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Wer ist der unbekannte dritte Mann?
Hat Gil Ofarim den antisemitischen Angriff auf ihn erfunden? Davon ist die Staatsanwaltschaft Leipzig ĂŒberzeugt. Doch ihre Anklage steht auf wackeligen FĂŒĂen â denn die Beweismittel haben eine entscheidende SchwĂ€che.
Das Wichtigste im Ăberblick
- 1. Der unbekannte dritte Mann
- 2. Die Ăberwachungsvideos: ohne Ton, unvollstĂ€ndig, von schlechter QualitĂ€t
- 3. Der Nachweis einer wissentlichen LĂŒge ist fast unmöglich
- 4. GroĂer politischer Druck
- 5. Blockbildung in der Ăffentlichkeit
- 6. Eine extreme Fallhöhe fĂŒr beide Parteien
- 7. Die aufgeheizte öffentliche Diskussion â und ein lokalpatriotisches Sentiment
Als die Leipziger Staatsanwaltschaft Ende MĂ€rz erklĂ€rte, die Ermittlungen im Fall Gil Ofarim seien beendet, sorgte vor allem ein Punkt fĂŒr Aufsehen: Der Musiker Ofarim wurde wegen Verleumdung und falscher VerdĂ€chtigung angeklagt.
Dass das Verfahren gegen einen Mitarbeiter des Leipziger Hotels Westin eingestellt werden wĂŒrde, war zu erwarten. Ofarim hatte diesen im Oktober beschuldigt, ihn antisemitisch beleidigt zu haben â ein Vorwurf, der sich angesichts der dĂŒnnen Indizienlage kaum untermauern lĂ€sst. Es steht Aussage gegen Aussage.
Ofarim versus Hotel Westin: Aussage gegen Aussage
Ebenso erwartbar wÀre die Einstellung des parallel laufenden Verfahrens gegen Ofarim gewesen, den der Hotelmitarbeiter wiederum wegen Verleumdung angezeigt hatte. Denn auch hier steht nach wie vor Aussage gegen Aussage, harte Beweise sind bisher nicht bekannt.
Doch die Ermittler entschieden anders. Sie werfen Ofarim "falsche VerdÀchtigung in zwei FÀllen, davon einmal in Tateinheit mit Verleumdung" vor, schrieb die Staatsanwaltschaft Leipzig am 31. MÀrz. Das "Geschehen, wie es von Gil Ofarim in seinem veröffentlichten Video geschildert worden ist", habe sich "tatsÀchlich so nicht ereignet."
Man werde die Ermittlungsergebnisse an das Landgericht Leipzig weitergeben, das nun entscheiden muss, ob es den Prozess gegen Ofarim zulÀsst oder nicht.
Staatsanwaltschaft Leipzig: "Alles getan, um aufzuklÀren"
Nach dieser Entscheidung der Staatsanwaltschaft scheint die Sache fĂŒr viele klar zu sein: Der SĂ€nger habe gelogen, die antisemitischen Angriffe gegen ihn habe es anscheinend gar nicht gegeben.
Doch so klar ist die ganze Sache keineswegs. Die Ermittler jedenfalls hĂŒllen sich in eisernes Schweigen ĂŒber die Indizien, die dazu gefĂŒhrt haben, Ofarim anzuklagen. "Wir haben das Wesentliche dargestellt und Ă€uĂern uns nicht zu Einzelheiten", sagt Oberstaatsanwalt Ricardo Schulz, Sprecher der Leipziger Staatsanwaltschaft, zu t-online.
Seine Behörde hat zu dem Vorfall, der nur einige Minuten dauerte, ein halbes Jahr lang aufwendig ermittelt, mehr als dreiĂig Zeugen befragt, ein Video-Gutachten in Auftrag gegeben. Schulz zeigt sich erleichtert, dass das langwierige Verfahren nun vorbei ist, natĂŒrlich sei man froh, wenn so umfangreiche Ermittlungen abgeschlossen sind, sagt er. "Wir haben alles getan, um aufzuklĂ€ren."
