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Russland unter Putin im Ukraine-Krieg: ”Konnte nur schiefgehen”


Allmächtige Diktatoren?
"Das konnte dann nur schiefgehen"

InterviewVon Marc von Lüpke

08.07.2025 - 12:38 UhrLesedauer: 8 Min.
Wladimir Putin: Diktatoren leben mit einem ständigen Gefühl der Bedrohung, sagt Marcel Dirsus.Vergrößern des Bildes
Wladimir Putin: Diktatoren leben mit einem ständigen Gefühl der Bedrohung, sagt Marcel Dirsus. (Quelle: Sefa Karacan/dpa)
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Diktatoren wie Wladimir Putin und Co. gelten als stark und übermächtig. Doch der Blick hinter die Kulissen verrät etwas anderes, analysiert der Politologe Marcel Dirsus.

Weltweit steht die liberale Demokratie unter Druck, ein neues Zeitalter der Autokratie und Diktatur wird befürchtet. Doch Diktatoren sind schwächer, als oft angenommen wird, und Demokratien stärker, als ihre Feinde behaupten. Das sagt Marcel Dirsus, Politologe und Autor des Buches "Wie Diktatoren stürzen".

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t-online: Herr Dirsus, Diktatoren gelten als nahezu allmächtig. Trifft diese Einschätzung zu?

Marcel Dirsus: Tatsächlich liegt der Gedanke nahe, dass Diktatoren über eine Art Allmacht verfügen. Sie leben im Reichtum, verfügen meist über protzige Villen, luxuriöse Autos und eine einschüchternde Leibgarde, ihre Gegner können sie mit einem Fingerschnipsen verschwinden lassen. In Wirklichkeit führen sie aber ein Leben in Angst, sie sind geradezu dazu verdammt: Die Unsicherheit bestimmt ihre Existenz.

Weil jedes Zeichen der Schwäche unweigerlich zum Sturz des Tyrannen führen könnte?

Diktatoren werden von der Angst geplagt, alles zu verlieren – und zwar von einem Moment auf den anderen. Diese Angst vergeht auch niemals, denn kleinste Fehler könnten sich rächen. Zwar verfügen Diktatoren über größere Entscheidungsspielräume als die Anführer demokratischer Staaten, aber dafür zahlen sie einen Preis: Während man in funktionsfähigen Demokratien die Zustimmung eines großen Teils der Bevölkerung benötigt, um die Macht zu erringen und zu behalten, sind es in einem diktatorischen System weit weniger Leute, auf die es ankommt. Diese Menschen müssen dann allerdings zwangsläufig bei Laune gehalten werden.

Zur Person

Marcel Dirsus, geboren 1990, ist promovierter Politikwissenschaftler. Derzeit ist Dirsus Non-Resident Fellow am Institut für Sicherheitspolitik der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel und berät zudem Regierungen, Stiftungen und internationale Organisationen wie Nato und OECD. Dirsus ist Experte für politische Gewalt und irreguläre Regierungswechsel, im Februar 2025 erschien sein Buch "Wie Diktatoren stürzen – und wie Demokraten siegen können".

Wie steht es in dieser Hinsicht mit Nordkorea, das eine prominente Rolle in Ihrem Buch "Wie Diktatoren stürzen" spielt?

Nordkorea ist ein gutes Beispiel. Dort braucht der Diktator Kim Jong Un nur die Unterstützung von vielleicht 100 oder 200 Familien, um an der Macht zu bleiben. Tatsächlich hat sich in diesem Land mit den Kims eine regelrechte Dynastie von Diktatoren etabliert, bestehend aus drei Männern: Vater, Sohn und Enkel. Das ist einerseits von Vorteil, kann sich aber eben auch schnell zum Gegenteil wenden: Wenn jemand wie Kim Jong Un oder auch Wladimir Putin nur die Unterstützung einiger weniger verliert, kann seine Macht schnell wackeln.

Im Gegensatz zur Abwahl eines demokratischen Politikers drohen gestürzten Diktatoren allerdings härtere Konsequenzen?

