Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Tagesanbruch Eine Erschütterung der Macht

Guten Morgen, liebe Leserin, lieber Leser,
wer ist mächtig in der Politik und warum eigentlich? Was wie eine Frage für politische Theoretiker klingt, zu der schon viele Seiten Papier vollphilosophiert wurden, könnte für Lars Klingbeil jetzt ein praktisches Problem im Berliner Regierungsviertel werden.
Mit nur 64,9 Prozent ist Klingbeil am Wochenende vom Parteitag wieder zum Chef der SPD gewählt worden. So wenig Zustimmung hat in der SPD noch kein Vorsitzender vor ihm bekommen, jedenfalls wenn es wie diesmal keinen Gegenkandidaten gab. Es war eine öffentliche Demütigung, die zeigt: Klingbeil, der für die SPD als Vizekanzler in der Bundesregierung der starke Mann sein soll, fehlt offensichtlich gerade der Rückhalt in seiner eigenen Partei.
Embed
Die Arbeit in der Koalition könnte das nun noch komplizierter machen, als sie zwischen Union und SPD ohnehin ist. Davon gehen jedenfalls einige Koalitionäre selbst aus. Nur wie genau? Das scheint momentan noch so schwer zu beantworten wie die Frage nach der Macht in der Politik überhaupt.
Denn die Sache mit der Macht ist komplizierter, als oft behauptet wird, und zwar in Theorie und Praxis. Relativ naheliegend ist die institutionelle Dimension: Politische Ämter bringen Macht. Ein Bundeskanzler ist mächtiger als ein Minister, ein Fraktionschef mächtiger als ein Abgeordneter. Wäre das alles, hätte sich für Lars Klingbeil seit dem Wochenende gar nichts verändert: Er ist weiterhin Vizekanzler und SPD-Chef.
Doch Macht erwächst in der Politik eben nicht nur aus den Institutionen – weder praktisch noch theoretisch. Wie mächtig ein Vizekanzler oder ein Abgeordneter wirklich ist, entscheidet sich im Alltag. Schafft es jemand, in der politischen Debatte auf sich und seine Positionen aufmerksam zu machen, die Diskussion sogar in seine Richtung zu lenken? Zum Beispiel durch den "zwanglosen Zwang des besseren Arguments", wie der Philosoph Jürgen Habermas sich das idealerweise vorstellt. Oder einfach, weil jemand sein Gesicht in jede Kamera hält, die er finden kann. (Kommt gefühlt häufiger vor, leider.)
Für Lars Klingbeil kommt noch etwas anderes hinzu. Er ist Vizekanzler und damit von Amts wegen erster Ansprechpartner für Bundeskanzler Friedrich Merz. Nur kann der sich noch darauf verlassen, dass Klingbeils Wort auch bei schwierigen Entscheidungen gilt? Dass die SPD ihrem Chef folgt, obwohl mehr als ein Drittel der Delegierten ihn gar nicht haben wollte?
Schon diese naheliegenden Fragen zeigen, dass Macht in der Politik auch etwas damit zu tun hat, ob das Gegenüber einem glaubt, dass man mächtig ist. Sie ist immer auch Projektion. Ein stilles Einvernehmen darüber, wer das Sagen hat.
Wenn an der Machtarithmetik in einer Partei Zweifel aufkommen, kann das eine Koalition deutlich komplizierter machen. Und solche Zweifel gibt es natürlich gerade bei den Koalitionären. In der Union ist damit bei manchem die naheliegende Befürchtung verbunden, dass Klingbeils neue Co-Chefin Bärbel Bas in der SPD an Macht gewonnen hat. Sie bekam am Wochenende ausgesprochen gute 95 Prozent.
Bärbel Bas ist nun nicht nur SPD-Chefin, sondern auch Arbeitsministerin. Als solche ist sie in der Bundesregierung federführend für die Reform des Bürgergeldes verantwortlich. Die Union erhofft sich, dort große Summen einsparen zu können. (Ich würde sagen: Sie erhofft sich etwas zu schnell zu viel, aber das ist eine andere Geschichte.)
Mancher in der Union befürchtet nun, eine Bärbel Bas mit Rückenwind könnte eine ungemütlichere Verhandlungspartnerin werden. Dabei hatten sich einige von ihnen insgeheim gerade erst gefreut, dass sie es nicht mehr mit dem langjährigen Arbeitsminister Hubertus Heil zu tun bekommen. Den hatte Klingbeil wie so ziemlich alle SPD-Ampelminister in den vorzeitigen Kabinettsruhestand geschickt, was einer der Gründe für Klingbeils schlechtes Ergebnis beim Parteitag sein dürfte.
Die Erschütterung der Macht in der SPD kommt zu ungünstiger Zeit. Denn in der Union hatten sie den SPD-Parteitag schon vor dem Wochenende zu einer Wegmarke erklärt, aus ganz anderem Grund: Wenn er vorbei ist, so hieß es, dann reden wir endlich mal übers Sparen. Sollte heißen: über die besonders für die SPD unangenehmen Dinge.
Das passiert nun tatsächlich, zumindest redet die Union schon mal los. Wenig überraschend redet sie zum Beispiel über Sozialausgaben und Migration, wo sie gerne mehr einsparen würde. Es sind zwei der Politikfelder, die der SPD besonders wehtun, weil hier ihre Vorstellungen und die der Union weit auseinanderliegen. Das ist auch beim SPD-Parteitag wieder deutlich geworden.