Auf die Frage, wie man Ofarim eine wissentliche LĂŒge nachweisen wolle, gibt er jedoch keine Antwort. Viele Fragen in dem komplexen Verfahren sind weiterhin offen. Ob das Landgericht die Anklage ĂŒberhaupt zulĂ€sst, ist keinesfalls sicher. Doch warum sind die Ermittlungen im Fall Ofarim eigentlich so schwierig? DafĂŒr gibt es sieben GrĂŒnde.
1. Der unbekannte dritte Mann
Ein entscheidendes Detail im Fall Gil Ofarim ist bis heute nicht geklÀrt: Wer ist der mysteriöse Hotelgast, der laut Ofarim die ganze AffÀre erst auslöste? Die Polizei konnte ihn nicht finden, die Staatsanwaltschaft bezeichnet ihn in ihrem Statement zur Anklageerhebung vom 31. MÀrz ganz nebenbei als "einen unbekannt gebliebenen Hotelgast".
Denn eigentlich geht es nicht nur um den bekannt gewordenen Westin-Hotelmitarbeiter "Herrn W.", sondern auch um eben jenen Hotelgast, der laut Ofarim "aus einer Ecke" etwas gerufen habe, was der SĂ€nger als "Pack deinen Stern ein" verstanden habe â gemeint gewesen sei Ofarims Kette mit dem Davidstern. Diese Aufforderung habe der Hotelangestellte dann wiederholt, sagte Ofarim.
Es gibt einen Verdacht, wer diese Person sein könnte â sie zeigt sich an mehreren Stellen auf den Ăberwachungsvideos des Hotels.
Diese Videos von dem Abend zeigen zwei Szenen: Aufnahmen vom Eingangsbereich drauĂen vor dem Hotel sowie Bilder aus der Lobby im Inneren des GebĂ€udes. In der ersten sieht man, wie Ofarim ankommt. Er wird mit einem grauen Kombi gebracht, steigt aus und verabschiedet sich von seiner Fahrerin. AnschlieĂend steht der SĂ€nger mit seinem GepĂ€ck und der Gitarre eine Weile vor der DrehtĂŒr des Hotels und sucht seine Maske.
WĂ€hrenddessen steht direkt neben ihm ein Mann mittleren Alters mit weiĂer Jacke. Er dampft offensichtlich eine E-Zigarette und beobachtet Ofarims Ankunft sehr interessiert minutenlang aus nĂ€chster NĂ€he. Der Mann schaut anschlieĂend zu, wie Ofarim das Hotel betritt und geht ihm hinterher.
Die Aufnahmen aus dem Inneren des Hotels zeigen den Mann und Ofarim noch einmal, wie sie in die Lobby gehen. Wieder einige Minuten spÀter kommt die Szene am Schalter, von der Ofarim sagt, er habe dem Hotelmitarbeiter berichtet, jemand habe "Pack deinen Stern ein" gesagt. Dabei zeigt Ofarim mehrfach hinter sich auf die Schlange, als wolle er andeuten: Von dort kam der Ruf.
Ein weiterer Kamerawinkel zeigt: Genau dort, wo Ofarim hindeutet, hinter ihm in der Schlange, steht der Mann mit der E-Zigarette, der Ofarim vor dem Hotel so interessiert beobachtet hatte. Darauf folgt ein kurzes, offensichtlich erregtes StreitgesprÀch zwischen Ofarim und dem Mitarbeiter.
Dieser zuckt mit den Schultern, Ofarim klatscht aufgeregt in die HĂ€nde. Dann kommt der Moment, der fĂŒr Ofarim wohl das Fass zum Ăberlaufen brachte: Der Hotelmitarbeiter zieht ihm deutlich sichtbar das Anmeldeformular unter der Nase weg, das Ofarim gerade ausfĂŒllen wollte, nachdem er sich beschwert hatte.
SpĂ€ter wird Ofarim aussagen, dass er "generell als Jude diskriminiert werden sollte, so habe ich das empfunden, weil man mich erkannt hat." Wer ist der dritte Mann? War es der Mann in der weiĂen Jacke? Hat er Ofarim schon vor dem Hotel als den jĂŒdischen Musiker erkannt, der im Fernsehen ĂŒblicherweise mit Davidstern auftritt?
