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Köln: Vernachlässigtes Mädchen (5) lebte zwischen Ungeziefer und Müll


Prozess in Köln
Abgemagertes Mädchen lebte zwischen Ungeziefer und Müll

Von Johanna Tüntsch

Aktualisiert am 24.04.2021Lesedauer: 4 Min.
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Die Angeklagte sitzt zwischen Anwälten im Gerichtssaal: Der 24-jährigen Mutter eines fast verhungerten Mädchens wirft die Staatsanwaltschaft versuchten Mord vor.Vergrößern des Bildes
Die Angeklagte sitzt zwischen Anwälten im Gerichtssaal: Der 24-jährigen Mutter eines fast verhungerten Mädchens wirft die Staatsanwaltschaft versuchten Mord vor. (Quelle: Oliver Berg/dpa)

In Köln stehen eine Mutter und ihr Partner vor Gericht, sie sollen ein Kind stark vernachlässigt haben. Nun sagte ein Polizist in dem Fall aus – und berichtete vom schlimmen Zustand der Familienwohnung.

Im Prozess um eine fast verhungerte Fünfjährige traten weitere Zeugen auf. Die Aussage eines Polizisten im Verfahren um das fast verhungerte Mädchen aus Bergheim wirft vor allen Dingen eine Frage auf: Wie kann es sein, dass Mitarbeiter des Jugendamtes nicht viel früher auf die vollkommene Verwahrlosung reagierten, in der hier zwei Kinder aufwuchsen? Immerhin liegen zwischen ihrem letzten Ortstermin und dem Zeitpunkt, als der Ermittler die Wohnung in Niederaußem betrat, nur zwei Wochen.

Diese Zeit dürfte kaum ausgereicht haben, um ein Schlachtfeld zu erzeugen, wie es die Polizisten vorfanden, als sie mit einem Haft- und Durchsuchungsbefehl am 8. September 2020 die Räumlichkeiten betraten, um die Mutter des Kindes und ihren Lebensgefährten festzunehmen. Gegen beide läuft jetzt vor dem Landgericht ein Verfahren wegen versuchten Mordes.

"Das Gäste-WC war nicht zu benutzen, denn es war hüfthoch mit Müll vollgestellt. Hinter der Küche gab es noch eine Abstellkammer, die ebenfalls mit Unrat vollstand", beschrieb der Zeuge den Zustand der Wohnung. Fliegen und Wespen habe es dort massenhaft gegeben – teils bereits verendet, teils lebend. Im Zimmer des kleinen Mädchens fielen zahlreiche tote Insekten vom Rollo, als die Einsatzkräfte dieses nach oben zogen: "Das war wohl schon länger nicht mehr geöffnet worden", vermutete dazu der Zeuge.

Die Räume hätten unterschiedlich gerochen – womit, wie seiner folgenden Beschreibung zu entnehmen war, unterschiedliche Arten von Gestank gemeint waren: nach verdorbenen Lebensmitteln, Marihuana, alter Wäsche, Schweiß und Tierkot.

Maden, Flöhe und viele Fliegen

Im Wohnzimmer lebten in einem verdreckten Käfig zwei Frettchen, die kaum Wasser und Futter, dafür aber Flöhe hatten. "Ich bin kein Frettchen-Experte, aber die Tiere haben wir zu ihrem Schutz mitgenommen und der Feuerwehr übergeben", gab der Beamte an, der die Wohnung zu Beginn seiner Aussage trotz all dieser Details zunächst als "mittelmäßig sauber" beschrieb.

Bei der Sichtung von über 130 Fotos der damaligen Lage vor Ort wurde schnell klar, dass die Situation keinesfalls besser, sondern eher viel schlimmer gewesen war, als er sie nun in Erinnerung hatte. "Eine Müllhalde, die auf Dauer gewachsen ist?", fragte die Vorsitzende Richterin Sabine Kretzschmar. So könne man das wohl sagen, meinte der Zeuge. In der Küche stapelten sich verdorbene Essensreste und schmutziges Geschirr, auf dem sich bereits zahlreiche Maden ausgebreitet hatten. "Hier ein besonders prächtiges Exemplar", kommentierte die Vorsitzende trocken beim Anblick eines Fotos, das eines der Tiere zeigte.