Ist es für Lars Klingbeil jetzt schwieriger, die Union von der Idee abzubringen, nun auch noch die Senkung der Stromsteuer für alle mit Sozialkürzungen finanzieren zu wollen? Oder fällt es ihm sogar leichter, weil auch ein CDU-Bundeskanzler kein Interesse daran haben kann, dass sich die SPD in Machtkämpfen verliert? Kommt Merz der SPD also sogar einmal mehr entgegen, um seine Regierungskoalition zu stabilisieren? Auch das ist denkbar. Die SPD könnte die Gelegenheit nutzen und ihren Koalitionspartner auf ein paar ihrer teuren Projekte hinweisen, mit denen man die 5,4 Milliarden Euro pro Jahr für die Stromsteuer auch gegenfinanzieren könnte.
Vielleicht findet sich ja zum Beispiel jemand, der Markus Söder erklärt, dass auch seine Mütterrente eine dieser Sozialausgaben ist, bei denen er eigentlich sparen möchte. Und zwar eine im Wert von fünf Milliarden Euro im Jahr. Oder dass dem Staat durch seine Mehrwersteuersenkung für die Gastronomie pro Jahr vier Milliarden Euro fehlen werden. Dabei gehen selbst in der CDU viele nicht davon aus, dass dadurch der Restaurantbesuch für die Menschen günstiger wird.
Aber nun ja: Es ist eben kompliziert mit der Macht in der Politik. Einen ersten Hinweis darauf, wie sich das alles wirklich auswirkt, könnte es schon am Mittwoch geben. Dann ist Koalitionsausschuss. Es dürfte munter werden.
Termine des Tages
Dänemark ist Chef: Das Land übernimmt heute turnusgemäß die EU-Ratspräsidentschaft. Es will die Themen Verteidigung, Sicherheit und Wettbewerbsfähigkeit zu den Prioritäten der sechs Monate dauernden Präsidentschaft machen. Dänemark dürfte aber auch auf strengere EU-weite Regeln in der Migrationspolitik drängen.
Söder in Brüssel: Der bayerische Ministerpräsident Markus Söder (CSU) ist in Brüssel zu Gast. Geplant sind unter anderem eine Sitzung des bayerischen Kabinetts im Beisein von EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen. Am Nachmittag will Söder sich mit Nato-Generalsekretär Mark Rutte treffen.
Frieden bei Merz: Bundeskanzler Friedrich Merz (CDU) empfängt den Regierungschef des Großherzogtums Luxemburg, Luc Frieden, in Berlin. Neben der Zusammenarbeit beider Länder soll es auch um außen- und europapolitische Fragen gehen.
Wer will die Lagerfeld-Villa? Die frühere Villa des 2019 verstorbenen Modezaren Karl Lagerfeld im französischen Louveciennes wird versteigert. Das Anwesen verfügt über rund 600 Quadratmeter Wohnfläche, einen weitläufigen Park mit Pool, einen Tennisplatz sowie mehrere Nebengebäude. Der Schätzwert liegt bei 4,6 Millionen Euro. Lagerfeld hatte das frühere Jagdschlösschen 2014 erworben und es in vier Jahren mit großer Detailversessenheit renovieren lassen. Am Ende soll er nur eine Nacht dort verbracht haben.
Steinmeier in Neuruppin: Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier verlegt seinen Amtssitz für drei Tage nach Neuruppin in Brandenburg. Bis Donnerstag führt er seine Amtsgeschäfte im Rahmen der Besuchsreihe "Ortszeit Deutschland" von dort aus. Er will mit den Bürgern ins Gespräch kommen und politische Vertreter treffen. Neuruppin ist die 16. Station der Besuchsreihe des Präsidenten.
Historisches Bild
1916 kam es zur blutigsten Schlacht des Ersten Weltkriegs an der Westfront. Mehr lesen Sie hier.
Lesetipps
Die AfD-Spitzenfunktionäre im Bundestag haben sich selbst das Gehalt erhöht. Und zwar drastisch. In der Fraktion ist der Ärger darüber groß, berichtet meine Kollegin Annika Leister.
Die Regierung senkt die Stromsteuer für Unternehmen – aber nicht für Verbraucher. So lautete zumindest der Plan. Doch nun pochen Teile der Union nachträglich auf Änderungen. In der SPD ist man zunehmend genervt, berichtet mein Kollege Daniel Mützel.
Ein Sonderbericht über Jens Spahns Entscheidungen in der Corona-Pandemie enthält schwere Vorwürfe. Doch der CDU-Mann weiß, wie er sich aus kritischen Situationen rettet, schreibt unser Kolumnist Gerhard Spörl.
Zum Schluss
Behalten Sie einen kühlen Kopf. Morgen schreibt Florian Harms wieder für Sie.
Ihr Johannes Bebermeier
Chefreporter
BlueSky: @jbebermeier.bsky.social
Instagram: @johannesbebermeier
Was denken Sie über die wichtigsten Themen des Tages? Schreiben Sie es uns per E-Mail an t-online-newsletter@stroeer.de.
Mit Material von dpa, AFP.
Den täglichen Tagesanbruch-Newsletter können Sie hier kostenlos abonnieren.
Alle Tagesanbruch-Ausgaben finden Sie hier.
Alle Nachrichten lesen Sie hier.