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Telegram: 97 von 2.500 Problem-Kanälen wegen Hass dichtgemacht


Hass und Desinformation
So umgeht Telegram selbst die eigenen Regeln

  • Lars Wienand
Von Lars Wienand

Aktualisiert am 29.03.2023Lesedauer: 6 Min.
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Telegram: Die Plattform ist Heimat für den Judenhasser Attila Hildmann, für den rechtsextremen Verschwörungs-Kanal Auf1 von Stefan Magnet und für Pro-Putin-Propaganda einer Alina Lipp.Vergrößern des Bildes
Telegram: Die Plattform ist Heimat für den Judenhasser Attila Hildmann, für den rechtsextremen Verschwörungs-Kanal Auf1 von Stefan Magnet und für Alina Lipps Pro-Putin-Propaganda.

Täuschen, Drohen, Telegram: Mit der Pandemie wurde das Netzwerk zum Hass-Verstärker. Eine neue Analyse zeigt, was das bedeutet – und wie es weitergehen könnte.

Auf Bundestagsabgeordnete aus verschiedenen Ausschüssen wartete an diesem Mittwoch eine virtuelle Achterbahnfahrt durch Telegram: steile Wachstumskurven einerseits, bodenlose Abgründe andererseits. Die Politiker sind eingeladen zu einem parlamentarischen Frühstück mit Fragen, wie schlimm das Netzwerk als Brutstätte für Hass ist, wie schlimm es noch werden kann und ob nicht etwas dagegen getan werden kann.

Eingeladen zu dem Austausch-Format für Bundestagsabgeordnete hat das "Center für Monitoring, Analyse und Strategie" (CeMAS). CeMAS-Geschäftsführer Josef Holnburger sagt: "Wir wollen eine Diskussion anstoßen, dass die Politik Schritte angeht." Die gemeinnützige Gesellschaft untersucht seit Beginn der Corona-Pandemie die Entwicklungen auf Telegram. In einer aktuellen Analyse "Chronologie einer Radikalisierung", die t-online vorab exklusiv vorlag, zieht CeMas Bilanz. Demnach lassen sich neun Lehren ziehen.

1) Telegram hat lasche Regeln: Das Dilemma zeigt sich anschaulich am allerersten Video jenes ersten Deutschen, der auf mehr als 100.000 Abonnenten kam. Es ist Oliver Janich, im August 2018 verkündete er: "Viele der Leute, die heute an der Macht sind, gehören aufgehängt. Kann man ja sonst nirgends sagen." Der bayerische Verfassungsschutz bezeichnet Janich als Rechtsextremisten, Antisemiten und "reichweitenstärksten Verbreiter der QAnon-Verschwörungstheorie im deutschsprachigen Raum". Er hat für Drohpostings im Stil von "Holt die Seile!" und "Einfach an die Wand stellen" einen Strafbefehl erhalten – die genannten Beiträge sind aber weiterhin online.

2) Telegram ist groß: Rechtsextreme Akteure und als "Gelbwesten" aktive Reichsbürger hatten schon 2019 im größeren Stil begonnen, Nutzer für den Umzug zu Telegram zu werben. Es gab also Strukturen, als Corona und dazu eine Desinformationsflut ausbrachen, die wegen Sperrungen bei YouTube, Facebook & Co. als Alternativen gesucht wurden. Oliver Janich hatte noch im März 2020 40.000 Telegram-Abonnenten und durchbrach bereits im Mai die 100.000er-Marke.

Inzwischen, so die CeMAS-Analyse, gibt es im deutschsprachigen Raum mehr als 2.500 Telegram-Kanäle des verschwörungsideologischen und rechtsextremen Milieus, und davon haben 27 mehr als 100.0000 Abonnenten. Doch die technischen Möglichkeiten bei Telegram, die weit über die von WhatsApp hinausgehen, haben auch Nutzer angezogen, die nichts mit Extremismus am Hut haben. An einer Umfrage für Nutzer mit deutscher Handy-Vorwahl nahmen 2,2 Millionen Menschen teil. Weltweit spricht Telegram von 700 Millionen aktiven Nutzern im Monat – rechnet sich aber für die EU klein: Es habe weniger als die 45 Millionen, nach denen das Netzwerk für die EU als "sehr große Online-Plattform" mit entsprechenden gesetzlichen Regelungen gelten würde.

