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Gaza: Warum darf Israel so brutal gegen palästinensische Zivilisten vorgehen?


Tagesanbruch
Israels Krieg in Gaza ist unbeschreiblich brutal

MeinungVon Florian Harms

Aktualisiert am 17.01.2024Lesedauer: 7 Min.
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Israelischer Luftangriff nahe Rafah.Vergrößern des Bildes
Israelischer Luftangriff nahe Rafah. (Quelle: imago images)

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Wie viel kann ein Mensch aushalten? Was empfindet eine Mutter, die ihr totes Kind in den Armen hält, was ein Junge, der den Leichnam seines Bruders zu Grabe trägt? Wie lange erträgt man es, Hunderte schwer verletzte und hungernde Menschen um sich zu haben, Tag und Nacht, während man selbst um das eigene Leben fürchtet, weil jeden Moment ein Geschoss einschlagen kann? Es gibt Worte für solche Situationen, aber was ein Mensch in einer solchen Lage wirklich empfindet, lässt sich nur schwer beschreiben. Grauen ist ein zu kleines Wort, Katastrophe eine allzu oft bemühte Floskel.

Was sich in diesen Tagen im Gazastreifen zuträgt, sprengt die Ausdruckskraft der Sprache. Vor den Augen der Welt vollzieht sich eine Tragödie unbeschreiblichen Ausmaßes, und natürlich ist auch das wieder eine Phrase. Mehr als zwei Millionen Menschen werden zu Opfern systematischer Gewalt – unverschuldet. Man muss das betonen, weil der Konflikt zwischen Israelis und Palästinensern seit dem 7. Oktober nicht nur die militärischen Kämpfe eskaliert hat, sondern auch den Krieg um Worte. Aus Angst, womöglich das Falsche zu sagen oder gar als Antisemit abgestempelt zu werden, sagen viele Menschen hierzulande lieber gar nichts mehr dazu. Wer jedoch Unrecht nicht mehr als solches benennt, macht es noch schlimmer. Wenn Worte schweigen, dröhnen Waffen umso lauter.

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Wer sich als Humanist versteht und den Frieden liebt, kann nicht schweigen angesichts des Krieges in Gaza. Auch dann, wenn man dessen Auslöser berücksichtigt. Unterstützt von den Terroristen in Teheran haben die Terroristen der Hamas jahrelang einen bestialischen Angriff auf Israelis vorbereitet. Aus internationalen Spenden finanziertes Baumaterial für Häuser, Kliniken, Wasserleitungen zweigten sie ab, um ihr perfides Tunnelsystem zu errichten, während die Zivilbevölkerung darbte.

Als sie dann Anfang Oktober zuschlugen, kannten sie keine Gnade: Killerkommandos und ihre Mitläufer ermordeten in Kibbuzim und auf einem Musikfestival 1.200 Menschen und verletzten mehr als 5.400 weitere, vergewaltigten Frauen und folterten Kinder zu Tode. Zu Recht ist man sich weit über Israel hinaus einig: Die Täter und ihre Hintermänner müssen zur Verantwortung gezogen werden; so etwas darf nie wieder passieren.

Für die israelische Regierung und ihre Militärs bedeutet das: Die Hamas muss komplett zerschlagen, ihre Kämpfer müssen eliminiert werden – um jeden Preis.

Und da beginnt das Problem. Die Art und Weise, wie die israelischen Kommandeure den Einsatz im Gazastreifen führen, wird in deutschen Medien als "robust" oder "rücksichtslos" bezeichnet. In Wahrheit ist sie brutal. Sie ist erbarmungslos. Sie ist menschenverachtend. Panzer und Kampfjets legen ganze Stadtviertel in Schutt und Asche, feuern pausenlos auf Gebäude, in denen Hamas-Leute vermutet werden. Dass dabei unzählige Zivilisten getroffen werden, nennen die israelischen Militärsprecher zynisch "Kollateralschäden". Mehr als 24.000 Menschen sind nach Angaben der palästinensischen Gesundheitsbehörde seit Beginn der israelischen Angriffe getötet worden, mehr als 60.000 wurden verletzt. Selbst wenn man davon jene 9.000 Terroristen abzieht, die Israel bereits ausgeschaltet haben will, bleibt eine monströs hohe Zahl. In den vergangenen 48 Stunden tobten in Nord-Gaza die schwersten Kämpfe seit Jahresbeginn.

