Aachener Original Stephan Kinting Die Grotesque-Bar hat viele Fans, aber zu wenige Gäste
Seit elf Jahren betreibt Stephan Kinting die Grotesque-Bar in Aachen. Kürzlich gab er bekannt, dass er schließen muss. Daraufhin boten viele ihre Unterstützung an. Porträt eines Gastronomen, der nie Gastronom sein wollte.
Hätte jemand Stephan Kinting als Teenager gesagt, dass er einmal mit gezwirbeltem Bart hinter dem Tresen seiner eigenen Absinth-Bar stehen würde, hätte er gelacht. "Gastro hab ich mir eigentlich nie vorstellen können", sagt er. Und diese Art, sich zu kleiden – mit schicker Weste, Schiebermütze, Fliege – auch nicht.
"Als Teenager war ich ein Gruftie – mit langen Haaren und langem Mantel." Der 37-Jährige kommt aus Imgenbroich, einem kleinen Dorf in der Eifel. Dort galt er immer als "Crazy Kid", als Außenseiter, erzählt er. Anschluss hat er in der sogenannten Larp-Szene in Aachen gesucht. Larp steht für "Live Action Role Playing". Auf Deutsch: Live-Rollenspiel. Das ist eine Form des Rollenspiels, bei dem Teilnehmer physisch in die Rolle ihres Charakters schlüpfen und in einer fiktiven Welt als diese Figur agieren.
Tage und Nächte hat er als Teenager und junger Mann bei seinen Aachener Freunden verbracht, um diesem Hobby nachzugehen. Die Rollenspiele, an denen er am liebsten teilnahm, versetzten ihn in die Zwanzigerjahre und in die fiktive Stadt Arkham, in der viele Geschichten des amerikanischen Horror-Schriftstellers H.P. Lovecraft angesiedelt sind.
Ein Kollege überredete Kinting, Gastronom zu werden
Unter dem schwarzen langen Mantel trug Kinting bald auch im Alltag Weste, Fliege und Zwirbelbart. Die äußerliche Verwandlung passierte schleichend. Nach der Schule machte er eine Ausbildung zum Masseur an der Uniklinik Köln. Als Kinting dann aus körperlichen Gründen in die Juristenberatung wechselte, war er den Zwanzigerjahren bereits komplett verfallen. Das habe man auch seinem Büro angesehen, sagt er.
"Es war ein hartnäckiger Kollege, der mir damals vorschlug, mein Glück doch in der Gastronomie zu suchen", sagt Kinting und lacht. Das sei sein "Spielfeld", habe der immer wieder gesagt. Dort könne Kinting alles zusammenbringen. Lovecraft, Rollenspiel, seine Liebe für die Zwanzigerjahre und auch die zum Detail. Und vor allem: den Wunsch, etwas Ungewöhnliches zu tun.
Bei einem gemeinsamen Spaziergang mit dem Kollegen kam Kinting an einem Fischlokal an der Rennbahn 1 vorbei. "Grüne Wände, pinke Tische, alles durcheinander gewürfelt", sagt Kinting. Aber das verwinkelte Lokal mit den Schwingtüren habe ihm gleich gefallen und an der Tür stand: "Zu Vermieten".
Dann ging alles ganz schnell. Gemeinsam mit seinem Kollegen und Freund schrieb er einen kompletten Geschäftsplan für den Laden. "Grotesque" sollte er heißen. Er überzeugte die Bank, ihm einen Kredit zu geben; überzeugte seine Eltern, für ihn zu bürgen; überzeugte viele Bekannte und Fremde über Crowdfunding, sich am Startkapital für den Laden zu beteiligen; und überzeugte die Vermieter schließlich auch, dass er der Richtige für den Laden sei.
Mir war wichtig, dass man aus der Welt heraustritt, wenn man in meinen Laden kommt.
Stephan Kinting, Gastronom
Die willigten sofort ein. Der Geschäftsplan und die Idee des jungen Mannes mit dem Zwirbelbart hatte sie überzeugt. Und die Konkurrenz war dürftig. "Mehrere andere Bewerber hatten die Idee, hier eine Dönerbude reinzumachen", sagt Kinting. Er schaut sich um. "Kann man sich hier auch irgendwie vorstellen."
Vor elf Jahren hat er den Laden dann übernommen und eingerichtet. Dass alles aufeinander abgestimmt ist, zueinander passt, war ihm besonders wichtig. Historische Lokale mit schönen alten Möbeln und toller Atmosphäre wie "Am Knipp" habe es in Aachen zuvor schon gegeben. Aber Kinting hat dort gestört, dass zum Beispiel die Musik nicht zur Einrichtung gepasst hat. "Die spielen da 1Live. Haben zwar alte Räumlichkeiten, aber doch ein relativ modernes Konzept." Das sollte in seiner Bar anders werden. "Mir war wichtig, dass man aus der Welt heraustritt, wenn man in meinen Laden kommt."
Die Grotesque-Bar besticht durch Details wie eine Geheimtür
Wenn man den Laden durch die Schwingtüren betritt, fällt der Blick sofort auf eine Kaminecke mit hellgrünen Samtsesseln, alten Büchern und einem Wappen über dem Kamin. Auf dem Wappen: ein oktopusähnliches Ungeheuer, das an das Horrorwesen Cthulu des amerikanischen Schriftstellers H.P. Lovecraft erinnert. Ein Bücherregal ist zu einer Geheimtür umgebaut, die zu den Toiletten führt. An der Wand hängt ein Wählscheibentelefon aus dem Jahr 1933. "Das ist wirklich verdammt unpraktisch, aber wenn es klingelt und wir drangehen, um Reservierungen entgegenzunehmen, schmunzelt immer irgendwer. Und das ist die Mühen wert", sagt Stephan Kinting.
