Mordopfer hinterlässt hochschwangere Freundin Mord an Bootsverleiher geklärt – aber es bleiben Fragen
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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Bewohner und Besucher der Halbinsel in Berlin erlebten am Samstag einen Albtraum. Musste Dennis P. sterben, weil er einen 79-jährigen Untermieter vergraulen wollte?
Es ist eine Gegend wie aus dem Reisekatalog. Kleingärten reihen sich aneinander; wenn die Besitzer auf ihren Liegen chillen, können sie den Booten auf der Havel hinterherschauen.
Aber an diesem Montag ist die Halbinsel unter der Freybrücke in Berlin-Spandau wie ausgestorben. Gartentüren sind verriegelt, nur auf dem Gelände des Bootsverleihs "Havel-Logen" gehen Kunden ein und aus, als wäre nichts geschehen. Dabei ist dieses Grundstück am Samstagmittag Schauplatz eines Verbrechens gewesen, das so gar nicht zu dieser idyllischen Umgebung passt.
"Es war ein Albtraum"
Ein 79-jähriger Mann hat erst den 38-jährigen Mitinhaber des Bootsverleihs, Dennis P., in seiner kleinen Einliegerwohnung auf der Rückseite des Verleihs mit mehreren Schüssen getötet. Dann lockte er den 36-jährigen Geschäftspartner von P. in seine Wohnung. Diesem gelang jedoch die Flucht. Er alarmierte die Polizei.
100 Beamte rückten in den nächsten Stunden aus, um die gesamte Halbinsel zu evakuieren. "Es war ein Albtraum", sagt ein Verkäufer im benachbarten Bootscenter Keser. Es ist Deutschlands größter Händler für neue Motorboote. Noch eingeschweißt stapeln sie sich in drei Etagen. Der Verkäufer trägt Badeshorts, ein Muskelshirt und Flipflops. Er fährt mit einem Roller über das Gelände. Der Schreck steht ihm noch ins Gesicht geschrieben: "Gegen Mittag stand die ganze Brücke voller Polizeiwagen. Aber keiner wusste, was los ist."
Polizei ruft das SEK
Beamte hätten ihn angebrüllt, er solle sofort das Firmengelände verlassen. Kunden hätten völlig verstört reagiert. Erst unter der Brücke hätten sie von dem Mord an dem Mitinhaber des Bootsverleihs erfahren. Als Nachbarn der Polizei berichteten, sie hätten Schüsse gehört, sei auch noch ein Spezialeinsatzkommando (SEK) angerückt. "Die Gefahrenlage war zu diesem Zeitpunkt noch unsicher", heißt es auf Anfrage von t-online bei der Polizei.
Als die Beamten die Wohnung des Tatverdächtigen betraten, fanden sie den 79-Jährigen tot vor. In einer aktuellen Pressemitteilung der Staatsanwaltschaft heißt es, der Mann habe Benzin ausgegossen und seine Wohnung angezündet. Er selbst sei dabei gestorben.
Das Opfer hinterlässt eine hochschwangere Freundin
Für die Staatsanwaltschaft gilt es als sicher, dass er der Mörder von Dennis P. ist. Der 38-Jährige lebte mit seiner Freundin im Dachgeschoss des Gebäudes, in dem die "Havel Logen" ihre Geschäftsräume haben. Nachbarn erzählen, die Frau sei hochschwanger. Dennis P. wäre in den nächsten Tagen Vater geworden. Die anderen Firmeninhaber bitten um Verständnis. Sie wollen sich nicht zu den Ereignissen äußern. Ein befreundeter Besucher, der das Gelände gerade verlässt, schreit immer wieder denselben Satz in sein Handy. "Das war soooo knapp!" Was er meint, ist klar. Wenn der zweite Mitinhaber nicht so geistesgegenwärtig reagiert hätte, wäre auch er erschossen worden.
Über die Motive des mutmaßlichen Täters, Dieter S., wird noch gerätselt. "Das war ein ruhiger Typ, der den ganzen Tag auf der Bank hinter dem Haus saß und auf die Havel geschaut hat", sagt Alexander Schölkopf. Er ist selbst Bootsverleiher, er kennt die Betreiber der "Havel-Logen". Er hat sie mehrfach auf ihrem Grundstück besucht, um sie zu beraten.
"Der gehörte schon zum Inventar"
Wer Dieter S. war, weiß er nicht. Nicht einmal beschreiben könne er ihn, so unauffällig sei er gewesen, sagt Schölkopf. Ein Mann, der schon sein ganzes Leben in einem ehemaligen Bootshaus gelebt habe. "Der gehört hier schon zum Inventar", mit diesen Worten hätten ihm seine Kollegen den Rentner vorgestellt.