3) Telegram-Nutzer wollen Bestätigung: Janich ist schon lange nicht mehr der deutsche Telegramer mit der größten Abonnentenzahl. Andere sind noch stärker gewachsen. Ganz vorne liegt der frühere Focus-Redakteur Boris Reitschuster, der ins rechtspopulistische Milieu abgerutscht ist. Reitschuster ist erst seit Spätsommer 2020 auf Telegram und legte beständig zu auf mehr als 300.000 Abonnenten. Dann begann der russische Angriffskrieg und Reitschuster wurde abgestraft: Massenhaft liefen ihm Nutzer davon, weil im "Corona-Widerstand" Anti-Amerikanismus sehr weit verbreitet ist und er seiner russlandkritischen Haltung treu blieb. "25.000 weniger in drei Wochen, er schreibt jetzt kaum noch darüber", sagt Holnburger. Reitschuster hat jetzt noch 250.000 Abonnenten.

Josef Holnburger ist Gründer und Geschäftsführer von CeMAS.
Josef Holnburger ist Gründer und Geschäftsführer von CeMAS.

Was CeMAS wie auf dem Radar hat

In der gemeinnützigen Gesellschaft CeMAS verfolgt ein interdisziplinäres Team mit Experten aus Psychologie, Sozialwissenschaft und Datenwissenschaft die Themen Verschwörungsideologien, Desinformation, Antisemitismus und Rechtsextremismus. Dazu gehört die Analyse von derzeit 2.500 Kanälen und 1.800 Gruppen, die deutschsprachig und mit entsprechenden Inhalten aufgefallen sind. Zu Beginn der Pandemie wurde eine Liste im Austausch mit anderen Experten und Organisationen erstellt. Sie wird seither ständig erweitert, um neue Kanäle, die in der beobachteten Szene geteilt und beworben werden und nach Ansicht eines Experten relevant sind. Holnburger hält auch fest: "Verschwörungsideologie ist an sich nicht strafbar, wir fordern nicht die Löschung der Kanäle. Andere Plattformen zeigen ja auch, dass es weit mehr Reaktionsmöglichkeiten gibt, wie die Einschränkung der Reichweite eines Kanals oder zeitweise Schreibsperren. Telegram ist davon weit entfernt."

4) Telegram macht Verschwörungsunternehmer möglich: Der Online-Sender AUF1, der Reitschuster bald überholen dürfte, fing erst am 31. Mai 2021 bei null und mit dem Verteilen von Ballons auf allen Querdenker-Demos an. Er nutzte die Wut- und Proteststimmung und wurde mit Telegram groß. 241.000 Abonnenten sind es, die prorussische Beiträge im Kampf gegen "Globalisten" verfolgen. AUF1 meldete skandalträchtig, nach wenigen Wochen bei Facebook gelöscht worden zu sein. Auch der Zahlungsdienstleister Paypal hat die Accounts gesperrt, an YouTube wäre nicht zu denken. "Ohne Telegram würde AUF1 nicht funktionieren", sagt Holnburger. Senderchef Stefan Magnet stellt das anders dar: Die "große Telegram-Community" sei "natürlich erfreulich, der Großteil unserer Zuseher ruft unsere Website" aber direkt auf, so Magnet zu t-online. Im Dezember waren das dem Analysetool similiarweb zufolge 1 Million Besucher, im Januar und Februar gab es jeweils einen Rückgang.

5) Telegram ignoriert die eigenen Regeln: Die Postings von Oliver Janich, für die er einen Strafbefehl erhalten hat, sind bei Telegram weiterhin auffindbar, obwohl sie sogar gegen die eigenen Regeln verstoßen. Neben Spam und kinderpornografischem Material sind auch Gewaltaufrufe verboten. Es gibt auch einen Kanal eines Reichsbürgers, der einsitzt, weil er eine Geldstrafe nach diversen Drohungen und Schmähungen nicht bezahlt hatte. Sein Kanal war so unsäglich, dass der Telegram-Gründer Pavel Durov sich meldete, um die Schließung zu verkünden. Noch am selben Tag eröffnete der Mann aber den heute noch immer bestehenden Kanal. Prompt folgten auch da Sprachnachrichten mit Todesdrohungen an Arztpraxen. Die erste Löschung war offenbar nur Symbolpolitik.

6) Telegram ignoriert die eigenen Versprechen: Gründer Durov suggeriert häufig, dass Telegram nach Unternehmensphilosophie nie auf staatliche Anfragen reagiert. Im Sommer 2022 ließ er sogar über das Vorgehen abstimmen – mit unerwünschtem Ergebnis: Eine relative Mehrheit war dafür, bei schweren Straftaten zu kooperieren. Machte Telegram währenddessen schon: Durch einen Bericht von "STRG-F" wurde bekannt, dass Telegram in 25 Fällen Bestandsdaten wie etwa IP-Adressen von Nutzerinnen und Nutzern an deutsche Sicherheitsbehörden herausgegeben hatte. In mehreren Hundert Fällen wurde Löschbitten der Behörden entsprochen. Holnburger: "Anders als von Rechtsextremen und Verschwörungsideologen erhofft findet auch bei Telegram eine Moderation in Form von Beschränkung und Einschränkungen von Accounts, Kanälen und Gruppen statt."