Es gehe darum, in seinem Lokal Neues zu entdecken, etwas Besonderes und Außergewöhnliches zu erleben. Über die Absinth-Karte, in der nur die Namen und sonst kaum eine Information über das Getränk steht, kommen die Leute miteinander ins Gespräch. Es beginne oft mit einer Frage der Gastgeber. "Was mögen Sie denn? Eher Anis oder Kräuter?" und ende damit, dass in Stephans Salon Studenten und alte Damen sich angeregt bei Absinth oder Tee auf den Sofas über die Weltlage unterhielten. Und genau das sei die Idee.
Nach der Corona-Pandemie haben die Probleme begonnen
Doch Stephan Kinting hat seit ein paar Jahren Probleme mit seiner Bar. Angefangen habe alles nach der Corona-Pandemie. "Die Leute hatten kein Geld mehr. Gingen weniger aus und unsere Kasse blieb leer." Damit sei er nicht der Einzige. Viele seiner Nachbarn – Gastronomen und Einzelhändler – direkt um den Dom herum, bekamen Probleme. "Die Stadt ist von Montag bis Donnerstag so gut wie tot", sagt er.
Und wenn die Leute am Wochenende einmal ausgehen, würden sie dann immer noch weniger ausgeben als früher. Zudem stünden bald die Corona-Rückzahlungen an. Und dann gibt es da noch ein weiteres Problem: Bald gibt es eine große Baustelle vor der Tür der Grotesque-Bar, die den Salon von der Innenstadt abschneide. Die Laufkundschaft bleibe dann aus.
Stephan Kinting: "Wir müssen die Reißleine ziehen"
"Und bevor sich die Schulden immer weiter anhäufen, müssen wir die Reißleine ziehen", sagt er. Vor einer Woche habe er sich deswegen ein Herz gefasst und ein Video aufgenommen, um zu verkünden, dass er schließen müsse. Doch das wollte die Stadtgesellschaft nicht zulassen: "Unfassbar viele Menschen haben sich daraufhin bei mir gemeldet und angeboten, mich zu unterstützen." Einer dieser Menschen habe etwa angeboten, ein einjähriges Praktikum in der Bar zu machen – und zwar unbezahlt. "Sowas würde ich aber auch gar nicht wollen", sagt Kinting.
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Andere hatten Ideen für Veranstaltungen. Literatur, Kunst, Spiele. Auch ein echter Magier wollte auftreten. "Manche Angebote haben auch wirklich seltsam geklungen." Aber genau für so etwas habe er ein Herz, sagt der 37-Jährige. Nur ein Rettungsangebot hat er sofort ausgeschlagen. Jemand habe vorgeschlagen, eine Kooperation mit den Carolus-Thermen zu machen und die Absinth-Bar in einen sonntäglichen Saunaclub zu verwandeln. In Bademänteln herkommen, Handtücher auslegen, "ein bisschen gemeinsam nackt sein". Stephan Kinting lacht. "Das fand ich doch etwas Over-the-top."
Rettungsaktionen und Rückhalt geben ihm Hoffnung
Für die Rettungsaktionen, den Rückhalt und die Ideen ist Kinting dankbar. "Es hat mir ein bisschen Hoffnung zurückgegeben, es doch noch zu schaffen, den Laden vielleicht doch behalten zu können." Doch er macht sich keine Illusionen. "Es wird schwierig." Vor einer Woche hat Kinting noch gedacht, dass er noch vor dem Winter schließen müsse. Er habe sich abgefunden damit, dass sein Herzensprojekt sterben müsse. "Die Grotesque-Bar ist mein Wohnzimmer und auch ein großer Teil von mir", sagt er.
Ein Mann in Weste sitzt an der Bar und nickt. Robert Hellpap kommt aus Schleswig-Holstein und lebt seit drei Jahren in Aachen. Auf der Suche nach Anschluss in der neuen Stadt kam er eines Abends in die Bar und war verzaubert, als er das Bücherregal öffnete, um auf die Toilette zu gehen. Die Bar wurde auch zu seinem Wohnzimmer und Stephan Kinting zu einem guten Freund. "So etwas gibt es in Deutschland nur einmal", sagt er.
Tatsächlich gibt es nur noch wenige andere Absinth-Bars in Deutschland. Und es werden immer weniger. Von Aachen aus sei die nächste erst in Koblenz, erklärt Stephan Kinting. Die Kollegen in Leipzig hätten gerade erst zugemacht und auch an der Hamburger Schanze gebe es Probleme.
Stephan Kinting möchte heute noch nicht daran denken, was er machen würde, wenn es seinen Laden einmal nicht mehr gibt. Zu traurig mache ihn die Vorstellung. Doch eines steht für ihn fest. Die Schiebermütze wird weiterhin aufgesetzt. Die Weste und Fliege weiterhin getragen. Und auch der Bart wird weiterhin gezwirbelt.
- Gespräch mit Stephan Kinting
- Reporter vor Ort