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Neonazi-Parolen auf Sylt: Wie lange nehmen wir Alltagsrassismus noch hin?


Skandal-Sommerfrische auf Sylt
Das ist der eigentliche Skandal

  • Nicole Diekmann
MeinungEine Kolumne von Nicole Diekmann

Aktualisiert am 29.05.2024Lesedauer: 5 Min.
Meinung
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Feiern mit rechtsradikalen Parolen: Pfingsten im Club "Pony" auf Sylt.Vergrößern des Bildes
Feiern mit rechtsradikalen Parolen: Pfingsten im Club "Pony" auf Sylt. (Quelle: dpa/Axel Heimken, X)

Das Video der Neonazi-Parolen singenden Prosecco-Gesellschaft auf Sylt entrüstet weite Teile der Gesellschaft. Dabei müssen Menschen mit Migrationshintergrund seit Langem mit Alltagsrassismus kämpfen.

Sind Sie auch seit Tagen umzingelt von überraschten bis entrüsteten Menschen? Seit Freitagmorgen geht es zumindest mir so. Seit Freitag geht das schon jetzt berühmte Sylt-Video viral. Heißt: Es verbreitet sich über die sozialen Netzwerke und hat längst den Sprung rüber in andere Medien geschafft.

Die überraschten bis entrüsteten Menschen lassen sich in zwei Gruppen einteilen. Gruppe eins ist überrascht bis entrüstet, weil Menschen mit Polohemden und über die Schultern geworfenen, geknoteten Pullis Naziparolen grölen. Gruppe zwei ist überrascht bis entrüstet, weil Gruppe eins überrascht bis entrüstet ist. Ich gehöre zu Gruppe zwei. Dazu gleich mehr.

Nicole Diekmann
(Quelle: Reinaldo Coddou H.)

Zur Person

Die Fernsehjournalistin Nicole Diekmann kennt man als seriöse Politikberichterstatterin. Ganz anders, nämlich schlagfertig und lustig, erlebt man sie auf Twitter – wo sie über 120.000 Fans hat. Dort filetiert sie politische und gesellschaftliche Aufreger rund ums Internet. Ihr Buch "Die Shitstorm-Republik" ist überall erhältlich. In ihrem Podcast "Hopeful News" spricht Diekmann jede Woche mit einem Gast über die schönen, hoffnungsvollen – einfach GUTEN Nachrichten. Bei t-online schreibt sie jeden Mittwoch die Kolumne "Im Netz".

Lassen Sie mich eines an dieser Stelle ganz deutlich machen: Wer Nazi-Parolen grölt, ist arm. Nicht im finanziellen Sinne. Aber in jedem sonst erdenklichen. Da ist es auch völlig unerheblich, ob das politisch gemeint ist oder nicht. Ob diese Leute betrunken waren oder nicht, ob sie es ironisch gemeint haben oder nicht. Ich bin nicht Harald Juhnke, aber einen sitzen hatte ich in meinem Leben auch schon, und für Ironie bin ich auch zu haben. Rechtsradikales Gedankengut gegrölt habe ich trotzdem noch nie. Und das macht mich zu keinem besonderen Menschen; ich denke, ich gehöre damit eher einer großen Mehrheit an. Der Versuch mancher und nicht weniger, mit diesen Scheinargumenten den Totalausfall von Anstand auf Sylt herunterzuspielen, ist dann doch ein bisschen zu billig.

Entsprechend angewidert habe ich also das Video von den lustig im Takt eines einschlägig bekannten Liedes auf- und abspringenden Menschen, den "Prosecco-Nazis", angeschaut. Sie halten es anscheinend für total okay, menschenverachtende Sätze zu skandieren – sogar, wenn sie dabei gefilmt werden. Ich finde das völlig daneben. Überraschend aber finde ich das überhaupt nicht. Wer jetzt mit vor Entsetzen geweiteten Augen auf eine Welt blickt, in der für ihn nun alles anders ist als vorher – dem war die Welt anscheinend sehr lange sehr fremd. Oder aber der nutzt die Vorgänge um die "Pony"-Bar in Kampen, um sich zu inszenieren. Dieses "Guten Morgen, Deutschland" – als wären wir alle jetzt aufgewacht und hätten wahre, bisher nicht sichtbare Abgründe entdeckt –, das ist nur eins: verlogen.

Video | Sylter "Pony"-Clubbetreiber veröffentlicht neue Aufnahmen
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Quelle: t-online

Mit Trägheit gepaarte Verachtung des Politikbetriebs

Denn dass es auch (!) unter Reichen Rassismus gibt – das kann doch nun wirklich für niemanden neu sein. Dieser Rassismus muss nicht ideologisch unterfüttert sein, und natürlich fußt er nicht auf dem Prinzip, dass Menschen mit wenig Geld, Status und Perspektive oft auf diejenigen herabblicken, die noch weniger haben, um sich wenigstens ein bisschen aufzuwerten. Nein, es gibt in der Bevölkerungsschicht, für die 150 Euro allein für den Eintritt in Läden wie die "Pony"-Bar Peanuts sind, eine eher genervte, verständnislose Sicht auf solche, die schwach sind und bedürftig. Da hinein spielt eine mit Trägheit gepaarte Verachtung des Politikbetriebs. Dieses naive Sich-um-andere-Kümmern – was soll das? Man will mit sowas nicht behelligt werden.

