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Erster Weltkrieg: Schlachtfeld-Archäologie auf Höhe 80 in Wijtschate


Schlachtfeld-Archäologie
"Wenn du menschliche Knochen findest, ist das ernüchternd"

Fabian Schweyher

Aktualisiert am 30.06.2018Lesedauer: 6 Min.
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Deutsche Soldaten in einem Granattrichter beim flandrischen Ypern. Auch die Stellung "Höhe 80" im heutigen Ausgrabungsort Wijtschate war im Ersten Weltkrieg heftig umkämpft.Vergrößern des Bildes
Deutsche Soldaten in einem Granattrichter beim flandrischen Ypern. Auch die Stellung "Höhe 80" im heutigen Ausgrabungsort Wijtschate war im Ersten Weltkrieg heftig umkämpft. (Quelle: United Archives/imago-images-bilder)

Im Ersten Weltkrieg lag die Stellung "Höhe 80" unter Dauerbeschuss. Jetzt erkunden Archäologen das Gelände in Belgien. Finanziert durch private Spender, die auch selbst zur Schaufel greifen.

Vorsichtig schiebt Nathan Howarth eine Kelle in das Erdreich und hievt das schwarze Etwas in einen Plastikbeutel. Es ist ein Stiefel, kaum noch als solcher zu erkennen. Er gehört zu einer langgestreckten Masse, die einmal ein Mensch war. Ein Oberschenkelknochen ragt daraus hervor, genauso eine verbogene Wirbelsäule. "Er hat seine Hüfte verloren", sagt der britische Archäologe Howarth.

Dann zeigt er auf die Holzstäbchen am Boden des Fundorts mit weißen Zetteln daran, die ebenfalls gefundene Gegenstände markieren: Patronenmagazine, ein Rucksack, ein Bajonett, an dem Erdklumpen hängen. Bevor ein Fund entnommen wird, wird zuerst dessen Lage dokumentiert.

"Wahrscheinlich starben sie im gleichen Moment"

In diesem Chaos aus Knochen und Artefakten verbergen sich die sterblichen Überreste gleich zweier deutscher Soldaten, die im Ersten Weltkrieg ums Leben gekommen sind. "Sie sind ineinander gedrückt, wahrscheinlich starben sie im gleichen Moment", erklärt Howarth. Der 21-Jährige vermutet, dass feindliche Artilleriegranaten die Soldaten ohne Vorwarnung getötet haben.

Die Gebeine der beiden Deutschen liegen im belgischen Ort Wijtschate nicht weit von Ypern, wo im Ersten Weltkrieg mehrere große Schlachten tobten. Auf dem fußballfeldgroßen Areal arbeiten seit Mitte April Archäologen. Auf alten deutschen Lagekarten ist der Ort als "Höhe 80" vermerkt. Zu der Stellung gehörten Schützengräben, Gebäude sowie eine Kommandozentrale mitsamt Observationsposten und Tunnelverbindung zur zwei Kilometer entfernten Front.

"Wir haben alles auf einem Gelände", sagt Simon Verdegem, Leiter des Ausgrabungsprojekts. In dieser Kombination sei es einzigartig. Von der Grabung erhofft sich der Archäologe Erkenntnisse über die Bau- und Funktionsweise der deutschen Stellung aus dem Ersten Weltkrieg. Noch wichtiger sei es ihm jedoch, alle Toten zu bergen.

Spender dürfen bei der Grabung helfen

Bis Mitte Juli haben die Archäologen noch Zeit für ihre Untersuchung. Dann werden an dieser Stelle neue Wohnhäuser gebaut. Um die Ausgrabung zu finanzieren, mussten Simon Verdegem und seine Mitinitiatoren – die Militärhistoriker Robin Schäfer und Peter Doyle – Geld auftreiben. Ein Hilfsangebot des britischen EU-Hassers Nigel Farage schlugen sie aus und setzten stattdessen auf Crowdfunding: also Geldsammeln im Internet.

179.000 Euro kamen so für das "Dig Hill 80" genannte Projekt zusammen, gespendet von 2.679 Unterstützern. Abhängig vom Betrag gibt es dafür etwa ein T-Shirt, eine "VIP Tour" vor Ort in Wijtschate oder die Spender können gleich selbst bei der Ausgrabung vor Ort mitmachen.

In Wijtschate sind neben den Profis täglich bis zu 15 Amateure tätig, die von den professionellen Forschern für einfache Tätigkeiten wie Schaufeln eingesetzt werden. "Sie geben Geld, um das Projekt zu finanzieren, und wir geben ihnen die Chance, einmal im Leben ein Archäologe zu sein", sagt Verdegem und führt aus: "Du kannst der Geschichte nicht näherkommen, als selbst auf einem Schlachtfeld zu graben." Unter den Helfern sind Männer und Frauen aller Altersgruppen. Deutsche und Briten gehören etwa dazu, ebenso Russen und selbst Neuseeländer.

"Schützengraben oder Krater?"

Einer von ihnen ist auch Tim Wolter, der hüfttief mit einer Schaufel in einem Loch steht, das er ausgehoben hat. Der Schweiß läuft dem Amerikaner aus Wisconsin über das Gesicht. An der senkrechten Wand zeichnet sich eine halbkreisförmige Verfärbung ab. "Ist das ein Schützengraben oder ein Krater?", fragt er einen Experten. Ein kurzer Blick: Es handelt sich um einen Granattrichter.

Wenige Schritte entfernt liegt hingegen tatsächlich ein freigelegter Schützengraben. Darin sind Holzplatten zu sehen, die den Boden abdecken und die Seiten stützen. Ein Kommunikationskabel hängt schlaff von der Seite. An einer Stelle sind einige der allgegenwärtigen Granatsplitter zusammengetragen, die vielen Soldaten im Krieg den Tod brachten. "Man kann sich nicht vorstellen, wie es sein muss, kaum geschützt im Freien zu sein und die Splitter fliegen herum", sagt Wolter, ein pensionierter Notarzt und Lehrer.