7) Telegram reagiert auf Druck: Von Attila Hildmann verschwanden im Februar 2022 schlagartig Kanäle, in denen der ehemalige Kochbuchautor offen Judenhass und NS-Ideologie verbreitet hatte. Telegram ließ ihn zwar unter anderem Namen und mit privaten Gruppen weiter agieren, aber es war ein Zeichen. Zum ersten Mal war Telegram in Deutschland wegen "Verstößen gegen lokale Gesetze" vorgegangen.

Am 2. Februar 2022 hatte es einen Austausch des Bundesinnenministeriums mit Telegram-Vertretern gegeben. Zuvor hatte man Telegram wegen mangelnder Kooperation mit Millionenstrafe gedroht. Um den Termin herum hat Telegram so viele Kanäle und Gruppen eingeschränkt oder gelöscht wie vorher und nachher noch nie: Nach CeMAS-Daten wurden vor dem Termin 57 Kanäle und Gruppen eingeschränkt oder gelöscht. "Das zeigt, dass sich etwas ausrichten lässt, wenn es Druck auf Telegram gibt."

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8) Telegram hat keine klare Linie: Die Lösch- und Blockieroffensive nach dem Gespräch mit dem Innenministerium war eher ein Strohfeuer: Insgesamt sei nur gegen 97 der Kanäle vorgegangen worden, die CeMAS beobachtet. "Und auch prorussische Aktivisten mit Ersatzkanälen für den in der EU gesperrten Sender RT berichteten, dass sie nach anfänglichen Problemen seit Monaten Ruhe haben", so Holnburger. "Was nützen die drei Regeln von Telegram, wenn die Anwendung komplette Willkür ist? Die Content-Moderation von Telegram hängt anscheinend mehr von Lust, Laune und Druck ab als von klaren Regeln, Konsistenz und Konsequenzen." Eingeschränkt würden Kanäle ab und an wegen illegal geteilter Filme. "Anscheinend nimmt Telegram Urheberrechtsverletzungen ernster als Menschenfeindlichkeit, wenn es um Konsequenzen auf der Plattform geht." Geschäftliche Interessen sind aber auch ein weiterer Hebel: "Wenn Telegram Angst hat, aus den App-Stores von Apple und Android zu fliegen, reagiert es."

9) Von Telegram drohen weitere Risiken: Telegram setzt zunehmend darauf, auch Plattform für Geld-Transfers zu sein. Das kann für die Unterstützung von Menschen in Diktaturen ein Segen sein, kann aber auch dazu dienen, Sanktionen zu unterlaufen oder sogar Terrorismus zu finanzieren. Die deutschen Konten von Alina Lipp, der im Donbass lebenden Putin-Propagandistin, wurden gesperrt, Überweisungen nach Russland sind nur sehr eingeschränkt möglich – aber sie nutzte einen Telegram-Service. Und das Netzwerk will das noch ausbauen, setzt zunehmend auf Kryptowährungen. "Zukünftig könnten sich Akteure und Akteurinnen noch mehr über die Plattform finanzieren und professionalisieren."

Die Abgeordneten in der Runde mit den Telegram-Experten haben also zum Frühstück was zum Verdauen.

Hintergrund zum Thema

Telegram hat für Presseanfragen in dem Netzwerk einen Bot, den t-online angeschrieben hat. Es kommt eine automatisierte Antwort mit Kerndaten zu Telegram und das Versprechen, die Anfrage werde weitergeleitet. Eine weitere Antwort kam binnen 24 Stunden nicht.

Verwendete Quellen
  • CeMAS
  • Telefonat mit Josef Holnburger
  • Polizei Bayern vom 08.02.2023: Haftbefehl gegen verurteilten Reichsbürger vollzogen
  • speiegel.de: Onlinehetzer Oliver Janich erhält Bewährungsstrafe
  • Netzpolitik.org: Telegram sperrt erstmals Kanäle in Deutschland wegen "lokalen Gesetzesverstößen"
  • funk.net: Ministerium bestätigt erstmals: Telegram gibt Nutzerdaten an deutsche Sicherheitsbehörden
  • similarweb.com: Analyse auf1.tv
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