Lars Eidinger "Ich bin eher gerade und die ganze Welt ist schräg"
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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Lars Eidinger ist aktuell in seinem neuen Film "All My Loving" im Kino zu sehen. Im Interview für t-online.de sprach er über familiäre Prägungen, was er nicht kann und die Schwierigkeit, zu sich selbst zu finden.
Stefan (Eidinger) ist Pilot, um die 40 und darf aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr fliegen. Statt sein Schicksal zu akzeptieren, klammert er sich an sein altes Leben. Der Film erzählt in leisen Tönen die Geschichte von drei Geschwistern in drei Episoden, die alle an einem Wendepunkt in ihrem Leben stehen. Für t-online.de traf ich den Schauspieler in einem Berliner Restaurant zum Interview.
t-online.de: Herr Eidinger, was hat Sie gereizt, beim Film "All My Loving" mitzuwirken?
Lars Eidinger: Ich kannte Edward Bergers Film "Jack", der mir sehr gefallen hat. Das war der erste Orientierungspunkt, dann habe ich das Buch gelesen und hatte sofort Lust, das zu spielen. Ich entscheide nach dem Lustprinzip. Das ist natürlich ein extremes Privileg, dass ich das überhaupt kann und keinen anderen Zwängen unterworfen bin.
Welche Thematik des Films war für Sie der ausschlaggebende Faktor?
"All My Loving" orientiert sich ein bisschen an "Somewhere" (von Sofia Coppola, Anm. d. Red.). Da ist dieser Typ, der in der Mitte seines Lebens in einer Krise ist und eigentlich völlig aus dem Gleichgewicht gerät. Er hat Probleme mit dem Hören, kann seinen Beruf nicht mehr ausüben, er kreist eigentlich nur um sich selbst, auch dann, als seine Tochter ihn um Hilfe bittet. Jemand, der nicht mehr fliegt, sich aber eine Pilotenuniform anzieht, in Hotelbars setzt und Frauen aufreißt – das fand ich reizvoll. Ich dachte, das macht bestimmt Spaß zu spielen.
Welche Botschaft transportiert der Film für Sie?
Ich glaube eigentlich gar nicht so richtig an eine Botschaft. Das würde ja heißen, man hat etwas rausgefunden, eine Erkenntnis – und das soll dann dazu führen, dass dadurch eine Veränderung eintritt …
Also keine Botschaft?
… das Thema ist schon Familie oder Erziehung, oder das Verhältnis zu den Eltern – wie das die Kinder prägt, beziehungsweise inwieweit wir von den Generationen vor uns geprägt sind. Man sieht es in den jeweiligen Episoden im Film: Die Kinder sind emotional verkümmert, haben alle ein großes Trauma. Man versteht dann am Ende, wo die Konflikte und Problematiken herkommen. Der entscheidende Punkt ist doch, dass der Vater nicht aus Boshaftigkeit handelt, sondern aus Unvermögen. Meine Figur Stefan gibt es ja auch an sein Kind weiter. Das ist – wenn man so will – die Botschaft.
Die Prägungen durch unsere Eltern, unsere Bezugspersonen …
… ich habe manchmal das Gefühl, dass es fatal ist, dass den Menschen die Erziehung so selbstverständlich allein überlassen wird. Dass es so wenig Hilfe gibt, Menschen darüber aufzuklären, welche Konsequenzen bestimmte Verhaltensweisen haben. Zum Beispiel: Wenn du das mit deinem Kind machst, fühlt sich das so für das Kind an oder es passiert dies oder das.
Eine Art Führerschein für Eltern? Wie könnte der aussehen, wenn jedes Kind anders auf Einflüsse reagiert? Ein Kind entwickelt ein Trauma, ein anderes nicht. Deshalb gibt es so etwas vielleicht nicht …
… im Ansatz gibt es so etwas ja schon, wie bei Fernsehformaten wie der "Supernanny". Ich finde das nicht so verkehrt, die kann den Leuten ja schon helfen.
Inwiefern?
Weil man es vor allem manchmal gar nicht weiß, was die Ursache ist. Das äußert sich immer viel später. Ich glaube, das ist wiederum die Ursache für so viele Konflikte und wahrscheinlich ist es letztendlich das, woran man sich sein Leben lang abarbeitet. Nichts anderes erzählt der Film.
Ich meine, ich habe zum Beispiel nicht von irgendjemand erzählt bekommen, wie ich es machen soll …
… mit der Erziehung Ihrer Tochter?