Zwei Tage nach dem Verbrechen riecht es noch nach Rauch am Tatort. Es ist ein baufälliger Gebäuderiegel auf der Rückseite des Firmengebäudes. Brandspuren sieht man kaum. Auch ein Briefkasten aus Edelstahl ist unversehrt geblieben. Darauf stehen zwei Namen. Der des Bootsverleihs und darunter der Name von Dieter S.
Seine Tage in dem Haus seien gezählt gewesen, erzählt ein anderer Mitarbeiter vom Bootscenter Keser. "In einem Monat sollte er raus." Darüber soll es zum Streit mit den neuen Besitzern gekommen sein.
Tatort: Wohlfühloasen
Es sind ehemalige Verkäufer von Mercedes mit einem Faible für Wassersport. "Entrepreneure", so bezeichnen sie sich auf ihrer Homepage. Sie hatten das Grundstück erst im April gekauft und sich Geldgeber gesucht, um ihre ehrgeizigen Pläne auf dem Gelände einer ehemaligen Bootsplatzvermietung zu verwirklichen.
Ihre Flöße und Boote fahren alle mit Strom. "100 Prozent elektrisch und emissionsfrei", so steht es auf den Firmenschildern. Die gute Lage ihrer Firma wollten sie zudem für den Tourismus nutzen. In einem ehemaligen Bootshaus auf der Rückseite der Geschäftsräume sollten bis 2022 acht Unterkünfte für Urlauber entstehen. Sogenannte Logen. "Es dauert also nicht mehr lange, und Du kannst dir in unseren Wohlfühloasen eine kurze oder auch längere Auszeit gönnen und die Seele direkt am Ufer der Havel baumeln lassen", schreiben sie auf ihrer Homepage. Fotos zeigen elegant möblierte Appartements.
Sollte der Täter eine neue Wohnung bekommen?
Dieter S. sollte vorher ausziehen. In der Pressemitteilung der Staatsanwaltschaft heißt es, erst nach dem Kauf des Grundstücks hätten die neuen Eigentümer erfahren, dass das Bootshaus als Wohngebäude gar nicht genehmigt gewesen sei. Sie hätten dem 79-Jährigen sogar eine neue Wohnung besorgt. Der Mietvertrag dafür hätte am Tattag unterschrieben werden sollen.
"Ohne dass es im Vorfeld Streit oder Drohungen gegeben hätte, entschied der Mann aber wohl, die aus seiner Sicht für seinen bevorstehenden Umzug Verantwortlichen zu töten und sich selbst das Leben zu nehmen", heißt es in der Pressemitteilung weiter. Tatsächlich? Man hätte gerne die Vorbesitzerin gefragt, ob es stimmt, was der rbb berichtet hatte: dass sich Dieter S. ein lebenslanges Wohnrecht ausgehandelt hatte. Und wenn ja, wie er diesen Anspruch begründet hatte. War es eine Treueprämie für jahrelange Mitarbeit?
Ein Nachbar spricht von einer Verzweiflungstat
Aber die Firma gibt es nicht mehr, ihre Eigentümerin ist wie vom Erdboden verschwunden. Und in der Akademischen Rudergemeinschaft, die ihre Räume neben den "Havel Logen" hat, hat man Zweifel an der Version der Staatsanwaltschaft. Er könne immer noch nicht glauben, was am Samstag geschehen sei, sagt ein Ruderer, der seinen Namen lieber nicht im Internet lesen möchte. Eine hochschwangere Frau, die ihren Lebensgefährten verloren habe. Schrecklich.
Noch weniger könne er glauben, dass es sich bei dem Täter um Dieter S. handeln soll. Dabei kennt auch er den Mann bloß vom Sehen, wie er erzählt. Auf dem Weg zur Rudergemeinschaft musste er an der Bank vorbei, auf der der 79-Jährige immer saß. Er sagt, er sei manchmal stehen geblieben, um mit ihm zu plaudern. Ein netter Typ sei das gewesen, obgleich sehr zurückhaltend.
Der Ruderer sagt, er verstehe nicht, warum es die Betreiber so eilig damit hatten, S. loszuwerden. "Die Bauarbeiten hatten noch gar nicht angefangen. Der alte Mann hat niemanden gestört." Er wolle die Tat nicht beschönigen. Aber er könne sich vorstellen, dass S. verzweifelt gewesen sei. Denn Geld habe der wohl nicht gehabt. "Und wie soll man mit 79 Jahren noch mal woanders ganz von vorne anfangen, wenn man sein Leben an so einem traumhaften Ort verbracht hat?"
- Reporter vor Ort
- Pressemitteilung der Generalstaatsanwaltschaft Berlin vom 25. Juli 2022