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Erziehung: War früher wirklich alles besser?


Kindheit einst und jetzt
Kindheit ohne Kindersicherung - war früher alles besser?

t-online, Simone Blaß

Aktualisiert am 25.07.2015Lesedauer: 4 Min.
Kindheit früher: Kopfüber am Klettergerüst, ohne Helm und Gummimatte - da bricht bei heutigen Helikopter-Eltern der Angstschweiß aus.Vergrößern des BildesKopfüber am Klettergerüst, ohne Helm und Gummimatte - da bricht bei heutigen Helikopter-Eltern der Angstschweiß aus. (Quelle: Picture Alliance/Mary Evans)
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War früher wirklich alles besser? Diplom-Psychologe Ulrich Gerth warnt vor Verklärung, denn Erinnerung kann trügen. Das Gehirn ist so angelegt, dass es sich die guten Erfahrungen besser merkt als die schlechten. Die völlig unbeschwerte Kindheit war es also vielleicht nur aus der Erwachsenenperspektive. Doch trotzdem hat man heute oft das Gefühl, der Raum, in dem Kinder sich bewegen dürfen, ist extrem eng geworden. Sehr viel ist durchorganisiert, spontane Treffen sind kaum mehr möglich und inzwischen scheint der Stau vor den Schulen schlimmer zu sein als der Feierabendverkehr.

"Letzthin habe ich mitbekommen, dass sich die anderen Mütter gefragt haben, ob bei uns zu Hause etwas nicht in Ordnung sei", erzählt eine Mutter. "Dabei habe ich lediglich mit meiner Tochter ausgemacht, dass sie in Zukunft allein von der Schule nach Hause kommt und ich sie nicht mehr abhole. Sie ist immerhin bereits in der dritten Klasse, irgendwann muss sie es ja lernen. Oder?" Ein "Oder", das sehr zögerlich kommt, denn letztendlich hat die Frau ein schlechtes Gewissen. Eigentlich möchte sie ihre Tochter zur Selbstständigkeit erziehen. Andererseits hat sie Angst, ihr Kind doch nicht genug zu beschützen. Eine Sorge, die sie mit vielen Eltern teilt, die die Leine gerne zugunsten ihrer Kinder mal etwas lockerer lassen würden.

Behüten ist nicht gleich überbehüten

Doch als Vorsitzender der Bundeskonferenz für Erziehungsberatung (bke) unterstützt Gerth Eltern in ihrem Vorhaben, die Selbstständigkeit ihres Nachwuchses zu fördern. "Natürlich muss man immer gut überlegen, wo man das Kind noch schützen muss und wo man ihm bereits selbst die Verantwortung übertragen kann. Das ist in erster Linie abhängig von Alter und Verantwortungsbewusstsein. Aber auch von der Fähigkeit, die Folgen des eigenen Handelns zu überblicken. Am besten ist es, in dem Bereich, in dem die Risiken überschaubar sind, Unsicherheiten auch mit einzukalkulieren. Man sollte mit dem Kind über mögliche Gefahren reden, aber eines ist sicher: Vor manchen Dingen kann man es nun mal nicht behüten."

Und schlechte Erfahrungen gehören zum Leben. "Sie sind in einem gewissen Rahmen auch wichtig für die kindliche Entwicklung. Die Rede ist aber hier natürlich nicht von Nachlässigkeit, Konfliktscheu oder Bequemlichkeit der Eltern, sondern von einer Situation, in der man ganz bewusst entscheidet: Diese Erfahrung zu machen, das überlass ich jetzt dir!"