2. Die Ăberwachungsvideos: ohne Ton, unvollstĂ€ndig, von schlechter QualitĂ€t
Es gibt etwa zwanzig Minuten Videomaterial von den VorgĂ€ngen im Leipziger Hotel Westin und eine Sequenz von 23 Minuten, die sich nach dem Vorfall abspielte und zeigt, wie Ofarim drauĂen vor dem Hotel sitzt, ĂŒberlegt, telefoniert und dann das Instagram-Video aufnimmt.
Das gesamte Material hat eine ganz entscheidende SchwÀche: Es gibt keinen Ton. Man sieht also nur Ofarim sowie GÀste und Mitarbeiter des Hotels, wie sie gestikulieren und miteinander interagieren. Wer was gesagt hat, lÀsst sich mit diesen Aufnahmen unmöglich rekonstruieren.
Da wĂŒrde auch kein Lippenleser helfen, denn die Lippen erkennt man auf den Videos nicht â was ihre zweite SchwĂ€che offenbart, nĂ€mlich die schlechte AufnahmequalitĂ€t. Die Frage, ob Ofarim seine Kette mit Davidstern sichtbar getragen hat oder nicht, lĂ€sst sich anhand der Videos nicht zweifelsfrei klĂ€ren.
Diese Frage, um die es lange ging, wĂŒrde ĂŒbrigens weniger wichtig, wenn der Hintergrund des E-Zigaretten-Dampfers geklĂ€rt werden könnte. Denn dieser könnte Ofarim durchaus schon vor dem Hoteleingang auch ohne seinen Stern erkannt haben.
Zudem beklagte Ofarim in einem Interview mit SternTV im Herbst 2021, dass nicht das gesamte Videomaterial vorhanden sei. Bestimmte Stellen wĂŒrden in den Aufnahmen fehlen. Es ist ein Vorwurf, zu dem die Staatsanwaltschaft keine Auskunft geben möchte. In eine dieser LĂŒcken könnte der angebliche Ausruf "Pack deinen Stern ein" des bisher unbekannten Hotelgastes fallen.
Doch wir wissen nicht, ob es ihn tatsÀchlich gab, diesen Ausruf. Und auch die Videos werden diese Frage nicht klÀren können, denn sie sind ohne Ton.
Doch trug Ofarim ĂŒberhaupt seinen Stern bei sich, den er in seinem Instagram-Video in die Kamera hĂ€lt? Ein vom Hotel selbst bestelltes Videogutachten kommt jedenfalls zu dem Schluss, dass der Stern in der Lobby nicht sichtbar gewesen sei â doch getragen haben muss er ihn, das zeigen die Aufnahmen der Ăberwachungskameras.
Denn Ofarim ist hier vollstĂ€ndig sichtbar, vom Verlassen der Lobby bis zur Aufnahme seines Videos. Ein Ăberstreifen der Kette mit dem Davidstern ist nicht zu sehen. Ofarim muss sie also die ganze Zeit getragen haben, möglicherweise unter seinem Shirt oder verdeckt durch die Jacke.
3. Der Nachweis einer wissentlichen LĂŒge ist fast unmöglich
Das gröĂte Problem der nun von der Staatsanwaltschaft verfassten Anklageerhebung ist wohl der zentrale Vorwurf, Gil Ofarim habe "mit dem Wissen um die Unwahrheit seiner Aussagen" den Hotelmitarbeiter verleumdet und diesen spĂ€ter bei der Polizei "wider besseres Wissen auch wegen des Tatvorwurfs der falschen VerdĂ€chtigung angezeigt". Ofarim habe also mehrfach bewusst gelogen â einmal in seinem Instagram-Video und ein paar Tage spĂ€ter, als er bei der Polizei Anzeige erstattete.
