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Albinismus: Wie Lydia und Felix das Leben erobern


Albinismus
Wie Lydia und Felix das Leben erobern

t-online, Anja Speitel

Aktualisiert am 19.03.2013Lesedauer: 8 Min.
Albinismus: Lydia (10) ist durch den Albinismus stark sehbehindert.Vergrößern des BildesLydia (10) ist durch den Albinismus stark sehbehindert. (Quelle: Privat)
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Lydia und Felix sehen mit ihren weißblonden Haaren aus wie zwei Engelchen. Sie sind von Albinismus betroffen, einer angeborenen, genetisch bedingten Stoffwechselerkrankung, die mit einer Verminderung des Farbstoffs Melanin einhergeht. Dies wirkt sich vor allem auf die Augen aus, deshalb sind Lydia und Felix stark sehbehindert. Wie die beiden dennoch das Leben erobern und was betroffene Eltern unbedingt wissen sollten.

Als Lydia im Dezember 2000 geboren wurde, fiel ihren Eltern Doris und Peter M. sofort auf, dass sie sehr blonde Haare hatte. "Aber wir dachten uns erst mal nichts, da auch ich als Kind blond gewesen war", erzählt Peter M. "Doch weil Lydia unser zweites Kind war, habe ich dann mit circa einem Lebensmonat darauf gewartet, dass sie uns fixiert - doch das tat sie nicht", erinnert sich ihre Mutter Doris. "Ich fand das komisch. Auch schimmerten Lydias Augen so violett, wenn Licht reinfiel. Also berichtete ich dem Kinderarzt davon, der das erste Mal den Begriff 'Albinismus' in den Raum stellte. Da wir uns zu dieser Zeit beruflich in Japan befanden, räumte der Kinderarzt jedoch ein, dass er nicht wisse, wie blond und hellhäutig europäische Kinder sein könnten."

Erste Informationen zu Albinismus bestürzten die Eltern zutiefst

Nach der Mutmaßung des Kinderarztes fing das Ehepaar an, über Albinismus zu recherchieren. "Wir hatten noch keine Ahnung, welche Auswirkungen Albinismus auf die Sehfähigkeit hat. Nachdem wir dann Infos gesammelt hatten, war es, als ob mir jemand den Boden unter den Füßen wegzieht: Bedeutet das jetzt, dass Lydia blind ist? Muss ich sie ein Leben lang führen? Was kommt da nur auf uns zu?", fragte sich Doris M. Denn in der Regel kommt es durch Albinismus zu einer starken Sehbehinderung, die durch Brillengläser nicht ausgeglichen werden kann.

Es gibt zwei Hauptgruppen des Albinismus

Albinismus gibt es in ganz verschiedenen Ausprägungen. Experten klassifizieren Albinismus-Typen in zwei Hauptgruppen, denen sich wiederum verschiedene Formen untergliedern: Besteht ein Pigmentmangel sowohl in den Augen als auch in der Haut und den Haaren, handelt es sich um "oculocutanen Albinismus", kurz OCA (lateinisch oculus - das Auge, cutis - die Haut). Bei der anderen Hauptgruppe fehlt der Farbstoff Melanin hauptsächlich in den Augen. Er wird als "oculärer Albinismus" (OA) bezeichnet und Haut sowie Haare sind dann völlig unauffällig. Die Krankheit zeigt sich mit einer Häufigkeit von 1:20.000.

"Wir haben durch genetische Analysen herausgefunden, dass die Spanne der Pigmentierung bei Albinismus sehr breit ist. Es gibt Patienten mit genetisch nachgewiesenem OCA 1 - dem oft am schwersten ausgeprägten, sozusagen 'klassischen' Albinismus -, die dennoch braune Haare haben. Nach der gängigen Vorstellung haben diese Patienten immer weiße Haare. Aber das Spektrum der möglichen Pigmentierung ist entgegengesetzt zur früheren Lehrmeinung sehr hoch", erklärt Professor Barbara Käsmann-Kellner, die an der Augenklinik der Universitätskliniken des Saarlandes in Homburg (Saar) eine Spezialsprechstunde für blinde, sehbehinderte und mehrfachbehinderte Kinder leitet und sich auf Albinismus spezialisiert hat.