Wahrgenommene und wirkliche Gefahren

Dabei sind die Gefahren in den letzten Jahrzehnten an sich nicht größer geworden, das stellen Wissenschaftler immer wieder fest. Vieles ist sogar sicherer - man denke nur an Autokindersitze und selbstverständlich gewordene Fahrradhelme. Nicht selten Lebensretter. Aber die Wahrnehmung hat sich verändert. Eine Umfrage der Ludwig-Maximilians-Universität München im Auftrag des bayerischen Gesundheitsministeriums hat ergeben, dass sich die so genannten "wahrgenommenen Gefahren" von den tatsächlichen um einiges unterscheiden. Das liegt zum einen daran, dass man sich heute mit Gefahren auseinandersetzen muss, die es vor gut zwanzig Jahren noch gar nicht gab: Cybermobbing, Handystrahlen, Schweinegrippe und verseuchte Lebensmittel sind hier nur einige.

Zum anderen aber schätzen Eltern beispielsweise die Gefahr von Hepatitis für ihre Kinder deutlich höher ein, als die Gefahr von Übergewicht, so die Wissenschaftler. Zu Unrecht. "Alles, was wir wahrnehmen, unterziehen wir ja bereits während des Prozesses der Wahrnehmung einer Bewertung", erklärt Ulrich Gerth. In der Zeckenzeit haben wir Angst vor Hirnhautentzündung, treten Masern auf, fürchten wir eine Epidemie, aber keiner denkt bei einer Tüte Gummibärchen an Übergewicht.

Auch das Fallen müssen Kinder erst lernen

Der Autor Fred Grimm kritisierte kürzlich in einer seiner Kolumnen, dass das typische deutsche Kind das Klettern, Fallen und das Entdecken verlernt habe. Und er fragt sich, ob wir unseren Kindern mit unserer Dauerpräsenz wirklich einen Gefallen tun. "Sie dürfen nichts Falsches mehr spielen, nichts Falsches mehr essen und wenn es mal in die Natur geht, dann nur im Rahmen eines pädagogisch korrekten Waldausflugs, in dem sie anschließend die gefundenen Blätter der Größe und Farbe nach ordnen müssen." Das Problem, das Grimm dabei im Vordergrund sieht, ist: "Eine Generation, die das Fallen verlernt, verlernt auch, wie man hinterher wieder aufsteht."

Welche Rolle spielen die neuen Medien?

Heutzutage heißt es schnell, die Medien und ihre Informationsflut seien schuld daran, dass Eltern überängstlich reagieren. Ganz klar: Es kann durchaus zu einer schlaflosen Nacht führen, wenn man zu einer Zeit, in der die Kinderarztpraxis nicht besetzt ist, im Internet nach der möglichen Ursache für einen Ausschlag sucht. Und reißerische Berichte über krankmachende Stoffe beunruhigen uns genauso wie Sendungen über auf dem Heimweg entführte Kinder. So manches Mal haben es Eltern mit einem ziemlich zweischneidigen Schwert zu tun. Bestes Beispiel: das Handy. Seine Strahlengefahr ist durchaus präsent. Obwohl eine Expertengruppe der Internationalen Agentur für Krebsforschung, die zur Weltgesundheitsorganisation gehört, davor gewarnt hat, dass Handystrahlung "möglicherweise krebserregend" sei, sind wir doch froh, wenn die eben erst flügge gewordene Tochter ein Handy dabei hat.

Wie konnte man nur ohne Facebook und Co. überleben?

Erzählt man übrigens genau dieser Tochter und ihren Freunden von "der guten alten Zeit", dann erntet man einiges an Unverständnis. "Fernseher, die nur drei Programme lieferten und ab 23 Uhr das Testbild zeigten. Telefone, deren Schnur in der Wand verankert war und Zeiten, in denen man stundenlang in der Bibliothek herumsaß, nur um etwas herauszufinden - das kann sich heute kein Jugendlicher mehr vorstellen", schmunzelt der Erziehungsberater. "Automatisch kommen da entsetzte Fragen, wie es denn überhaupt möglich gewesen sei, ohne Facebook und Handy zu kommunizieren. Ich bin sicher, unsere Kinder würden es nicht so sehen, dass die Zeiten früher tatsächlich besser waren." Wahrscheinlich waren sie auch gar nicht wirklich besser, sie waren einfach anders.

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