Soziologe warnt "Ostdeutschland steht am Kipppunkt"

Ist die Zivilgesellschaft in Ostdeutschland schon für die Demokratie verloren? Zwei Experten zeichnen ein düsteres Bild.
Die Demokratie in Ostdeutschland ist laut Experten zunehmend bedroht. Der Leipziger Soziologe Alexander Leistner äußerte gegenüber dem "Spiegel" Besorgnis über das Erstarken rechter Kräfte und warnte vor einem möglichen "Kipppunkt". In den Städten und Dörfern Ostdeutschlands sei der Druck auf politisches Engagement enorm.
Leistner kritisiert ein verzerrtes Verständnis von Neutralität, das in vielen Regionen vorherrscht. Statt Austausch und Debatte als Grundlage der Demokratie zu sehen, bleibe man oft passiv. Rechtsextreme nutzten dies aus. "Die extreme Rechte plädiert für einen neutralen Staat und eine völkische Gesellschaftsform", sagt der Forscher. "Die AfD träumt von einer vermeintlich unpolitischen Zivilgesellschaft, die sich um Heimat und Tradition kümmert."
Die Folgen könnten dramatisch sein, so Leistner: "Wenn eine Mehrheit der Gesellschaft sich aus allem heraushalten möchte, entsteht ein politisches Vakuum, in dem sich Rechtsextreme ausbreiten können." Dies gebe extremen Rechten Raum zur Entfaltung. Leistner mahnt: "Die größte Gefahr besteht darin, dass wir alle den Ernst der Lage falsch einschätzen."
Experte: Methoden der Rechtsextremen nicht gewachsen
Der "Spiegel" berichtete zudem über finanzielle Fördermaßnahmen für die ostdeutsche Zivilgesellschaft. Stiftungen haben sich zur Initiative "Zukunftswege Ost" zusammengeschlossen und investieren Hunderttausende Euro in Projekte. Stefan Vogt von der Freudenberg Stiftung, einer unabhängigen gemeinnützigen Organisation für Bildung und Demokratie, betont jedoch, dass finanzielle Mittel allein nicht ausreichen werden, um die Bedrohung abzuwenden. "Selbst, wenn alle Stiftungen all ihr Geld zusammenlegen würden, ließe sich damit allein nicht die Zivilgesellschaft retten", warnt Vogt.
Vogt erklärt, die Strategien der Rechtsextremen seien langfristig angelegt, demokratische Initiativen hingegen oft nur auf kurzfristige Projekte ausgerichtet: "Die Demokratinnen und Demokraten richten ihr Handeln an Legislaturperioden, Förderzeiträumen und Projektlaufzeiten aus." Dass die Gegenseite aber strategisch und langfristig vorgehe, sei ein Umdenken notwendig, um dieser Herausforderung effektiv begegnen zu können, meint Vogt.
- Vorabmeldungen des Magazin "Spiegel"