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Proteste in Belarus: Auf keinen Fall zu Hause bleiben


Kampf der Generationen in Belarus
Sowjetnostalgie – oder eine Zukunft in Freiheit?

Von Robert Putzbach, Minsk

26.08.2020Lesedauer: 4 Min.
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T-Shirt mit Lukaschenko-Motiv: Der belarussische Autokrat weiß Teile der Bevölkerung noch immer hinter sich.Vergrößern des Bildes
T-Shirt mit Lukaschenko-Motiv: Der belarussische Autokrat weiß Teile der Bevölkerung noch immer hinter sich. (Quelle: Itar Tass/imago-images-bilder)

Ein Generationen-Konflikt spaltet Belarus: Während die Jungen endlich ins 21. Jahrhundert aufbrechen wollen, sind die Älteren für Erinnerungen an die vermeintlich gute alte Sowjetzeit empfänglich.

Wenn das Wochenende beginnt, hält ganz Belarus den Atem an. Dann spitzt sich der Streit zwischen der Regierung des Alexander Lukaschenko und der Protestbewegung zu, und die Welt muss zuschauen, wie sich ein Präsident, der seit 26 Jahren an der Macht ist, gegen den Untergang stemmt.

Während am Wahlsonntag und in den Tagen danach Bilder von Verhaftungen, Gewalt und Misshandlungen um die Welt gingen, gab es am Wochenende darauf die bis dahin wohl größte friedliche Demonstration in der Geschichte des Landes. Am vergangenen Sonntag gingen dann erneut Hunderttausend auf die Straße. Sie zogen mit weiß-rot-weißen Fahnen vom Stadtzentrum bis zur Straßensperre der Sicherheitskräfte kurz vor dem Präsidentenpalast.

Frauen wurden zum Symbol des Widerstands

Insbesondere Frauen stehen dabei im Mittelpunkt. In hellen Farben gekleidet und mit Blumensträußen in den Händen bildeten sie lange Menschenketten an den Straßenrändern, und wurden so zum Symbolbild für den friedlichen Widerstand gegen das System. Eine von ihnen ist die Künstlerin Masha.

In einer liebevoll eingerichteten Wohnung unweit des Zentrums von Minsk erzählt die 29-Jährige von den vergangenen Wochen. Am Abend der Präsidentschaftswahlen ist sie zum ersten Mal auf die Straße gegangen, gleich dort sei ihr bewusst geworden, wie wenig sie als zierliche Frau gegen die geballte Gewalt des Staatsapparats ausrichten könne. "Aber mir war auch klar, dass ich auf gar keinen Fall zu Hause bleiben kann."

Als zwei Tage später eine Freundin anruft und fragt, ob sie an einer Protestaktion teilnehmen möchte, zögert sie nicht lange. Sie zieht sich ein helles Kleid an, trägt roten Lippenstift auf und kauft einen Strauß Schwertlilien. An diesem Tag, kurz nach der erlebten Gewalt, auf die Straße zu gehen, kostete sie einiges an Überwindung. Das Internet funktionierte nicht; es gab kaum Informationen über die gegenwärtige Lage. Masha sagt, es habe sich angefühlt, als würde sie in den Krieg ziehen.

"Auf dem Weg hatte ich so viel Angst, dass ich anfing zu weinen", erzählt sie. Doch die war schnell überwunden. Seitdem hat sie beinah jeden Tag an einem "Meeting" teilgenommen, wie man das in Belarus nennt.

Propaganda-Lärm gegen Demonstranten

Mashas Erzählungen werden jäh unterbrochen, als draußen laute Musik ertönt. Lieder aus der Sowjetzeit sind zu hören, die über die gewaltigen Lautsprecher am Unabhängigkeitsplatz abgespielt werden. Die Regierung hat vor einigen Tagen damit begonnen, die Protestierenden mit voller Lautstärke zu beschallen, um ihre Parolen zu übertönen.

Die Auswahl der Stücke ist wohl überlegt – Lukaschenko weiß um die Sowjetnostalgie vieler Menschen aus der älteren Generation. Sie schätzen, dass er das sowjetische Andenken bewahrt und dem Land den Übergangskapitalismus erspart hat. Während viele der jungen Protestierenden von einer besseren Zukunft träumen, löst bei vielen Menschen der älteren Generationen besonders der Blick in die Vergangenheit starke Gefühle aus.

Für Mascha ist Lukaschenkos Modell eine Art "Bauernversion der Sowjetunion". Sie und viele andere träumen davon, in einem freien Land ohne Angst und Überwachung zu leben. Es zeichnet sich jedoch ab, dass der friedliche Massenprotest nicht ausreichen wird. Lukaschenko reagiert auf zehntausende Protestierende mit kriegerischer Rhetorik. Als er mit einem Hubschrauber über eine Demonstration zum Präsidentenpalast fliegt und die Menschenmassen sieht, murmelt er nur: "Wie Ratten haben sie sich zerstreut."

Entscheidend wird die Wirtschaft sein. Masha sagt, der Streik sei eine der wichtigsten Waffen gegen den Präsidenten. Wenn die Fabriken stillstehen, kann er sich nicht ewig halten. Doch viele Arbeiter haben Angst vor Repressionen und davor, ihren Job zu verlieren. Anführer der Streikkomitees werden regelmäßig verhaftet. Masha sagt, sie könne die Ängste der Arbeiter verstehen. Wichtig sei es nun, zusammenzustehen: "Jeder von uns gibt so viel, wie er kann."

Staatlich organisierter Gegenprotest

Auch die Regierung hat als Antwort auf die Demonstrationen damit begonnen, für sich zu mobilisieren. Als Symbol dient die rot-grüne offizielle Nationalflagge, die unter Lukaschenkos Herrschaft 1995 eingeführt wurde und stark an die Flagge der sowjetischen Teilrepublik erinnert.

An den bestens organisierten Demonstrationen nehmen weniger Menschen teil als an den Protestmärschen. Immer wieder fahren auch beflaggte Fahrzeugkolonnen durch das Zentrum von Minsk. Um anonym zu bleiben, sind die Autos dabei teils mit überklebten Nummernschildern unterwegs.

Wie viele Menschen bei den Wahlen am 9. August wirklich für Lukaschenko gestimmt haben, ist schwer zu schätzen, die von ihm proklamierten 80 Prozent sind jedoch unrealistisch. Trotzdem gibt es sie: Die Menschen, die Lukaschenko für einen fähigen Präsidenten halten. Dazu zählt auch Maria Sychova. Die 79-jährige wohnt zusammen mit ihren zwei Enkeln in einem Außenbezirk von Minsk in einer verlebten Wohnung. Sie betont, sie wurde während des Krieges geboren und habe ihr ganzes Leben lang hart gearbeitet, was sie von der jüngeren Generation unterscheidet.

Über aktuelle Entwicklungen informiert sich Maria Sychova über das Fernsehen. An Lukaschenko schätzt sie, dass er ein Mann des Volkes ist. Alexander Lukaschenko war einst Direktor einer landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaft (Sowchose). An die Zeit der Sowjetunion denkt sie gerne zurück, damals ging es den Menschen dank harter Arbeit gut. Auch Wladimir Putin und Dimitry Medwedew hält sie für fähige Politiker, eine Integration mit Russland lehnt sie jedoch ab. "Lukaschenko würde das nicht zulassen", sagt sie.

Verwendete Quellen
  • Eigene Recherchen
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