Gestürzte Diktatoren landen oft im Gefängnis, im Exil oder durchaus auch im Grab. Derartige Schicksale haben mehr als zwei Drittel der personalistischen Diktatoren erlitten, wie Untersuchungen zeigen. Wer seine Macht verliert, verliert oft also auch seine Freiheit oder sogar sein Leben.

Nun werden Begriffe wie Diktator, Autokrat und Tyrann inflationär verwendet. Was macht einen Diktator zum Diktator?

Mich interessieren politische Systeme, in denen Machthaber nur einen sehr kleinen Teil der Bevölkerung brauchen, um an der Macht zu bleiben. Der Machthaber kann König, Präsident oder eben der Chef einer Militärjunta sein, da gibt es ganz unterschiedliche Formen. Keine Diktatur ist wie die andere: Turkmenistan ist weder Nordkorea noch Russland. Russland ist nicht China. Aber dennoch gibt es viele Gemeinsamkeiten, die sich aus der Struktur der Regime und entsprechenden Anreizen ergeben.

Kein Diktator herrscht allerdings unumschränkt, er ist – wie Sie sagten – auf die Unterstützung bestimmter Kreise angewiesen: Wie hält er diese Leute im Zaum? Mit Zuckerbrot und Peitsche?

Es gibt verschiedenste Wege, um an der Macht zu bleiben. Idi Amin in Uganda war ungeheuer brutal, andere Diktatoren waren wiederum sehr gut darin, ihre Gegner auszumanövrieren. Josef Stalin war in beiden Disziplinen teuflisch versiert. Worauf will ich hinaus? Bei der Beschäftigung mit Diktatoren stellt sich schnell heraus, dass es ganz unterschiedliche Charaktere gibt: Adolf Hitler war für seine cholerischen Anfälle berüchtigt, Pol Pot zeigte kaum eine Gefühlsregung. Langfristig "erfolgreiche" Diktatoren müssen gefürchtet sein, aber exorbitante Repression ist immer risikoreich.

Inwiefern?

Die Palast-Eliten, die einen Diktator an der Macht halten, sind im Zweifelsfall gar nicht so sehr an der Person des Diktators selbst interessiert: Sie haben viel mehr ein Interesse daran, dass das System, das ihnen Geld und andere Vorteile verschafft, stabil bleibt.

Im Zweifelsfall könnten die entscheidenden Leute auf die Idee kommen, dass ein anderer Mann an der Spitze ihnen mehr einbringt?

So ist es. Deswegen setzt ein effektiver Diktator Repression nicht wahllos, sondern gezielt ein, im Idealfall zum Nutzen seiner wichtigsten Unterstützer.

Was geschieht aber, wenn die Unzufriedenheit bei der Bevölkerung aufgrund von Korruption und Selbstbereicherung der Eliten innerhalb der Diktatur ein kritisches Stadium erreicht?

Kein Diktator will Demonstranten auf der Straße sehen, weil die bloße Existenz von öffentlicher Opposition Schwäche signalisiert. Wie groß der Einfluss der Bevölkerung am Ende im jeweiligen Land ist, hat auch damit zu tun, ob der Diktator über Bodenschätze verfügt. Öl und Diktatur gehen Hand in Hand, weil Öl es dem Machthaber erlaubt, Jahr für Jahr Milliarden zu scheffeln und an seine wichtigsten Unterstützer zu verteilen. Ist das der Fall, braucht der Diktator im Zweifelsfall weder viele einheimische Arbeiter noch gute Universitäten, wo sich schnell Widerstandsnester bilden können. Öl ist so lukrativ, dass sich der Diktator fast immer ausländische Firmen ins Land holen kann, die mehr an Gewinn als an den politischen Zuständen interessiert sind.

Betrachten wir das an Bodenschätzen reiche Russland unter Wladimir Putin: Wie verhält es sich dort?