Nun ist es nicht leicht, jemandem eine bewusste LĂŒge nachzuweisen â ohne deutliche Beweise. Am Ende gilt immer: Im Zweifel fĂŒr den Angeklagten. Die Staatsanwaltschaft hat nach eigenem Bekunden "zahlreiche Zeugen vernommen und einen digitalforensischen SachverstĂ€ndigen mit der Sichtung und Begutachtung der sichergestellten Videoaufnahmen mehrerer Ăberwachungskameras im Hotelbereich beauftragt."
Die Videos, zumindest die der Ăffentlichkeit bekannten, tragen â das kann man sicher sagen â nicht sehr viel zur AufklĂ€rung des Vorwurfs der LĂŒge bei. HauptsĂ€chlich deshalb, weil ihnen der Ton fehlt.
Bleiben die Zeugenaussagen. Ob sich aber allein damit nachweisen lĂ€sst, dass Ofarim gelogen hat, ist sehr zweifelhaft. Denn man mĂŒsste ihm nachweisen, dass er den Ruf aus der Lobby "Pack deinen Stern ein" nicht gehört haben könne â und dass der Hotelangestellte diesen Vorwurf nicht wiederholt habe.
Die vom Hotel beauftragten Gutachter fanden jedenfalls keinen Zeugen in der Lobby, der die Worte gehört hat. Das legt erst mal nahe, dass es sie nicht gegeben hat. Jedoch ist das noch kein Beweis dafĂŒr, dass es sie tatsĂ€chlich nie gab. Es ist ein Riesendilemma fĂŒr die Ermittler: ohne Tonaufnahmen nachzuweisen, dass es den Ausruf nicht gab. Aber nur mit diesem Nachweis könnte man Ofarim der wissentlichen LĂŒge ĂŒberfĂŒhren. Das ist der ganze Knackpunkt des Verfahrens.
Hier steht Aussage gegen Aussage, daran hat sich bis jetzt nichts geÀndert. Und wenn Ofarim kein GestÀndnis ablegt, wird sich die Sache kaum klÀren lassen.
4. GroĂer politischer Druck
Von Anfang an war der politische Druck im Fall Ofarim enorm. Erzeugt wurde er von der anfĂ€nglichen Empörung ĂŒber die VorwĂŒrfe, einer Demo mit 600 Menschen vor dem Hotel Westin und dem Sturm, der durch die sozialen Medien zog. Die "New York Times" und CNN berichteten, der damalige AuĂenminister Heiko Maas (SPD) habe geschrieben, er sei "fassungslos".
Auch sĂ€chsische Spitzenpolitiker gaben frĂŒhe Statements ab, die sĂ€chsische Justizministerin Katja Meier (GrĂŒne) und Wirtschaftsminister Martin Dulig (SPD) Ă€uĂerten deutlich ihre Empörung. Leider stellten sie aber Ofarims VorwĂŒrfe als Fakten hin, gaben seine Kolportage als Tatsache weiter, forderten Konsequenzen und Entschuldigungen. Solche ĂuĂerungen waren angesichts der Faktenlage unklug. Und schon kurze Zeit spĂ€ter kamen sie daher zurĂŒck wie ein Bumerang.
Dulig schrieb auch: "Wir haben noch viel zu tun in Sachsen." Dieser und Ă€hnliche Kommentare gaben dem Konflikt einen neuen Dreh, denn nun fĂŒhlte sich halb Sachsen beleidigt. Es gibt in Sachsen eine starke Fraktion konservativer Politiker, denen der Ruf des Freistaates ĂŒber alles geht und die genervt sind vom Bild des Sachsen als rechtem und wenig tolerantem Zeitgenossen.
Trotzdem war der Einstieg der sÀchsischen CDU in die Zweifel an Ofarims Darstellung zunÀchst vorsichtig. Man solle die Ermittlungen abwarten, schrieb Innenminister Roland Wöller (CDU).
Klar war aber auch, dass damit die Hoffnung verbunden wurde, der ramponierte Ruf des Freistaates möge unter den Ergebnissen nicht leiden. Hinter den Kulissen jedoch stieg der Druck hinsichtlich einer Entlastung der sĂ€chsischen Seele von den VorwĂŒrfen.
