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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Marketing-Experte "Das ist bewusste Täuschung und Irreführung"

Manipulative Werbung ist allgegenwärtig – vom Smartphone bis zum Supermarkt. Marketing-Professor Wolfgang Merkle erklärt im Interview, warum dieselben Tricks immer wieder funktionieren und wie man sich vor zu starker Einflussnahme schützen kann.
Die Grenze zwischen cleverer Werbung und manipulativer Beeinflussung ist oft fließend. Jeden Tag werden Menschen mit zahlreichen Werbebotschaften konfrontiert – auf dem Smartphone, im Supermarkt oder beim Online-Shopping. Trotz Aufklärung und Wissen um psychologische Tricks tappen viele Leute in die Fallen geschickter Marketingstrategen.
Wolfgang Merkle kennt beide Seiten: Als Professor für Marketing an der University of Europe for Applied Sciences analysiert er die Mechanismen erfolgreicher Werbung. Zuvor arbeitete er 25 Jahre lang bei Unternehmen wie Otto, Zara und Tchibo. Im Gespräch mit t-online erklärt der Experte, warum selbst er nicht immun gegen Werbestrategien ist und wie man mit der Flut an Kaufimpulsen umgehen kann.
t-online: Herr Merkle, erinnern Sie sich aus Ihrer Kindheit an eine Werbekampagne, die Sie besonders beeindruckt hat?
Wolfgang Merkle: Ich erinnere mich gerne an die Langnese-Kampagne mit dem berühmten Hit "Like Ice in the Sunshine" aus dem Jahr 1985. Musik ist etwas, das uns Menschen besonders emotional auflädt und sich in unseren Köpfen verankert. Eine andere Werbung, die mir immer wieder einfällt, ist die Kampagne von Bacardi – "Summer Dreaming (Bacardi Feeling)" mit Kate Yanai aus dem Jahr 1991. Das ist gute Laune, das sind Töne, die sich aus dem Gedächtnis leicht abrufen lassen und bei denen sofort das Kopfkino startet.
Macht Werbung heute noch genauso einen emotionalen Eindruck wie damals?
Absolut. Auch heute ist Werbung dann besonders herausragend und merkfähig, wenn sie auf Emotionen abzielt. Storytelling spielt eine zentrale Rolle – wir alle können uns wahrscheinlich gut daran erinnern, wenn unsere Eltern uns früher eine Geschichte erzählt haben. Dieses Grundbedürfnis hat sich nicht geändert: Wir Erwachsene sind ja nichts anderes als große Kinder, wir lieben Geschichten und emotionale Erlebnisse. Obwohl die Welt digitaler geworden ist, haben sich unsere psychologischen Reaktionsmuster nicht grundlegend verändert.

Zur Person
Wolfgang Merkle ist Professor für Marketing & Management an der UE – University of Europe for Applied Sciences am Campus Hamburg sowie Präsident des Marketing Club Hamburg. Zudem ist er Inhaber von "Merkle. Speaking. Sparring. Consulting." Er beschäftigt sich mit Entwicklungen im Marketing und Vertrieb, ist Autor zahlreicher Publikationen und häufiger Gesprächspartner auf Veranstaltungen und Beratungsprojekten. Davor arbeitete Merkle mehr als 25 Jahre lang in Führungspositionen von Unternehmen wie Tchibo, Galeria Kaufhof, Zara, Massimo Dutti und Otto.
Lassen Sie sich auch heute noch manchmal von Werbestrategien beeinflussen?
Wir alle glauben ja, immun zu sein gegenüber manipulativer Werbung. Aber eigentlich sind wir als Konsumenten auch dankbar für positive Impulse. Ich selbst gehe gerne einkaufen und lasse mich dabei verführen. Der Samstagseinkauf auf dem Wochenmarkt ist für mich ein Höhepunkt der Woche, weil mich die frischen Produkte, die appetitliche Präsentation und die Düfte inspirieren. Als ich bei Tchibo gearbeitet habe, haben wir unsere Filialteams gebeten, einmal pro Stunde 500 Gramm Kaffeebohnen durch die Mühle laufen zu lassen – das erzeugt einen großartigen Duft, der ein positiv stimulierendes Erlebnis ist. Aus rationaler Sicht müsste man so etwas eigentlich ablehnen, aber wie viel Freude würde uns als Konsumenten dann noch bleiben?
Wo verläuft für Sie die Grenze zwischen geschicktem Marketing und manipulativer Beeinflussung?
Die Grenze beginnt dort, wo die Lüge beginnt, wo falsche Versprechungen gemacht werden oder wenn absichtlich manipuliert wird. Ein Beispiel dafür ist der Volkswagen-Dieselskandal vor etwa zehn Jahren. Man hat etwas behauptet, was aber nur über eine Software erreicht wurde, die auf dem Prüfstand aktiviert wurde. Auf der Straße fuhr der Wagen normal, auf dem Prüfstand wurde die normale Leistung abgeschaltet, um günstigere Werte zu erzielen. Das ist eine eindeutige Lüge und damit manipulativ – eine Vortäuschung von Tatsachen, die inakzeptabel ist.
Gibt es bestimmte Branchen, bei denen Sie Werbung besonders kritisch sehen?