Diätpulver statt Lebensmitteln

Die Lebensmittelvorräte in der Küche waren dürftig, stattdessen fanden sich diverse Packungen mit Diätpulver. Im Keller lagerten Nahrungsergänzungsmittel gegen Muskelschwund. An verschiedenen Orten der Wohnung entdeckten die Ermittler Drogen sowie ein Notizbuch, in dem Pläne zur Anlage einer Hanfplantage formuliert waren. Im Zimmer des kleinen Mädchens steckte Kinderkleidung in Müllsäcken, während Kommodenschubladen leer standen.

Auch zur Auswertung des Handys der Angeklagten befragten Richter und Anwälte den Polizisten. "Da gab es über 100.000 Bilder von ihr selbst. In geringerer Zahl waren Bilder von ihrem Sohn dabei, in noch geringerer Zahl Bilder von ihrer Tochter." Außerdem soll sich die Angeklagte den Chatverläufen zufolge mit ihrer Mutter darüber ausgetauscht haben, dass ihre Tochter an Muskeldystrophie leide, zur Vollzeitpflege in einem Heim untergebracht werden müsse und wohl nicht mehr lange leben werde. Ihr neuer Freund habe "schon Angst, dass sie morgens nicht mehr wach wird."

Mädchen machte Entwicklungssprünge in Pflegefamilie

Noch immer ist nicht abschließend geklärt, was zur völligen Unterernährung des kleinen Mädchens geführt hat. Auch die Aussage des Ärztlichen Leiters aus dem Sozialpädiatrischen Zentrum (SPZ) im Rhein-Erft-Kreis brachte dazu keine Klarheit. Schon 2018 war die kleine Patientin hier untersucht worden, erneut dann im November 2020. Damals lebte das Mädchen bei Pflegeeltern. Beide Male wurden Entwicklungsrückstände festgestellt.

Bei einem weiteren Termin im Januar 2021 sei eines auffällig gewesen, nämlich: "Das rasche Aufholen in nur zwei Monaten." Die Verbesserung sei erheblich, die Entwicklung aber noch immer nicht altersgemäß, zum Beispiel differenziere sie nicht wie andere Kinder ihres Alters zwischen Fremden und nahen Bezugspersonen: "Sie suchte schnell körperliche Nähe, auch zu mir." Das, aber auch die mangelnde Sprachentwicklung, könnten Anzeichen dafür sein, dass auch wenig Kommunikation mit dem Kind stattgefunden habe.

Zu den Gründen legte sich der Mediziner nicht endgültig fest. "Wahrscheinlich ist es auch anlagebedingt", sagte er zunächst, gab aber zugleich an, dass sowohl die Ergebnisse der humangenetischen Untersuchung als auch die der Stoffwechseldiagnostik unauffällig waren. "Man muss davon ausgehen, dass dieses Kind über einen längeren Zeitraum nicht körperlich versorgt wurde und dass auch die sozialen Rahmenbedingungen Folgen hatten."

Das leite er aus dem raschen Entwicklungssprung innerhalb von nur zwei Monaten ab, den das Mädchen machte, nachdem es nicht mehr bei seiner Mutter lebte. Nicht bestätigen konnte er, was die Angeklagte im Kindergarten als Grund für die magere Statur ihrer Tochter angegeben hatte, nämlich eine Nahrungsmittelallergie oder fehlendes Sättigungsgefühl: "In der Bereitschaftspflege zeigte sie einen adäquaten Umgang mit Nahrungsmitteln und auch Sättigung", hätten die Pflegeeltern berichtet, bei denen das Kind zeitweise lebte.

"Wie Kaspar Hauser"

"Verstehe ich Sie richtig, dass medizinisch manches offenbleibt, was wir mit derzeitigen Maßnahmen nicht finden können?", wollte die Vorsitzende Richterin wissen. Das bestätigte der Zeuge. Er verwies außerdem darauf, dass die Erfahrungen, die das Kind gemacht habe, wohl in keinem Fall spurlos an ihm vorübergehen würden: "Es wäre spekulativ, jetzt schon über die Folgen zu sprechen. Die Erlebnisse der frühen Kindheit werden aber sehr prägend und tief in dem Kind verwurzelt sein. Es sind bleibende Auffälligkeiten zu erwarten." Wie etwa beim historischen Beispiel des Kaspar Hauser könnten die Folgen früher Vernachlässigung sozialer, emotionaler, kognitiver und motorischer Natur sein.

Verwendete Quellen
  • Beobachtungen und Gespräche im Gerichtssaal
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