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Was Forscher im Stuhlgang vergangener Kulturen suchen


Spuren aus Kot
Was Forscher im Stuhlgang vergangener Kulturen suchen


08.11.2018Lesedauer: 5 Min.
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Amerikanische Ureinwohner: Neben der Lebensweise in der Prärie errichtete die sogenannte Mississipi-Kultur mit Cahokia auch eine Großstadt im heutigen Illinois.Vergrößern des Bildes
Amerikanische Ureinwohner: Neben der Lebensweise in der Prärie errichtete die sogenannte Mississipi-Kultur mit Cahokia auch eine Großstadt im heutigen Illinois. (Quelle: BROKER/BAO/imago-images-bilder)

Es klingt eklig, hat aber wissenschaftlichen Wert: Die Untersuchung der Rückstände uralter Exkremente eröffnet Archäologen einen ganz neuen Weg, mehr über alte Kulturen zu erfahren.

Archäologen haben so ihre Methoden, die Größe von Gruppen zu schätzen. Bei großen Festgelagen beispielsweise durchwühlen sie gerne die Küchenabfälle, zählen die Knochen der verspeisten Tiere, und schätzen dann, wie viele Personen von einem Ochsen, einem Schwein oder einer Ziege satt werden konnten.

Oder, wenn sie die Einwohnerzahl einer Stadt wissen wollen, zählen sie die Häuser darin und rechnen hoch, wie viele Menschen wohl darin wohnten. Doch diese Methoden haben ihre Schwächen. Vielleicht wurden gar nicht die kompletten Tiere verspeist, sondern es war üblich, jeweils die Hälfte als Opfergabe den Göttern zu weihen. Oder möglicherweise standen viele der Häuser leer, weil die Bewohner längst anderswo ihr Glück gesucht hatten.

Unhygienische Zustände helfen den Forschern

Sicherer ist es, die Anwesenheit von Menschen an jenen Aktivitäten festzumachen, denen jeder von uns unweigerlich früher oder später nachgehen muss. Und davon gibt es bekanntlich zwei: seinen Darm entleeren und sterben. Tatsächlich sind Friedhöfe eine relativ sichere Datenbank zum Schätzen von Bevölkerungszahlen – so lange sichergestellt ist, dass auch tatsächlich alle Toten dort begraben liegen.

Das Verbrennen von Toten oder unentdeckte Massengräber nach Seuchen machen jeder Schätzung jedoch schnell einen Strich durch die Rechnung. Bleibt der Stuhlgang. Wenn sich nur ein Weg finden würde, den nachzuweisen.

In Zeiten vor einem zuverlässigen Abwassermanagement war es in den meisten menschlichen Siedlungen üblich, sein Geschäft zwar an einem stillen Ort zu erledigen, es dann aber auf der Straße oder in der freien Natur zu entsorgen – und auf den Regen zu warten, der es fortspült. Auf den ersten Blick ist dieses Vorgehen für die Archäologen weniger praktisch, denn der Haufen liegt ja am Ende nicht mehr dort, wo er herausgepresst wurde.

Großstadt vor der Ankunft der Europäer

Doch das Wasser, das die Exkremente wegspült, hat auch die Eigenschaft, immer auf den selben Punkt zuzufließen – und an diesem Punkt zu sammeln, was es so alles mit sich trägt. Dort angekommen werden die mitgeführten Lasten Schicht für Schicht abgelegt. Und am Ende finden die Archäologen die Ausscheidungen der gesamten Siedlung hübsch chronologisch geordnet.

Noch steckt die Fäkalienforschung in den Kinderschuhen. Erste Studien waren überaus vielversprechend – allerdings fanden sie in Norwegen nördlich des Polarkreises statt, wo die tiefen Temperaturen für außergewöhnlich gute Erhaltungsbedingungen der Exkremente sorgen. Doch funktioniert die Methode auch in wärmeren Regionen, in denen organische Substanzen schneller abgebaut werden?

Um das herauszufinden, hat sich eine US-amerikanische Forschergruppe von Geologen und Anthropologen um AJ White von der California State University und Carl Lipo von der Binghamton University in New York die Sedimente im Horseshoe Lake im Bundesstaat Illinois angesehen. Unweit von dessen Ufer lag Cahokia, die größte Stadt Nordamerikas vor Ankunft von Christopher Kolumbus.

Mehr Einwohner als London

Um 1050 explodierte dort die Bevölkerung. Lebten bis dahin etwa 1.400 bis 2.800 Menschen in dieser Siedlung der Mississippi-Kultur, stieg die Bevölkerungszahl in den folgenden 50 Jahren auf 10.000 bis 15.000 Einwohner. Im 12. Jahrhundert lebten dann gar bis zu 40.000 Einwohner im Stadtkern und in der näheren Umgebung – mehr als sich zu jener Zeit in London zusammendrängten. In Nordamerika sollte es noch über ein halbes Jahrtausend dauern, bis mit Philadelphia überhaupt wieder eine Großstadt so viele Menschen anzog.