Besonders kritisch sehe ich Marketingmaßnahmen bei Produkten, die nachweislich der Gesundheit schaden können – Alkohol, Zigaretten oder zuckerhaltige Lebensmittel. Gerade Zucker gilt ja als das neue Tabakproblem. In einer solchen Situation würde ich als Marketingchef sensibler agieren. Gleichzeitig finde ich es ethisch grenzwertig, wenn Organisationen mit einem positiven Image ihre Stellung ausnutzen. Ein Beispiel: Greenpeace wirbt aktuell mit einer Kampagne für ein "Grünes Testament", wo sie aktiv Menschen umwerben, ihnen im Sterbefall ihr Vermögen zu vermachen. Eine Organisation, die für etwas Positives steht und normalerweise auf Spenden basiert, fordert nun aktiv Erbschaften ein – das finde ich ethisch bedenklich.
Wie können sich Verbraucher besser vor manipulativer Werbung schützen? Gerade für Eltern ist das oft nicht leicht.
Stimmt, das ist wirklich schwer. Nehmen wir die sogenannte "Quengelzone" an der Supermarktkasse: Dort ist man als Elternteil mit ungeduldigen Kindern der Platzierung von Süßwaren ausgesetzt. Beim herumschweifenden Blick der Kinder geraten dort extra platzierte Impulsartikel ins Auge, was dann die quengelnde Ansage "Papa, das will ich haben" auslöst. Es gibt leider nur wenige Märkte, die auf diese Platzierung verzichten. Ich kenne in Bayern einen Supermarkt, der bewusst die "Quengelzonen" abgeschafft hat, um Impulskäufe von Süßwaren für Kinder oder kleine Schnapsflaschen für alkoholsensible Menschen zu vermeiden.
Müsste der Gesetzgeber da stärker eingreifen?
In unserem wirtschaftsliberalen System dürfte es enorm schwer sein, solche Eingriffe durchzusetzen. Ernährungsminister Cem Özdemir hat verschiedene Initiativen gestartet, um die Vermarktung von Süßwaren zu erschweren und Marketingmaßnahmen teilweise zu verbieten, besonders die, die Kinder beeinflussen. Das würde bedeuten, dass zum Beispiel der berühmte Goldbär von Haribo oder der Slogan "Haribo macht Kinder froh und Erwachsene ebenso" verboten werden könnten. Hier stellen sich fundamentale Fragen: Wie tief sollte der Staat eingreifen? Was liegt in der Selbstverantwortung der Konsumenten?
Wie stehen Sie zu personalisierter Werbung, die auf die Vorlieben und Gewohnheiten der Nutzer abgestimmt ist – ist sie eher Chance oder Gefahr?
Wir sprechen hier vom "Data-Paradoxon": Auf der einen Seite sind wir als Konsumenten sehr sensibel mit unseren eigenen Daten und möchten sie eigentlich nicht hergeben. Gleichzeitig ist derselbe Verbraucher jedoch unzufrieden, wenn er keine personalisierten Empfehlungen bekommt – wir möchten nicht wie jeder andere im "0815"-Stil bedient werden. Wenn mir ein Onlineshop nach einem Kauf noch die passende Batterie zu meinem Elektrogerät anbietet, an die ich sonst nicht gedacht hätte, bin ich dafür dankbar. Personalisierung und Individualisierung sind große Trends im Verkauf, die gleichzeitig tiefe innere Bedürfnisse bedienen.
Wie stark ist die Informationsflut heute im Vergleich zu früher?
Die Informationsüberlastung ist enorm geworden, besonders bei jüngeren Konsumenten in der digitalen Welt. Studien zeigen, dass die Generation Z (Anm. d. Red.: Menschen, die zwischen 1995 und 2010 geboren wurden) ihr Smartphone bis zu 4.000-mal pro Tag in die Hand nimmt, etwa 400 personalisierte Botschaften täglich erhält und der Finger auf dem Bildschirm etwa 178 Meter pro Tag zurücklegt. Bei dieser Informationsfülle muss eine Botschaft sehr aufmerksamkeitsstark gestaltet sein, um nicht weggescrollt zu werden. Nutzer von TikTok beispielsweise entscheiden innerhalb von 1,8 Sekunden, ob sie sich einen Clip ansehen oder nicht. Das ist verrückt, zeigt aber, was Werbung heute leisten muss, um überhaupt wahrgenommen zu werden.
Wenn Sie eine Sache im Marketing ändern könnten, was wäre das?
In unserer freien Marktwirtschaft ist das eine schwierige Frage. Was ich wirklich verwerflich finde, sind gefälschte Kundenbewertungen im Online-Handel. Viele Unternehmen arbeiten mit unechten, extra erstellten Kommentaren – das ist bewusste Täuschung und Irreführung. Mit Künstlicher Intelligenz ist die Erstellung solcher vermeintlichen Kundenbewertungen noch viel leichter geworden. Da sollten wir ansetzen, denn das ist echte Manipulation, die über bloße Kaufanreize hinausgeht.
Herr Merkle, vielen Dank für das Gespräch.
- Interview mit Prof. Dr. rer. pol. Wolfgang Merkle