Es gibt eine generelle Regel, die sich an Russland illustrieren lässt: Je näher jemand der Macht ist, desto wichtiger ist er auch für den Machterhalt. Aus diesem Grund fließt in Russland auch sehr viel Geld nach Moskau und Sankt Petersburg, aber große Teile des restlichen Landes befinden sich in einem kümmerlichen Zustand. Das Dorf in Sibirien? Ist für Putins Machterhalt fast völlig egal. Aber Massendemonstrationen in Moskau würden ihm sicher nicht gefallen.

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Aus dieser Logik heraus rekrutiert die russische Armee auch bevorzugt außerhalb der Großstädte?

Genau. Wenn jemand aus einem sibirischen Dorf an der ukrainischen Front fällt, werden seine Angehörigen sicherlich auch trauern. Aber diese Trauer ist für Putins Machterhalt unwichtig. Das ist in Demokratien anders.

Der russische Krieg gegen die Ukraine hat sich alles andere als positiv für Putin entwickelt: Aus einer auf wenige Tage angelegten "Spezialoperation" hat sich ein extrem verlustreicher Abnutzungskrieg entwickelt.

Wenn Diktatoren zu lange an der Macht bleiben, koppeln sie sich oft von der Realität ab. Wer sich jahrelang mit Ja-Sagern umgibt, weiß irgendwann einfach nicht mehr, was im eigenen Land passiert, geschweige denn in anderen Ländern. Die Misserfolge der russischen Streitkräfte gegen die Ukraine sind auch keine große Überraschung. Die russischen Sicherheitskräfte sind im Kern nicht auf die Kriegsführung ausgerichtet, sondern vielmehr darauf, Putin nicht abzusetzen. In Diktaturen sind die eigenen Soldaten eine ständige und gigantische Bedrohung für den Diktator. Um dieses Risiko zu minimieren, strukturieren sie ihre Sicherheitskräfte entsprechend.

Ein Diktator erschafft also zahlreiche konkurrierende Sicherheits- und Geheimdienstorganisationen?

Das ist ein probates Mittel. Es gibt oft nicht nur das reguläre Militär, sondern parallele militärische Truppen, vielleicht auch eine militarisierte Palastgarde. Die Botschaft an das reguläre Militär ist dabei eindeutig: Macht bloß keine Dummheiten! Putin ging zudem auf Nummer sicher und wählte seine Militärs lange Zeit nach vermeintlicher Loyalität und nicht nach Kompetenz aus. Das konnte dann nur schiefgehen.

Mit dem Aufstand der Wagner-Söldner 2023 unter Jewgeni Prigoschin hatte sich Putin dann ziemlich verkalkuliert?

Da sah Putin zunächst schlecht aus. Der mysteriöse Tod Prigoschins im selben Jahr rückte die Verhältnisse dann im Sinne des Kremls wieder gerade. Ich würde aber gerne noch einen anderen bemerkenswerten Faktor der Diktatur Putins ansprechen.

Bitte.

Putin regiert nicht nur durch Angst. In Russland gibt es weiterhin ein Parlament, es finden Wahlen statt, auch Journalisten arbeiten. Allerdings ist das alles ein großes Schauspiel, vom Kreml orchestriert. Aber ob man es nun glauben mag oder nicht: In Teilen Russlands und auch im Ausland funktioniert diese Scharade.

Seit der Rückkehr Donald Trumps ins Weiße Haus sind die Befürchtungen groß, dass sich die Vereinigten Staaten zur Diktatur entwickeln. Wie schätzen Sie die Lage ein?

Donald Trump ist kein Diktator, aber er wäre gerne einer. Der US-Präsident hat keinen Respekt für die Institutionen und die Normen, die Amerika zu einer liberalen Demokratie machen. Die Vielzahl an Verordnungen und Verkündigungen aus dem Weißen Haus erschweren dabei den Blick darauf, welche von Trumps Maßnahmen aus moralischen Gründen verwerflich sind und welche ihm tatsächlich dazu verhelfen könnten, die liberale Demokratie auszuhebeln.

Was ist entscheidend?

