Trainer und Deeskalations-Coach.

Es gibt immer wieder auch aktive Rechtsextreme, die mich anschreiben und Rat suchen, wenn sie mit dem Gedanken spielen, auszusteigen. Hier bin ich ein Ansprechpartner, der schnell und unkompliziert den Kontakt zu staatlichen Aussteigerprogrammen herstellen kann. Ich freue mich über jeden einzelnen Menschen, den ich erreichen und davor bewahren kann, dieselben schwerwiegenden Fehler in seinem Leben zu begehen, die ich in meinem begangen habe.

Verwendete Quellen
  • Gespräch mit Axel Reitz
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