Vor allem viele Kinder sind unter den Opfern: Sie erleiden schwerste Verbrennungen, verlieren Arme, Beine, das Augenlicht. Ich habe mich dagegen entschieden, Ihnen Fotos dieser Kinder zu zeigen, aber es gibt sie, unzählige. Sie verbreiten sich in den sozialen Medien und erreichen Millionen Menschen in der arabischen Welt. Die fragen sich dann, warum der Westen zwar große Anteilnahme für die israelischen Terroropfer zeigt – aber so wenig Empathie für die palästinensischen Opfer aufbringt. "Ihr messt mit zweierlei Maß, ihr Heuchler", ist noch eine der milderen Anschuldigungen, die man dort lesen kann. Terrornetzwerke rufen dazu auf, den Westlern deren Unmenschlichkeit heimzuzahlen, indem man Anschläge in Europa begeht. Deutsche Sicherheitsdienste warnen: Die Terrorgefahr ist lange nicht mehr so groß gewesen wie jetzt.

Warum bekommen die Palästinenser in Gaza nicht mehr Hilfe? 600 Lastwagen mit Hilfsgütern bräuchte es pro Tag – nur 50 bis 70 sind es wirklich. Was geschieht mit all den Wasserflaschen, Nahrungspaketen, Medikamenten, Zelten, die auf den Weg gebracht worden sind? Das habe ich unseren Reporter Patrick Diekmann gefragt, der soeben von einer Reise mit Außenministerin Annalena Baerbock zurückgekehrt ist und sich die Lage am Grenzübergang Rafah zwischen Ägypten und dem Gazastreifen angesehen hat.

Ich habe Patrick gefragt: Wie ist die Lage in Rafah, was hast du gesehen?

Patricks Antwort: Der ägyptische Grenzübergang bei Rafah ist das Tor zur Hölle. Im Süden des Küstengebietes sitzen Hilfsorganisationen zufolge bis zu zwei Millionen hilfsbedürftige Menschen fest. Es fehlt ihnen an allem: an Nahrung, an Medikamenten, an Unterkünften und auch an Trinkwasser, weil bei den israelischen Angriffen eine Meerwasserentsalzungsanlage getroffen wurde.

Warum kommt nicht mehr humanitäre Hilfe in den Gazastreifen?

Israel und Ägypten geben sich gegenseitig die Schuld dafür. Auf der ägyptischen Seite konnten wir sehen, dass sich Tausende Lastwagen vor der Grenze stauen, aber nur einzelne Fahrzeuge durchgelassen werden. Wir haben mit Mitarbeitern des Roten Halbmondes vor Ort gesprochen. Sie warnen, dass sich die humanitäre Katastrophe in den kommenden Wochen noch massiv verschlimmern könnte. Es könnte sein, dass bald viele Menschen verhungern.

Was genau klappt bei der Versorgung nicht?

Vieles. Die israelische Armee legt fest, wie viele Lastwagen mit humanitären Gütern die Grenze passieren und wie viele Palästinenser medizinisch in Ägypten versorgt werden dürfen. Das ist – bei allem Verständnis für den israelischen Einsatz gegen die Terrororganisation Hamas – für die humanitäre Lage vor Ort fatal. Warum können nur 50 Lastwagen in einem Zeitraum von 6 Stunden die Grenze zum Gazastreifen passieren und nicht 150 zu jeder Tages- und Nachtzeit? Das konnte uns vor Ort niemand erklären.

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Was sagen die Israelis dazu?

Die israelische Armee besteht darauf, alles zu überprüfen, was über die Grenze geht. Ihren eigenen Angaben zufolge könnte sie mehr leisten, Hilfsorganisationen bezweifeln das aber. Es sind schlicht zu wenig Kontrolleure im Einsatz. Deshalb ist die Grenze zum Gazastreifen ein tödlicher Flaschenhals. Wir haben auch ein palästinensisches Krankenhaus in der Nähe besucht, das für so viele Patienten schlichtweg nicht ausgerüstet ist. Die Ärzte und Helfer leisten Bewundernswertes, aber die Rahmenbedingungen sind katastrophal.

Abgesehen von den militärischen Angriffen: Wie ließe sich die Lage der Zivilisten verbessern?