Lydia und Felix haben 15 Prozent Sehkraft

Lydia und Felix haben beide eine ausgeprägte Form des "klassischen Albinismus": Helle Haut und Haare und eine Sehfähigkeit von 15 Prozent. "Bei Schwerstbetroffenen kann noch ein Prozent Sehkraft vorhanden sein, aber blind sind Albinisten nie", weiß Käsmann-Kellner. Anders als bei anderen Sehbehinderungen ist das Gesichtsfeld, also das Sehen nach den Seiten hin, das Farbensehen sowie das Formen- und Bewegungssehen bei Albinismus normal. "Da aber die Sehreifung bei rund Zweidrittel der Albinismus-Betroffenen verzögert ist, wirken diese Babys in den ersten Lebensmonaten wie blind", so Professor Käsmann-Kellner.

So früh wie möglich eine Brille

"Es war schwer auszuhalten, bis Lydia mit circa fünf Monaten endlich anfing zu gucken", erinnert sich Doris M. Sie hatte Kontakt nach Deutschland zu Professor Käsmann-Kellner aufgenommen, als Lydia fünf Wochen alt war. Die Ärztin riet ihr als ersten diagnostischen Test die Durchleuchtbarkeit von Lydias Augen überprüfen zu lassen: positiv. Als Lydia drei Monate alt war, flog Doris M. mit ihr nach Deutschland zum ersten Termin bei Käsmann-Kellner. "Die Japaner hatten gesagt, Lydia brauche im ersten Jahr keine Brille, aber Frau Professor Käsmann-Kellner verordnete ihr sofort eine", so Doris M.

"Ich finde es sehr wichtig, dem Baby so früh wie möglich eine Brille zu verordnen. Wir können zwar die eigentliche, durch den Albinismus bedingte Sehbehinderung nicht ausgleichen, aber diese Kinder sind meist von starker Weitsichtigkeit sowie Hornhautverkrümmung betroffen. Ein Ausgleich dieser hohen Fehlsichtigkeit hilft dem Kind, besser sehen zu lernen und beeinflusst die Seh-Entwicklung in den ersten Lebensjahren positiv. Es ist leider immer noch so, dass einige Augenärzte sagen: 'Och, ist ja eh sehbehindert, da lohnt sich eine Brille nicht.' Das kann ich absolut nicht verstehen und akzeptieren!", entrüstet sich die Hochschulprofessorin.

"Für die Betroffenen ist es ein erheblicher Unterschied, ob sie später 20 oder 40 Prozent sehen! Wenn Sie plus 6 Dioptrien Weitsichtigkeit und eine Hornhautverkrümmung von 4 Dioptrien nicht ausgleichen, haben die Kinder ständig ein schlechteres Netzhautbild, als nötig wäre. Man schadet den Kindern sogar damit: Die Sehentwicklung verläuft im ersten Lebensjahr am intensivsten - nimmt man da keine Brille, um zu korrigieren, was sich korrigieren lässt, verliert man wertvolle Zeit! Meine Erfahrung ist, dass Babys, deren Fehlsichtigkeit früh ausgeglichen wurde, deutlich früher fixieren lernen und auch die später erreichte Sehschärfe fürs gesamte Leben besser ist."