Ja, ich habe das Glück, dass ich mit einer Frau zusammen bin, die mittlerweile als Familientherapeutin arbeitet und dafür ein sehr genaues Gespür hat. Daher weiß ich auch, dass es da Leute gibt, die über dieses Wissen verfügen. Es wird nur nicht richtig geteilt. Jeder denkt, er weiß sowieso von allein, wie man es machen soll – das stimmt aber nicht.
Lars Eidinger, geboren 1976 in West-Berlin, ist ein vielfach ausgezeichneter Theater-, Film- und Fernsehschauspieler, Musiker und DJ. 1999 beendet er seine Ausbildung an der Schauspielschule "Ernst Busch" erfolgreich in derselben Schauspielklasse wie Nina Hoss, Devid Striesow, Mark Waschke und Fritzi Haberlandt. Eidinger ist seit 1999 Ensemblemitglied der Berliner Schaubühne, wo er u.a. seit 2008 Shakespeares "Hamlet" vor dauerausverkauftem Haus aufführt. 2009 wird er durch den Film "Alle Anderen" auch einem größeren Fernsehpublikum bekannt. Im Jahr 2012 überzeugt er als Psychopath im Tatort: "Borowski und der stille Gast" und als Sohn von Corinna Harfouch in dem Familiendrama "Was bleibt". Eidinger spielt 2014 an der Seite von Juliette Binoche in "Die Wolken von Sils Maria" und 2016 neben Kristen Stewart in "Personal Shopper". Im selben Jahr ist er Jurymitglied der 66. Internationalen Filmfestspiele Berlin (Berlinale). 2017 hat er eine Nebenrolle in der Fernsehserie "Babylon Berlin". Im Jahr darauf verkörpert er Bertolt Brecht im Film "Mackie Messer – Brechts Dreigroschenfilm". Seinen größten Publikumserfolg im deutschen Kino hat er im selben Jahr mit der Hauptrolle in "25 km/h". Sein neuer Film "All My Loving" startet am 23.05.2019 in den deutschen Kinos. Lars Eidinger lebt mit Frau und Tochter in Berlin.
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Herr Eidinger, Sie sind extrem vielseitig, arbeiten an so vielen unterschiedlichen Projekten – Theater, Fernsehen, Kino, Hörspiel, spielen in Musikvideos mit, gibt es irgendetwas, was Sie nicht …
… ich mache auch Kunst, im Sommer habe ich meine erste Einzelausstellung im Neuen Aachener Kunstverein NAK.
Was gibt es dort von Ihnen zu sehen?
Videos von mir – und Fotografien.
Regie führen beim Film fehlt noch in der langen Liste von Projekten. Ist in diese Richtung etwas geplant?
Ja, ich schreibe gerade an meinem Drehbuch und will das auch selbst inszenieren.
Oh, verraten Sie mir, worum es geht?
Neee … dann verliere ich irgendwie die Lust am Schreiben, ich habe noch keinem davon erzählt.
Sie schreiben das Drehbuch, führen Regie und spielen auch selbst?
Ja. Es macht mir einfach Spaß, rumzuspinnen, das aufzuschreiben und mir vorzustellen, ich mach das irgendwann. Wenn es erst in fünf Jahren passiert, ist auch okay.
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… aber noch einmal zurück. Gibt es eigentlich irgendetwas, was Sie NICHT können?
Singen! Ich sag zwar mittlerweile immer, dass ich singen kann – was soll's –, aber es stimmt auf jeden Fall nicht, dass jeder singen kann.
Das behaupten doch immer alle, dass das jeder kann – ähnlich ist es mit dem Zeichnen.
Meine Frau ist ja ausgebildete klassische Sängerin. Es ist eine Technik, eher wie Mathematik, bestimmte Töne zu treffen. Entweder, man hat den Ton getroffen oder nicht. Es ist ja messbar – anders als in der Schauspielerei. Singen ist eher wie Hochleistungssport.
Sie singen aber trotzdem …
Für mich hat sich kürzlich ein Kreis geschlossen. Ich habe damals an der Schauspielschule in der Aufnahmeprüfung "Kein Schwein ruft mich an" von Max Raabe gesungen. Das war vor 25 Jahren.
Max Raabe hat mich neulich gefragt, ob ich in seiner MTV Unplugged Show singen will. Wir haben das schon aufgenommen. Ich habe mich total gefreut, weil ich einfach mal behaupten konnte, ich kann singen.