Die israelische Armee muss ihr Tempo bei der Freigabe von Hilfsgütern stark erhöhen und Flüchtlinge beim Passieren der Grenze schneller abfertigen. Wer krank oder verletzt ist, muss sofort raus! Wir haben von Eltern gehört, die ihre Kleinkinder den Mitarbeitern von Hilfsorganisationen in die Hände gedrückt haben, weil die eine Freigabe hatten, die Eltern aber nicht. So werden Familien getrennt. Ägypten und Israel müssen neben Rafah weitere Zugänge zum Gazastreifen öffnen, damit schneller Hilfsgüter und medizinische Versorgung in die Region kommen. Die Anteilnahme der ganzen Welt ist groß, wir haben Hilfskonvois aus zahlreichen Ländern gesehen. Aber das bringt nur etwas, wenn die Hilfe auch ankommt.


Was steht an?

Schwer zu sagen, ob die Ampelkoalition noch lange hält. Vielleicht schleppt sie sich wie ein angeschlagener Boxer durch den Rest der Legislaturperiode, aber Großes ist von dieser Regierung wohl nicht mehr zu erwarten. Es wäre schon schön, sie würde nicht noch mehr Fehler machen und den AfD-Extremisten weiteren Zulauf verschaffen. Heute diskutiert der Bundestag in erster Lesung über das Haushaltsgesetz, und natürlich wird es auch dabei um den Agrardiesel sowie die Frage gehen, wie Bauernhöfe doch noch irgendwie alimentiert werden können. Eine Tierwohlabgabe steht zur Diskussion, das wäre wenigstens konstruktiv. In der CDU kursiert derweil die Idee, der Ampeltruppe doch noch die Hand zu reichen. Wie realistisch so ein Zweckbündnis ist, sagt Ihnen unsere Chefreporterin Sara Sievert.


Die Kollegen von "Correctiv" haben die Republik aufgewühlt: Ihre Recherche über die Verschwörung von Neonazis, AfD-Kadern, Unternehmern und einzelnen CDU-Mitgliedern schlägt bundesweit Wellen und löst auch im Ausland Besorgnis aus, wie stabil die deutsche Demokratie wirklich ist. Der Regisseur Kay Voges bringt die Recherche heute Abend im Berliner Ensemble und im Volkstheater Wien als szenische Lesung auf die Bühne. Dabei sollen weitere Details zu dem Geheimtreffen enthüllt werden. Immer mehr Bürger begreifen, dass es höchste Zeit ist, aufzustehen und die Demokratie gegen die erstarkenden Verfassungsfeinde zu verteidigen. In vielen deutschen Städten finden Großdemonstrationen statt. Gut so.


In Koblenz wird der Prozess gegen fünf mutmaßliche Mitglieder einer Terrorgruppe fortgesetzt. Sie sollen einen Umsturz in Deutschland und die Entführung von Gesundheitsminister Karl Lauterbach geplant haben.


Sie wohnen in Süddeutschland und möchten heute ins Büro/zum Einkaufen/Freunde besuchen? Lassen Sie es lieber bleiben. Ab Hessen südwärts gibt es sehr viel Schnee und sehr viel Eis. Flüge und Bahnverbindungen werden gestrichen, die Polizei warnt vor hoher Unfallgefahr.


Ohrenschmaus

Ein bisschen Aufmunterung täte heute gut. Wetten, dass ich Ihnen einen Ohrwurm einpflanzen kann, den Sie tagelang nicht loswerden? Doch, kann ich.


Lesetipps

Die AfD wird auf jeden Fall verboten, alle Bauern sind auf der Zinne, in Talkshows sitzen nur Fachleute? Viele Menschen fallen leider auf etwas herein, schreibt unsere Kolumnistin Nicole Diekmann.


Politiker diskutieren über ein Verbot der AfD. Was wünschen sich Menschen, die nach Ansicht der Rechtsextremen vertrieben werden sollen? Meine Kollegin Marianne Max hat sich umgehört.



In Deutschland fehlen mehr als 910.000 Sozialwohnungen. Eine neue Studie zeigt: Milliarden Euro Steuergeld wurden falsch ausgegeben.


Zum Schluss

Judith Rakers beendet ihre "Tagesschau"-Karriere.

So oder so, ich wünsche Ihnen einen unfallfreien Tag. Morgen schreibt Daniel Mützel den Tagesanbruch, am Freitag lesen Sie wieder von mir.

Herzliche Grüße

Ihr

Florian Harms
Chefredakteur t-online
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de

Mit Material von dpa.

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