Um 1300 war dann jedoch Schluss mit dem urbanen Leben am Horseshoe Lake und von Cahokia blieb nicht mehr als die riesigen künstlich aufgeschütteten Hügel mit den Ruinen der Wohnbereiche und Tempel sowie die nun leeren offenen Plätze der Stadt.

So viele Menschen produzieren sehr große Mengen an Fäkalien. Und damit fäkale Stanole, extrem wiederstandsfähige organische Moleküle, die jahrhundertelang im Boden erhalten bleiben. Zu ihnen gehört zum Beispiel das Coprostanol, ein Abbauprodukt des Cholesterins, das durch bakterielle Hydrierung im Darm entsteht und im Kot ausgeschieden wird.

Schweinezucht kann Messwerte verfälschen

Mit der Zeit kann es zwar noch zu Epicoprostanol zerfallen, doch auch das bleibt lange im Boden nachweisbar. Je mehr Coprostanol und Epicoprostanol im Boden zu finden sind, desto mehr Menschen müssen diese Moleküle zuvor in ihrem Darm produziert haben.

Zwar enthalten die Exkremente von fast allen Säugetieren ebenfalls Coprostanol, doch nur Schafe und Schweine in ähnlich hohem Maße wie die vom Menschen. In europäischen Siedlungen kann das schon mal dazu führen, dass eine Vorliebe für Schweinebraten und die damit einhergehende Zucht der Tiere in der unmittelbaren Umgebung die Coprostanol-Werte im Boden verfälscht. "Eurasische Tierrassen, vor allem Schweine und Schafe, wurden aber nicht vor dem 16. und 17. Jahrhundert in Amerika eingeführt", schreiben White, Lipo und ihre Kollegen in ihrem Aufsatz, "und das war rund zwei Jahrhunderte nach der Aufgabe von Cahokia."

So konnten die Forscher mit ziemlicher Sicherheit davon ausgehen, dass alles Coprostanol am Grunde des Horseshoe Lake aus menschlichem Kot stammte. Für ihre Untersuchungen entnahmen die Forscher Proben vom Grund des Sees. "Den Sedimenten hängt aber kein Fäkaliengeruch an", beruhigt AJ White. "Der Gehalt an tatsächlichen Exkrementen ist sehr gering, ein Gramm enthält nur wenige Nanogramm. Die Bohrkerne riechen allerdings leicht erdig, das kommt von dem dekompostierten organischen Material, aus dem der Schlamm am Boden des Sees zum Großteil besteht."

Auch in Deutschland wäre die Methode hilfreich

Tatsächlich korrespondierten die Coprostanol- und Epicoprostanol-Werte weitgehend mit den Schätzungen der Archäologen aus den Häusergrundrissen. Allerdings erreichte sie ihren Höhepunkt bereits eher, als sich dies aus den archäologischen Aktivitäten ablesen lässt. Dafür haben die Forscher zwei mögliche Erklärungen. Zum einen ist es schwierig, aus den Sedimenten am Boden eines Sees eine wirklich exakte Datierung zu gewinnen – wird der Boden einmal aufgewirbelt, geraten die Schichten durcheinander.


Hier könnte gut eine solche Störung vorliegen, die den Zeitrahmen für die Ablagerungen leicht verschiebt. "Die zweite Möglichkeit aber ist, dass die Verschiebung tatsächlich real existiert", mutmaßen die Forscher. Zuerst zogen die Menschen nach Cahokia und ließen sich in den umliegenden kleineren Siedlungen nieder – dann erst begannen sie, leicht zeitversetzt, mit dem Bau der riesigen Hügel. Mit den Ergebnissen konnten die Wissenschaftler jedenfalls zweifelsfrei beweisen, dass die Suche nach Exkrementen ein sinnvolles neues Werkzeug für die Archäologie sein kann.

Über das Projekt schrieb AJ White seine Masterarbeit. Die neue Methode ist jetzt schon so gefragt, dass er an mehreren weiteren Orten ebenfalls Coprostanol- und Epicoprostanol-Messungen durchführt. "Es gibt noch viele Orte, an denen ich gerne arbeiten würde", verrät er. "Zum Beispiel die Pfahlbausiedlungen in Süddeutschland, die sich aufgrund ihrer Nähe zu ruhigen Gewässern besonders eignen. Außerdem habe ich gehört, dass die Alpen sehr schön sein sollen ...!"

Verwendete Quellen
  • Eigene Recherchen
  • White, Aj & R. Stevens, Lora & Lorenzi, Varenka & Munoz, Samuel & Lipo, Carl & Schroeder, Sissel. (2018): "An evaluation of fecal stanols as indicators of population change at Cahokia, Illinois", Journal of Archaeological Science 93, S. 129-134
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