Frühförderung mit Kontrasten

Obgleich Lydia, heute zehn, und ihr zwei Jahre später mit derselben OCA 1-Form geborener Bruder Felix (8) anfangs wie blind wirkten, förderten die Eltern sie so gut es ging. "Durch Professor Käsmann-Kellners Untersuchung und ausführliche Beratungsgespräche auch bei Frühförderstellen an Sehbehindertenschulen und der Albinismus-Selbsthilfegruppe 'Noah' bekam ich langsam wieder Boden unter den Füßen. Uns wurde immer klarer, wie wir mit Lydias Behinderung umgehen und wie wir sie fördern können: Wenn die Kinder keine visuellen Reize bekommen, entdecken sie auch nicht, dass sie sehen können. Auf starke Kontraste schauen sie viel schneller. Also haben wir Spielzeuge gebastelt oder umgearbeitet, immer in kräftigen Farben, etwa schwarz-gelb oder schwarz-rot", so Doris M. "Und natürlich haben wir beiden Kindern die Brille ganz konsequent aufgesetzt, auch wenn das bei den Babys am Anfang nicht ganz einfach ist. Für Felix war sie das erste Greifobjekt", lacht Doris M. "Doch bleibt man konsequent, gehört die Brille irgendwann einfach dazu."

Die schwerste Phase geht vorbei

"Die Anfangszeit ist besonders schwer", erinnert sich Doris M., "denn dann brauchen die Kinder eine andere und intensivere Förderung als gesunde Babys." Doch der Austausch mit anderen Betroffenen über "Noah" funktionierte selbst in Japan und schenkte Doris und Peter M. Kraft und Zuversicht. "Am Anfang machte ich mir Sorgen, da ist noch vieles anders als bei anderen Kindern. Durch den Kontakt mit betroffenen Eltern bekamen wir Tipps und sahen, wie viel ihre älteren Kinder schon kompensiert hatten und wie die Kinder lernen, mit ihrer Behinderung zu leben. Sehr geholfen haben uns auch Gebete und das Mittragen von Freunden. Heute sind wir sicher, dass unsere Kinder ihren Weg finden, wie jeder andere Mensch auch!"

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Albinismus: kleine Einschränkungen im Alltag

Durch die wiedererlangte Sicherheit im Leben zog Familie M. ihren Auslandsaufenthalt in Japan wie geplant bis 2004 durch und lebt heute in einem kleinen Ort nahe Böblingen. Nach Felix kam noch eine Tochter (heute 1,5 Jahre alt) hinzu, die nicht von Albinismus betroffen ist. Mit zwei gesunden und zwei betroffenen Kindern, erwarten Doris und Peter M. gespannt die Geburt ihres fünften Kindes im Sommer. "Wir haben keine Genanalyse gemacht, das Risiko eines Abgangs bei der Fruchtwasseruntersuchung war uns zu hoch. Außerdem betrachten wir als Christen jedes Kind als einen genialen Gedanken Gottes. Überhaupt können unsere Kinder und wir gut mit dem Albinismus leben. Lydia und Felix besuchen beide die Regelschule und haben viele Freunde. Natürlich gibt es Dinge, die sie nicht machen können: Felix durfte zum Beispiel auf eine Geburtstags-Fahrradrallye nicht mit und kann auch nicht durch den Ort düsen, wie andere Achtjährige. Draußen tragen die Kinder eine stark getönte Brille aufgrund ihrer Lichtempfindlichkeit und wir verbrauchen im Sommer viel Sonnencreme, um Lydias und Felix' sehr helle Haut zu schützen. Im Urlaub fahren wir auch nicht in den Süden, aber sonst führen wir ein ganz normales Leben", berichtet Peter M.

Lydia und Felix dürfen trotz Albinismus das Leben erobern

Als sie noch kleiner waren, eroberte Peter M. gemeinsam mit Lydia und Felix Schritt für Schritt die Kletterstange auf dem Spielplatz - "und irgendwann konnten sie es allein", erinnert sich der Vater. Wenn Lydia und Felix heute einen Weg ein paar Mal in Begleitung gemacht haben, dürfen sie ihn bald alleine gehen. "Die Kinder wollen natürlich alles so machen, wie an andere Kinder auch. Wir lassen sie vieles ausprobieren, behandeln sie nicht anders als ihre Geschwister. Sie sollen das Leben erobern und man muss Dinge, die einem auffallen, nicht immer gleich auf die Behinderung beziehen", rät Doris M. anderen betroffenen Eltern. "Jedes Kleinkind haut sich unterm Tisch mal den Kopf an, da sollte man nicht gleich denken: Das liegt daran, weil mein armes Kind nichts sieht."