Herbert Grönemeyer sang schon 1990 in "Luxus" darüber: "Wir drehen uns um uns selbst, denn was passiert, passiert. Wir wollen keinen Einfluss, wir werden gern regiert. Hör auf hier zu predigen, hör auf mit der Laberei. Wir feiern hier 'ne Party, und du bist nicht dabei."

Gloria von Thurn und Taxis muss ihren Kopf nicht anstrengen

Sehr anschaulich gemacht hat diese Sicht erst kürzlich Gloria von Thurn und Taxis. Die "Galionsfigur der Neuen Rechten", als die sie die "Zeit" erstaunlich unkritisch bezeichnet, führte dort in einem Interview sehr eindrücklich vor, wie egal Fakten ab einer gewissen Privilegienstufe sind, wie egal Verantwortung, wie nervig auch Nachdenken. Und wie einfach es ist, sich all dieser anstrengenden Erfordernisse des profanen Alltags zu entledigen, wenn die Folgen politischer und gesellschaftlicher Entwicklungen einen selbst nie wirklich schmerzhaft treffen werden.

"Die AfD hat sich an dem Potsdamer Treffen beteiligt, bei dem es darum ging, Menschen mit Migrationshintergrund aus Deutschland zu vertreiben", sagt die "Zeit"-Journalistin. Thurn und Taxis erwidert: "Ja, Moment, dass man Leute, die kriminell sind und kein Aufenthaltsrecht haben, wieder zurückschicken will, ist doch verständlich." – "Zeit": "Es ging in Potsdam auch um Leute, die einen deutschen Pass haben." Von Thurn und Taxis: "Ich weiß nicht. Aber gut, wenn die sich über so was unterhalten wollen, wir sind doch ein freies Land."

Mein Gott, dann ist es halt so – eine Haltung, die man sich leisten können muss. Gloria von Thurn und Taxis kann das. Mit einem geschätzten Milliardenvermögen kein Problem. Wer den Anspruch an sich selbst nicht hat, sich anzustrengen, und wenn es nur mit dem Kopf ist, muss das nicht.

Grenzen werden verschoben

Nun will ich hier aber gar keine Elitenverachtung anderer Art produzieren – sondern den Bundeskanzler, die Bundesinnenministerin und andere politisch Handelnde, die sich jetzt empört zeigen, darauf hinweisen: Weder in teuren Schuppen wie der "Pony"-Bar oder auch dem Reichen-Internat Louisenlund, noch auf Schützenfesten oder in Dorfkneipen ist das mehr oder weniger gedankenlose und trotzdem gefährliche Nachplappern von Nazi-Parolen ein neues Phänomen. Jetzt so zu tun, als wäre es das – oder aber so zu tun, als hätten das die äußerlich Reichen und Schönen exklusiv, das ist auch billig. Und vor allem: riskant. Denn es erlaubt wiederum anderen Gruppen, sich empört zu zeigen und im Zuge dessen so zu tun, als hätten sie damit nichts zu tun. Als gäbe es das bei ihnen nicht. Der bodenständigste Beweis für das Gegenteil ist die Tatsache, dass die Betreiber des Oktoberfestes das Abspielen des Liedes jetzt verbieten, auf dessen Beats seit einiger Zeit die rechtsradikalen Zeilen gegrölt werden.

Niemand kann dafür garantieren, dass es nicht wieder passiert. Und, ich wiederhole es gern: Für Menschen mit Migrationshintergrund ist es völlig irrelevant, ob ironisch oder nicht. Es verschiebt eine Grenze. So oder so.

Endlich Verantwortung übernehmen

Und diese Grenzverschiebung geht uns zwar alle etwas an, weil wir alle eine Verantwortung haben – unmittelbar, und zwar völlig unironisch, betrifft sie aber Menschen mit nicht-weißer Hautfarbe und Menschen mit Migrationshintergrund. Auf Instagram formuliert die Autorin Tupoka Ogette es so: "Du hast das Video aus Sylt gesehen. Warst geschockt, überrascht, irritiert, angeekelt. Hast dich innerlich empört, distanziert. Willst, dass die Menschen in dem Video zur Rechenschaft gezogen werden. Das ist nicht dein Sylt. Nicht dein Deutschland." Dabei sei es genau das Deutschland, das Menschen mit nicht-weißer Hautfarbe oder mit Migrationshintergrund seit Langem erlebten. Und weiter: "Die Frage ist: Was machst DU dagegen? Abseits von Social Media. Sprichst du Rassismus an in deinem Umfeld, deiner Familie? Reflektierst du eigene rassistische Denkmuster? Gehst du wählen?"

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Tupoka Ogette gehört zur Gruppe Nummer drei. Das sind die Menschen mit Migrationshintergrund in meinem Umfeld. Die ob des vermeintlichen Aufwachens einer Gesellschaft und Politik, die sich bisher zumindest in einigen Bevölkerungsteilen als nicht rassistisch wähnte, nur müde mit den Achseln zucken. Weil es ihr Alltag ist. Und weil sie wissen: Das ist die typische Empörungswelle, die den üblichen Dynamiken unterliegt. Ereignis, Reaktion – back to normal. Zumindest dem Normal, wie wir Privilegierten es kennen.

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