Insgesamt zwei Wochen schuftet der Hobbyarchäologe aus den USA in Wijtschate. Dafür hat er "mehrere Hundert Dollar" an das Projekt "Dig Hill 80" gespendet. "Das macht großen Spaß", so Wolter, der auch schon bei Grabungen am Hadrianswall im Norden Englands mitgemacht hat. "Es gibt nichts Vergleichbares als etwas in der Hand zu halten, in dem du die Geschichte fühlen kannst." Einmal habe er eine Pfeife gefunden. Er habe sich gefragt, ob der Besitzer sie damals vermisst habe, erinnert sich der 61-Jährige. Beim Schaufeln ist er allerdings schon auf sterbliche Überreste gestoßen: "Das erste Mal, wenn du menschliche Knochen findest, ist das ernüchternd."

Andauernder Artilleriebeschuss

Im Ersten Weltkrieg gab es zahlreiche Tote bei den Kämpfen um die "Höhe 80". Es war geradezu ein Hin und Her: Anfangs wurde sie von Briten und Franzosen gehalten, noch im Kriegsjahr 1914 besetzen deutsche Truppen die strategisch wichtige Position. Erst 1917 gelang es britischen Einheiten, die Stellung zu überrennen, nur um ein Jahr später von den Deutschen erneut vertrieben zu werden. Vor Kriegsende besetzten die deutschen Gegner die "Höhe 80" endgültig. Neben den Angriffen wurde das Gelände während des gesamten Kriegs fortlaufend von Artillerie beschossen. Die Folge: eine Mondlandschaft.

Rund 100 Jahre später lassen sich die Schützengräben nur anhand der blauen Farblinien verfolgen, die die Archäologen auf den Boden gesprüht haben. An einigen Stellen wird geschaufelt, um den Aufbau der Gräben zu studieren. In der Öffnung, in dem die Überreste der beiden deutschen Soldaten liegen, ist die Erde an der Wand u-förmig und lediglich kniehoch verfärbt. "Es handelt sich vermutlich um einen frühen Graben, der vor dem Schützengrabenkrieg angelegt wurde", vermutet Archäologe Nathan Howarth, der als Freiwilliger sieben Wochen bei dem Projekt mitmacht.

Neben den Schützengräben wurden bisher mehrere Häuserkeller freigelegt, die in die Stellung integriert waren. Dabei zeigte sich, dass die Soldaten Löcher in die Wände geschlagen hatten, um unter der Erde von den Kellerräumen in die angrenzenden Gräben gelangen zu können. Eine mit Beton verstärkte Kammer diente als sicherer Rückzugsort. Auf dem Gelände wurde außerdem ein Bunkerdach entdeckt, darin könnte sich der Kommandoposten befunden haben.

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"Vermutlich noch mehr Leichen"

Entdeckt wurden bislang auch 81 Leichen, zumeist von deutschen Soldaten. "Wir hatten mit 20 Toten gerechnet", sagt Simon Verdegem. Nun sind es bereits mehr als viermal so viele – nicht eingerechnet ein bislang ungeöffnetes Massengrab. Zu erkennen ist es an den orangefarbenen Holzstäben, die dicht beieinander im Boden stecken und je einen Verstorbenen markieren. "In den Gräben liegen vermutlich noch mehr Leichen", sagt der 35-Jährige.

Es hat mittlerweile begonnen zu regnen. Wasserlachen stehen auf dem Erdreich. Mit Gummistiefeln stapft Nathan Howarth zur Tür eines Arbeitscontainers. Dahinter liegen auf einem Tisch die gereinigten Knochen eines Gefallenen, der bald auf einem Soldatenfriedhof bestattet werden soll. Anhand der Gebeine geht der Forscher davon aus, dass es sich um einen jungen Mann handelte. Die Toten von Wijtschate geben dem 21-Jährigen, der selbst als Soldat dient, zu denken. "Zwischen ihnen und mir gibt es keinen großen Unterschied."

Tote sollen eine letzte Ruhestätte finden

In Plastikbeuteln liegen die Fundstücke, die von den anfangs erwähnten zwei deutschen Soldaten bereits geborgen wurden: eine Uniform, ein Kamm sowie Taschenuhren und die Spitze einer Pickelhaube. Howarth nimmt eine weiße Plastikdose in die Hand, in der sich eine Bibel befindet, die einer der Soldaten bei sich hatte. Die einzelnen Seiten seien noch lesbar, so der Brite. Das sei außergewöhnlich, normalerweise bleibe Papier nicht solange erhalten. Um es vor dem Austrocknen zu bewahren, ist der Einband in schwarze Folie eingewickelt. "Wir hoffen in der Bibel den Namen des Besitzers zu finden."

Projektleiter Verdegem weiß, dass die Gefallenen selten identifiziert werden können. Er hoffe, dass mindestens ein Gefallener von "Höhe 80" ein Grab mit Namen bekommen kann. "Das Wichtigste an meinem Job ist es, dass die Toten eine letzte Ruhestätte bekommen", sagt der Archäologe, der sein Büro in einem weiteren Container hat. Vom Dach aus kann er das Gelände von "Dig Hill 80" überblicken. Nach Feierabend denke er manchmal daran, wie viele Menschen sie gefunden haben, die verschollen waren. "Sie hatten Familien, die sich immer gefragt haben, wo sie geblieben sind", sagt der Belgier. "Sie waren hier". Auf der "Höhe 80".

Verwendete Quellen
  • Eigene Recherchen vor Ort
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