Albinisten sehen nicht unscharf

"Die große Sorge der Eltern ist immer, dass ihr Kind permanent alles unscharf wahrnimmt. Doch das ist nicht der Fall. Ein von Albinismus betroffenes Kind würde nie sagen "Das ist unscharf", sondern nur "Das ist zu klein von hieraus, ich muss näher ran", so die Professorin. Wenn man Lydia beobachtet, versteht man, was sie meint: Beim Lesen hält sich die Fünftklässlerin das Buch direkt vor die Nasenspitze, im örtlichen Gymnasium sitzt sie in der ersten Reihe und hat zur Unterstützung eine Tafelkamera, mit der sie das Tafelbild über einen Laptop vergrößern und kontrastreicher stellen kann. Auch Buchseiten kann sie damit vergrößern.

"Als Lydia aufs Gymnasium wechselte, habe ich mir einen Vormittag Zeit genommen und wir haben zusammen ein kleines Referat über Albinismus gehalten", erzählt Peter M. "Ich habe zum Beispiel an der Tafel immer kleiner geschrieben, um der Klasse deutlich zu machen, was Lydia nicht kann. Die Kinder - eigentlich alle Menschen - sind sehr tolerant und unterstützend, wenn man offen mit der Behinderung umgeht und andere aufklärt. Lydias Klassenkameraden erinnern manchmal Lehrer: Bitte schreiben Sie doch größer, Lydia kann das gar nicht lesen", freut sich Peter M. "Und sie haben verstanden, dass Lydia nicht unfreundlich ist, wenn sie auf dem Gang nicht grüßt - sie erkennt die Kinder auf größere Distanz einfach nicht."

Albinisten können ein selbständiges Leben führen

Die technischen Errungenschaften unserer Zeit ermöglichen Albinismus-Betroffenen heute ein fast normales Leben: "Vergrößerung - ob im Nah- oder Fernbereich - führt dazu, dass der Patient alles sehen kann", so Professor Käsmann-Kellner. Deshalb sind heute auch fast alle Joboptionen möglich. "Natürlich nicht Berufsfahrer, das wäre zu gefährlich. Aber es gibt zum Beispiel viele Juristen unter den Albinisten, weil alle PC- und Lesearbeiten bestens möglich sind. Mit einer entsprechenden Arbeitsplatzausstattung kann eigentlich jeder Beruf ausgeübt werden", weiß die Ärztin aus ihrer langjährigen Erfahrung. "Und das Schöne ist: Albinismus ist keine Erkrankung, die sich verschlechtert. Durch Schulung der Wahrnehmung kann das Krankheitsbild auch nach dem siebten Lebensjahr immer nur besser werden."

Doris und Peter M. können das nur bestätigen und sind sich sicher, dass Lydia und Felix ihr Leben selbständig meistern werden: "Wir sehen das in der Selbsthilfegruppe an erwachsenen Betroffenen. Albinismus ist keine Behinderung, wegen der ich mein Kind ein Leben lang betreuen muss."

Weitere Infos:

NOAH Albinismus Selbsthilfegruppe e.V.
Oberschlesische Str. 53
70374 Stuttgart
Tel.: 0700 - ALBINISMUS (0700 - 25 24 64 76 87)

Weitere Informationen zu medizinischen Aspekten bietet die Seite www.albinismus.info von Professor Dr. Barbara Käsmann-Kellner.

Transparenzhinweis
  • Die Informationen ersetzen keine ärztliche Beratung und dürfen daher nicht zur Selbsttherapie verwendet werden.
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