Zwei Felder sind besonders wichtig: Wenn man Richter ungestraft ignorieren oder seine eigenen einsetzen kann, dann befindet sich die Demokratie in unmittelbarer Gefahr. Daran schließt der zweite Faktor an: Werden die Sicherheitskräfte die für Trump nachteiligen Gerichtsurteile umsetzen? Immer wieder sagen mir Amerikaner, dass sich das US-Militär an die Verfassung halten wird, dass die Polizei Gerichtsurteile umsetzen wird. Selbstverständlich kann das auch so sein. Aber die Demokratie ist in den USA keineswegs gottgegeben: Wenn ausreichend Posten bei Armee und Bundesbehörden mit Loyalisten Trumps besetzt werden, dann schrillen die Alarmglocken.

Der von Ihnen beschriebene Prozess ist bereits im Gange.

Das macht mir auch größte Sorgen. Allerdings hat Trump ein gewaltiges Problem: Er umgibt sich mit Loyalisten, allerdings meist nicht mit besonders kompetenten Loyalisten. Im Augenblick stehen die Chancen recht gut, dass Trumps nahezu unlimitierte Inkompetenz dazu führt, dass er sich selbst ein Bein stellt. Mit Pete Hegseth hat Trump einen Fernsehmoderator an die Spitze des Pentagon gesetzt. Stellen wir uns lieber nicht den Fall vor, dass er dort einen fähigen Mann installiert hätte. Einen JD Vance halte ich beispielsweise für weit gefährlicher.

Weltweit steht die liberale Demokratie nun noch mehr unter Druck. Wie schätzen Sie die Chance ein, dass sie die gegenwärtigen Herausforderungen bewältigen wird?

Seit ich angefangen habe, für mein Buch zu forschen, bin ich in Sachen Demokratie optimistischer als jemals zuvor. Die liberale Demokratie ist das bessere politische System, Diktaturen haben einfach gravierende Schwächen, die sich über kurz oder lange negativ auf sie auswirken.

Welche sind das insbesondere?

Diktaturen haben viele Schwächen. Im Vergleich zu Demokratien sind sie zum Beispiel sehr schlecht darin, die Nachfolge zu regeln. In Demokratien geschieht diese oft lautlos, in Diktaturen werden die Karten jedes Mal neu gemischt, wenn ein Diktator die Macht verliert. Alles ist dann möglich, und es liegt an der Struktur: Diktatoren zerstören staatliche Institutionen oder übernehmen sie, später gibt es dann niemanden mehr auf dieser Ebene, der eine Nachfolge ohne größere Schwierigkeiten bewältigen könnte.

Ein Diktator, der seine Nachfolge geregelt hat, bringt sich selbst in Lebensgefahr? Ein Nachfolger könnte der Versuchung erliegen, den Machtwechsel zu beschleunigen.

Das ist in der Tat ungeheuer gefährlich und deshalb haben Diktatoren in der Regel schlicht kein Interesse an wirksamen Regelungen zur Nachfolge. Wenn der Diktator dann doch die Macht verliert, kommt es wieder auf die Spione, Berater und Generäle an. In Syrien ist der jüngere Assad seinem Vater nicht deshalb nachgefolgt, weil diese Eliten glaubten, dass er ein besonders visionärer Anführer werden würde. Nein, sie glaubten, dass er das Risiko für einen kompletten Zusammenbruch des Regimes minimieren könnte.

In diesem Fall haben sich die damaligen syrischen Eliten aber getäuscht.

Das kann man wohl sagen. Nun dürfen wir nicht naiv sein und dem Irrtum erliegen, dass der Sturz einer Diktatur automatisch die Entstehung einer Demokratie befördert. Aber mit Baschar al-Assad hat die Welt einen Diktator weniger, der Chemiewaffen gegen Zivilisten eingesetzt hat. Das ist erst mal positiv.

Herr Dirsus, vielen Dank für das Gespräch.

Verwendete Quellen
  • Persönliches Gespräch mit Marcel Dirsus via Videokonferenz
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