Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.30 Jahre verhüllter Reichstag Mit Christo fiel der Vorhang für die alte Bundesrepublik

In diesem Jahr ist es 30 Jahre her, dass Christo den Berliner Reichstag verhüllt hat. Wie hat sich Berlin damals angefühlt? Eine Erinnerung.
Es ist wahrscheinlich das erste Sommermärchen, das Berlin je geschrieben hat. Doch statt auf Tricks und Tore wartet die Hauptstadt im Juni 1995 gespannt auf silbrig glänzende Stoffbahnen aus Polypropylen-Gewebe, mit denen der Verpackungskünstler Christo den Reichstag verhüllen würde.
Am 24. Juni 1995 ist es so weit: Von diesem Tag an funkelt der heutige Dienstsitz des Deutschen Bundestags zwei Wochen lang in der Berliner Sommersonne. Die Nachwendezeit hatte in der heutigen Hauptstadt für eine bis dato nicht dagewesene Art der Vergnügungssucht gesorgt. Und es sollte Christo sein, der diese Sucht im wiedervereinigten Berlin erstmals im ganz großen Stil befriedigen wird.
Etwa fünf Millionen Menschen kommen in die Mitte Berlins, um zu sehen, was da vor sich geht. Die Massen machen aus der Reichstagsverhüllung ein Event, das über das bloße Betrachten von Kunst hinausgeht. Man trifft sich, ob verabredet oder zufällig, zum gemeinsamen Christo-Gucken. Die Menschen picknicken im Schatten der Kunst auf der Reichstagswiese, zahlreiche Straßenkünstler wittern eine schnelle Mark. Die bloße Gegenwart des verhüllten Reichstags hüllt Berlin in einen Schleier der Wohligkeit.
In Berlin entsteht ein neues gesamtdeutsches Wir-Gefühl
Das Berliner Zentrum wird für zwei Wochen zur Begegnungsstätte von Generationen, Kulturen und Religionen. Die Besucher – vor allem die Berliner – bekommen vor Augen geführt: In Berlin tut sich was, die Stadt ist cool geworden, die Stadt ist gefragt. Zwar gibt es zu dieser Zeit auch schon die Loveparade, doch zum richtigen Massenevent wird sogar der Technomusik-Umzug erst Ende der Neunzigerjahre.

Erinnerung an 1995
Von Pfingstmontag bis zum 20. Juni wird jeweils ab 21.30 Uhr das Bild des verhüllten Reichstags auf dessen Fassade projiziert. Für die Erinnerung zum Jubiläum von Christos Kunstaktion in Berlin sollen 24 Hochleistungsprojektoren sorgen.
Kurzum: Durch die Verhüllung des Reichstags stellt sich zum ersten Mal nach dem Mauerfall ein neues gesamtdeutsches Wir-Gefühl ein. Der Verpackungskünstler Christo hatte es geschafft, mit seiner schon damals über 20 Jahre alten Idee für einen Hauptstadt-Hype zu sorgen.
Kohl und Schäuble sind gegen die Verhüllung des Reichstags
Doch bis dahin ist es ein harter Kampf gegen die konservativen Kräfte der alten Bundesrepublik. CDU-Granden wie der damalige Bundeskanzler Helmut Kohl und der damalige Unionsfraktionsvorsitzende Wolfgang Schäuble etwa sind noch Anfang der Neunzigerjahre entschiedene Gegner einer Verhüllung des Reichstags.
Doch im Februar 1994 steht der Wind des Wandels offensichtlich günstig. Der Regierungsumzug von Bonn in die Hauptstadt ist zwar schon beschlossen – zu diesem Zeitpunkt ist er aber noch fünf Jahre hin. Auch die dafür vorgesehenen Umbauarbeiten am zukünftigen Parlamentsgebäude haben noch nicht begonnen, als mehrere Bundestagsabgeordnete fraktionsübergreifend einen Antrag für die Verhüllung des Reichstags im Parlament einbringen.
"Aktion gegen nationales und sonstiges deutsches Spießertum"
Es ist ein hartes Ringen um das Anliegen. Die Gegner der Reichstagsverhüllung sehen das im Positiven wie im Negativen geschichtsträchtige Bauwerk durch eine Kunstaktion entwürdigt. Die Befürworter sehen in der Verhüllung und der anschließenden Enthüllung des Reichstags ein Symbol neu erwachter Demokratie nach der Wende in Deutschland sowie "eine spektakuläre Aktion gegen nationales und sonstiges deutsches Spießertum", wie es der damalige fraktionslose Abgeordnete Ulrich Briefs formulierte.
Das Ergebnis der Abstimmung können die Berliner im Sommer 1995 bestaunen, als die Verhüllung des Reichstags durch den Verpackungskünstler Christo und ein neues Berlin-Gefühl Realität werden – und mit silbrigen Stoffbahnen gleichsam der Vorhang für die alte Bundesrepublik fällt.
- Eigene Erinnerungen
- bundestag.de: Vor 30 Jahren: Bundestag erlaubt Reichstagsverhüllung
- bundestag.de: Chronik der Verhüllung des Reichstagsgebäudes 1995
- visitberlin.de: Verhüllter Reichstag in Berlin: Die Freiheit der Kunst