Er entlud sich schlieĂlich in einem recht wilden Statement des mĂ€chtigsten Politikers des Landes, MinisterprĂ€sident Michael Kretschmer (CDU). Der hatte sich zunĂ€chst weise zurĂŒckgehalten â stieg aber Ende MĂ€rz mit einer stark umstrittenen Nachricht auf Twitter voll ein â auf der anderen Seite: "Das Schlimmste ist, jemanden als Antisemit zu bezeichnen. Dies fĂŒr Falschaussagen und Verleumdung zu missbrauchen, ist schockierend und zutiefst verachtenswert", schrieb Kretschmer noch am Tag der Bekanntgabe des staatsanwaltlichen Ermittlungsergebnisses.
Kretschmer beging hier denselben Fehler wie zuvor seine Kollegen: Er ignorierte die Unschuldsvermutung und stellte die Ergebnisse der Ermittlungen als Fakten dar. Jedoch sind diese Ergebnisse offenbar wackelig â und vor einem gerichtlichen Urteil nicht geeignet, den Fall abschlieĂend bewerten zu können.
5. Blockbildung in der Ăffentlichkeit
Der Fall Ofarim wurde damit sehr schnell zu einer "Frage der Ehre", um es einmal prosaisch auszudrĂŒcken: Auf der einen Seite steht der Sachsenstolz in Politik, breiten Teilen der Bevölkerung und bei einigen Medienschaffenden. Auf der anderen Seite steht der Kampf gegen Antisemitismus, der in Deutschland ganz besonderes Gewicht hat â und die Hoffnung, dass dieser Kampf nicht durch eine falsche Bezichtigung geschwĂ€cht wird.
Die Vorzeichen haben sich dabei schnell umgekehrt: SpĂ€testens nach der Weitergabe des hotelinternen Untersuchungsberichts an die Leipziger Dependance der "Zeit" Ende Oktober waren die Ofarim-Zweifler in der Offensive. FĂŒr viele Kommentatoren in den sozialen Medien war jetzt alles klar â und wie so hĂ€ufig in solchen FĂ€llen brach sich offener Antisemitismus Bahn.
Doch auch seriöse Medien ergriffen mehr oder weniger deutlich Partei, allen voran die "Leipziger Volkszeitung", die am Tag nach der Anklageerhebung den Leipziger Westin-Chef im groĂen Aufmacher zitierte: "Uns war immer klar, dass die Anschuldigungen erstunken und erlogen sind."
6. Eine extreme Fallhöhe fĂŒr beide Parteien
Vor allem durch das riesige öffentliche, sogar internationale Interesse ist die Fallhöhe fĂŒr beide Parteien in dieser Geschichte enorm: sowohl fĂŒr Gil Ofarim wie auch fĂŒr das Hotel Westin und den dahinterstehenden, internationalen Konzern Marriot.
Dass es hier fĂŒr beide um alles geht, erschwert eine leise Einigung, sollte es sich tatsĂ€chlich nur um ein MissverstĂ€ndnis gehandelt haben. Denn die enorme Fallhöhe motiviert beide Parteien, nach Möglichkeit als zweifelsfrei unschuldig aus der Angelegenheit hinauszugehen.
Seit die Staatsanwaltschaft die Ermittlungen gegen den Hotelmitarbeiter eingestellt hat, scheint das Westin rehabilitiert zu sein â aber der Weg dahin war lang â und das lĂ€sst durchaus vermuten, dass die Ermittlungen und die öffentliche Meinung ganz entscheidend beeinflusst wurden.
Denn die Betreiber des Westin gaben noch im Oktober bei der Anwaltskanzlei Pauka und Link ein Gutachten in Auftrag, das den Vorfall im Hotel untersuchen sollte. Es kam zu dem Schluss, dass die Anschuldigungen Ofarims zweifelhaft, wenn nicht sogar falsch seien. WĂ€re die Fallhöhe nicht so groĂ, hĂ€tte die Firma keinen mehr als 170 Seiten umfassenden Bericht erstellen lassen.
