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Diskriminierung in NRW: Jobcenter schickt Blinden Briefe, die sie nicht lesen können


Diskriminierung in NRW
Jobcenter schickt Blinden Briefe, die sie nicht lesen können

Von t-online, olf

Aktualisiert am 05.05.2023Lesedauer: 4 Min.
Eine Frau auf dem Weg zum Jobcenter (Symbolfoto): Vielen Blinden macht der Weg zum Jobcenter Angst.Vergrößern des BildesEine Frau auf dem Weg zum Jobcenter (Symbolfoto): Vielen Blinden macht der Weg zum Jobcenter Angst.
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Briefe statt Telefonate und Betreuer ohne Mitgefühl: Manche Jobcenter halten sich im Umgang mit behinderten Menschen offenbar nicht ans Gesetz.

Tatjana Kordić Aguiar ist eine Frau, die viele Träume hat – trotz oder gerade wegen ihrer Behinderung. Aguiar ist seit ihrer Kindheit blind. Dennoch studierte sie nach der Schule Tourismusmanagement und verließ 2015 die Uni mit einem Bachelor. Sie träumte davon, nach dem Studium in einer deutschen Metropole bei einer Messegesellschaft zu arbeiten. Doch als Blinde fand sie bei niemandem einen Job – also blieb Aguiar nichts anderes übrig als der Weg zum Jobcenter. Dort beantragte sie Hartz IV und eine Odyssee begann.

Der heutige Freitag ist der Europäische Protesttag zur Gleichstellung von Menschen mit Behinderung, er findet unter dem Motto "Zukunft barrierefrei gestalten" statt. Denn auch im Jahr 2023 gibt es noch viele nicht umgesetzte Forderungen für die Gleichstellung von Menschen mit Behinderung. So auch beim Jobcenter.

Blinde sollen Führerschein machen

Dort werden Sehbehinderte beziehungsweise Menschen mit Behinderungen in vielen Fällen von einem speziellen Reha- oder Inklusionsbeauftragten betreut. Diese seien speziell auf die Anliegen behinderter Menschen geschult, heißt es bei der Agentur für Arbeit. Allerdings könne jedes Jobcenter selbst entscheiden, ob es Reha- oder Inklusionsbeauftragte anstelle oder nicht.

Nur da, wo es sie gibt, scheinen sie auch keine Garantie für die notwendige Unterstützung zu sein. Diese Erfahrung hat zumindest Kordić Aguiar gemacht. Als sie sich 2015 nach dem Studium arbeitslos melden musste, empfahl ihr Rehaberater einen Job. Allerdings wurde in der Ausschreibung betont, dass der Arbeitsplatz nur mit einem Auto zu erreichen sei. Als sie ihm sagte, dass sie weder Auto noch Führerschein habe, versicherte er ihr, das sei kein Problem, das Jobcenter werde ihr beides schon finanzieren. Erst als sie ihn nochmals daran erinnerte, dass sie blind sei, ließ er von dem Vorschlag mit den Worten ab: "Ach ja, da war ja was."

Briefe für Blinde

Das Behindertengleichstellungsgesetz schreibt in Paragraf 10, Abschnitt 2, explizit vor, dass Menschen mit Sehbehinderung offizielle Schreiben in einer Form zur Verfügung gestellt werden müssen, die für sie lesbar sind. Daran halten sich nicht alle Jobcenter.

Das sagt Helena Steinhaus vom Verein "Sanktionsfrei". Sie setzt sich im Verein für Menschen ein, die Bürgergeld bekommen und macht auf einen weiteren Fall von Diskriminierung aufmerksam: "Tim ist blind. Das Jobcenter weigert sich, ihm seine Post barrierefrei zuzustellen. Es droht immer wieder mit Sanktionen, wenn er Termine nicht wahrnimmt, von denen er teilweise gar nichts weiß, weil er die Post nicht lesen kann."

Im Schreiben an Tim hieß es: "Leider ist es dem Jobcenter noch nicht möglich, Unterlagen in Braille zukommen zu lassen." Thomas Plück kennt dieses Problem: "Ich habe immer Briefe bekommen, obwohl ich um Anrufe oder E-Mail-Kontakt gebeten hatte", sagt er. Er ist selbst blind, arbeitet beim Interessensverband behinderter Menschen "Selbstbestimmt leben" in Köln und hört regelmäßig von Diskriminierungen behinderter Menschen beim Jobcenter.

Software und Geräte stehen zur Verfügung

Er vermutet daher, dass strukturelle Diskriminierungen weiter bestehen. "Es sind nicht nur die Sachbearbeiter, auch die Webseite ist nach wie vor nicht barrierefrei", sagt Plück. Sein Screenreader, ein spezielles Lesegerät für Blinde, könne sie zwar vorlesen, aber viele der PDFs seien nicht barrierefrei aufbereitet. Bilder und Grafiken könne der Screenreader so nicht wiedergeben und Tabellen würden pro Spalte und nicht pro Zeile vorgelesen.

Die Bundesagentur für Arbeit bestreitet Diskriminierungen von behinderten Menschen. Ihren Sachbearbeitern stünden Geräte und Software zur Verfügung, mit denen Briefe in Braille, also Blindenschrift geschrieben werden könnten, sagt eine Sprecherin der Bundesagentur für Arbeit. Außerdem habe die Webseite der Agentur für Arbeit ein eigenes Tool, das mögliche Barrieren für behinderte Menschen an Mitarbeiter melden würde. Von Problemen mit PDF-Dokumenten höre man dagegen zum ersten Mal, so die Sprecherin.

Hilfsmittel helfen nicht jedem

Krankenkassen übernehmen nach individueller Prüfung die Kosten für Hilfsgeräte wie Lesegeräte. Bei Bedarf kann Menschen mit Behinderung auch ein Betreuer zur Seite gestellt werden, der ihnen bei den täglichen Aufgaben des Lebens hilft.

Damit sei das Problem aber nicht gelöst, sagt Plück vom Interessensverband behinderter Menschen. Nicht alle Menschen mit Behinderung wollten einen Betreuer, da sie sich dadurch in ihrer Autonomie beschnitten sähen. Und nicht allen stehe überhaupt einer zu. Das Problem der Geräte sei, dass viele Menschen nicht wüssten, wie sie mit diesen umgehen sollen. Zusätzlich stellt er sich die Frage, wie blinde Menschen überhaupt von der Beratungsmöglichkeit erfahren sollen, wenn Informationen dazu nur in gedruckter Form oder auf der Webseite zu finden seien, die Menschen ohne Hilfsmittel nicht lesen könnten. "Da beißt sich die Katze doch in den Schwanz", sagt Plück.

Tatjana Kordić Aguiar erinnert sich mit Schrecken an ihre sechsjährige Arbeitslosigkeit, psychisch sei das sehr hart gewesen, sagt sie. Mittlerweile arbeitet sie als Qualitätsmanagerin bei einem Kundenservice-Unternehmen. Diese Stelle hat sie allerdings ohne Hilfe des Jobcenters und ihres Rehabeauftragten gefunden.

Verwendete Quellen
  • Eigene Recherchen
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