Was fehlt noch? Lars Eidinger als Comic-Figur? Wie wäre das? Ein Interview mit Ihnen, komplett als Comic. Oder sogar eine Comic-Biografie ...
... Tom Tykwer hat mir ein Comic zum Geburtstag geschenkt – über Gérard Depardieu – kennen Sie das?
Nein, ich kenne das über Nick Cave.
Können Sie gut zeichnen?
Nicht gut genug, um Ihnen ein Angebot zu machen … ich würde mich dann frühestens in 10 Jahren noch einmal bei Ihnen melden, Sie sind ja eh zu jung für eine Biografie.
Mein Bruder und ich haben ganz viel gezeichnet, mein Vater behauptet, dass ich nur mit links schreibe, weil ich immer gegenüber von meinem Bruder gesessen und ihm alles spiegelverkehrt nachgemacht habe. Ich bin ja vier Jahre jünger. Ich mach alles mit rechts, ich schreibe nur mit links.
Mein Bruder hat so gut gezeichnet, wenn er an Malwettbewerben teilgenommen hat, kam es immer zurück mit einem kleinen Brief: Es sollten doch bitte nicht die Eltern malen, sondern die Kinder selbst.
Und Sie?
Ich kann nicht so gut zeichnen wie mein Bruder, ich habe aber auch so eine Begabung …
Ich habe es geahnt.
… ich habe als Kind und auch meine ganze Schulzeit sehr viele Comics gezeichnet. Ich hatte so eine Art Agreement mit den Lehrern: Der darf zeichnen, der hört auch so zu. Ich hatte ja auch immer gute Noten.
Viele sehen in Ihnen in erster Linie den schrägen Typen. Sind Sie denn wirklich so schräg?
Nein. Ich sehe mich auch gar nicht als schräg.
Es sind immer die anderen …
Genau, ich bin eher gerade und die ganze Welt ist schräg.
Ich habe mal einen Transsexuellen gespielt, im Polizeiruf – mit Matthias Brandt. Dort waren auch die Statisten größtenteils echte Transsexuelle. Ich habe viel mit ihnen geredet. Wissen Sie, ein Transsexueller möchte keine Frau werden, oder hat ein Faible für Frauenkleidung, ein Transsexueller möchte er selbst werden.
So wie Sie?
Ja, im Grunde ist es bei mir auch so, die Leute denken, ich lege es darauf an, schräg zu sein, weil ich gewisse Sachen anziehe, aber ich versuche einfach nur, bei mir anzukommen.
In der Schule habe ich mich das nicht getraut. Es war ein wichtiger Moment im Leben zu sagen: Ich nehme mir jetzt die Freiheit. Man lässt sich unterdrücken, bekommt komische Kommentare, die einen verunsichern. Dann fängt man an, möglichst wenig Angriffsfläche zu bieten und sich anzupassen. Aber man entfernt sich von sich selbst. Inzwischen habe ich das Gefühl, ich bin viel mehr bei mir, weil ich das auslebe – nur dass das immer so missverstanden wird, die Leute denken, der Typ will irgendwie außergewöhnlich sein, oder anders.
Welche Frage, die Sie gerne mal beantworten würden, wurde Ihnen noch nie gestellt?
Sein oder Nichtsein? Was ist die Antwort auf Sein oder Nichtsein? Was denken Sie?
Hm …
… nee, ich hab's. Es gibt eigentlich zwei Antworten auf die Frage Sein oder Nichtsein?
Ich bin gespannt.
Einmal ist die Antwort: Sein oder Nichtsein.
Oder: Der Rest ist Stille.
Also die Auflösung bei "Hamlet" am Ende – "The rest is silence" – wird ja häufig falsch übersetzt mit: Der Rest ist Schweigen. Aber Schweigen ist ja, wenn Menschen anwesend sind, die nicht sprechen. Daher ist Stille die bessere Übersetzung – denn Stille herrscht ja auch, wenn gar keiner anwesend ist.
Ein schönes Schlusswort. Vielen Dank, Herr Eidinger, für das Interview.
"All My Loving"
116 Minuten
Regie: Edward Berger
Drehbuch: Nele Mueller-Stöfen, Edward Berger
Hauptdarsteller: Lars Eidinger, Nele Mueller-Stöfen, Hans Löw
Kinostart: 23. Mai 2019