Zumindest eigenartig wĂ€re, sollten sich die GerĂŒchte bewahrheiten, dass die Staatsanwaltschaft privaten Ermittlern Einblick in ihre Ermittlungen gewĂ€hrt hat. Fest steht aber, dass die Weitergabe des privaten Gutachtens an bestimmte Medien den öffentlichen Diskurs zugunsten der Partei Westin und Marriot drehte.
Gil Ofarim hingegen reagierte auf die neuen Entwicklungen in dem Fall zunĂ€chst mit Flucht aus der Ăffentlichkeit und den sozialen Medien. Eine Woche nach der Leipziger Anklage reaktivierte er seine Profile im Internet aber wieder. Im Rahmen des TV-Events "Die Passion" war er im April sogar im Fernsehen zu sehen.
Trotzdem geht es fĂŒr ihn jetzt um alles. Denn sicherlich hĂ€tte sich die Karriere des Musikers erledigt, sollte er tatsĂ€chlich wegen Verleumdung und falscher VerdĂ€chtigung verurteilt werden. Zudem drohte ihm im Falle eines Schuldspruchs ein Zivilprozess, der hohe Schadenersatzzahlungen nach sich ziehen könnte.
Aber es könnte noch schlimmer kommen: Am hĂ€rtesten wĂ€re wohl der persönliche Schaden, denn Gil Ofarim stammt aus einer berĂŒhmten jĂŒdischen Familie. Sein Vater Abi Ofarim, geboren in Tel Aviv, war als SĂ€nger international bekannt.
Der Vorwurf, Gil Ofarim habe eine Beschuldigung wegen Antisemitismus missbraucht, trÀfe schwer. Ofarim bezeichnet sich zwar selbst als sÀkularen Juden, zeigt aber immer wieder seine tiefe Identifikation mit dem Judentum.
7. Die aufgeheizte öffentliche Diskussion â und ein lokalpatriotisches Sentiment
Wenn auch im Fall Ofarim wenig völlig klar ist â eins ist absolut sicher: Das öffentliche Interesse an dem Fall ist gigantisch. Der Grund dafĂŒr heiĂt Antisemitismus. Im Fall Ofarim mischt sich dieses groĂe Thema noch mit einer ganz besonderen Spielart der Heimatliebe, nĂ€mlich dem Sachsenstolz.
Zumindest vor Ort ist deutlich spĂŒrbar, dass die VorwĂŒrfe Ofarims an zwei Einzelpersonen in einem Hotel sehr bald als Beleidigung eines ganzen Bundeslandes empfunden wurden. An welchem Punkt das eigentlich geschah, ist wohl nicht mehr zu klĂ€ren.
Zweifellos hatte dieses Sentiment aber Einfluss auf die Wahrnehmung der Ermittlungen â und vielleicht auch auf Entscheidungen, die innerhalb der Behörden getroffen wurden. Klar ist zudem, dass ein derart groĂes Interesse bei gleichzeitig dĂŒnner Faktenlage die behördlichen Ermittlungen deutlich erschweren kann. Und auch die Arbeit bei Gericht wird durch eine groĂe Ăffentlichkeit und Vorverurteilungen von prominenter Stelle nicht einfacher.
Denn es liegt eine groĂe Last auf den Schultern der Justizmitarbeiter. Im schlimmsten Fall kommt der Druck gleichzeitig von der Politik, der Presse und der Massenkommunikation in den sozialen Medien. Und im allerschlimmsten Fall entsteht er durch Blockbildung auch noch von den UnterstĂŒtzern beider Parteien.
Dies alles kommt im Fall Ofarim zusammen. Und das macht die besondere QualitÀt in der Untersuchung der VorfÀlle vom 4. Oktober 2021 im Leipziger Hotel Westin aus.
FĂŒr die Leipziger Staatsanwaltschaft ist die Sache jedenfalls erledigt. Das weiĂ auch Oberstaatsanwalt Schulz: "Unser Part ist abgeschlossen", sagt er. "Jetzt liegt alles in den HĂ€nden des Landgerichtes."