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DFB-Projektleiter Drees: "VAR nicht da, um aus Graubereich Entscheidung zu treffen"


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Streitpunkt Videobeweis
"Diskutieren nur über Situationen, in denen der VAR nicht eingegriffen hat"


20.07.2021Lesedauer: 6 Min.
Bundesliga-Schiedsrichter Sören Storks beim Inspizieren der VAR-Bilder am Spielfeldrand (Symbolbild).Vergrößern des Bildes
Bundesliga-Schiedsrichter Sören Storks beim Inspizieren der VAR-Bilder am Spielfeldrand (Symbolbild). (Quelle: Matthias Koch/imago-images-bilder)

Der Videoschiedsrichter, kurz VAR, ist einer der größten Streitpunkte im modernen Fußball. Die Zukunft des Sports sei ohne ihn jedoch kaum vorstellbar, erklärt Ex-Schiedsrichter Dr. Jochen Drees.

Das Spitzenspiel zwischen Bundesliga-Absteiger Schalke 04 und dem Ex-Bundesligadino Hamburger SV (1:3) eröffnete am Freitagabend die Zweitligasaison 2021/2022. Mit dem Anstoß in der Gelsenkirchener Veltins-Arena feierte auch ein unscheinbarer Keller in Köln-Deutz sein erstes kleines Jubiläum in der Fußball-Öffentlichkeit. Denn zeitgleich startete auch das System des Video Assistant Referees, kurz VAR, in seine bereits fünfte Spielzeit im deutschen Profifußball.

Der langjährige Bundesliga- und Fifa-Schiedsrichter Dr. Jochen Drees stellt dem Hilfsmittel ein wohlwollendes Zeugnis aus. "Ich würde dem VAR in einer internen Bewertung eine Note zwischen gut (zwei) und befriedigend (drei) geben. Nehme ich die äußere Wahrnehmung des Systems mit in Betracht, wäre ich eher bei einer drei", sagt der VAR-Projektleiter des DFB im Gespräch mit t-online.

Drees: "War nie der Ansatz, dass es durch VAR keine Fehler mehr gibt"

Die Unterscheidung in der Benotung erklärt der 51-Jährige wie folgt: "Die Erwartungshaltung an den VAR ist extrem hoch, von ihm wird eine Null-Fehler-Toleranz verlangt. Es war jedoch nie der Ansatz dieses Systems, dass es dadurch im Fußball keine Fehler mehr geben würde. So entsteht eine gewisse Diskrepanz zwischen der äußeren Wahrnehmung des VAR und der internen, durch die Personen, die ihn betreuen."

Festzuhalten sei, so Drees, dass die VAR-Technologie einwandfrei funktioniere. "Bild- oder Tonstörungen waren in der vergangenen Saison so marginal, dass sie den Betrieb nicht aufgehalten haben", betont der frühere Referee. Auch deshalb habe das System sein größtes Verbesserungspotenzial nicht in der eingesetzten und verbauten Technik, sondern in der Anwendung und Interpretation. "Wie wird das Bild, das die Unparteiischen am Spielfeldrand geliefert bekommen, aufbereitet und wie wird die Analyse des Vorgangs durch den Videoassistenten zuvor umgesetzt?", artikuliert Drees nur zwei drängende Fragen.

Solche Fragen muss sich der Hauptschiedsrichter auf dem Spielfeld sowie der Videoassistent im Kölner Keller bei derzeit vier Situationen stellen, in denen der VAR eingreifen darf: Torerzielung, Elfmeter, Rote Karte, Verwechslungen. Der Möglichkeit, dass in naher Zukunft weitere Szenarien dazukommen, steht Drees ablehnend gegenüber.

Dieses Problem birgt die Erweiterung der VAR-Kompetenzen

"Eine Erweiterung der Eingriffsszenarien sehe ich im Moment als nicht notwendig und nicht zielführend, sondern eher als problematisch an", sagt er, und erklärt: "Würde der VAR etwa auch bei der Legitimierung einer Gelb-Roten Karte eingreifen dürfen, würde das einen enormen Denkprozess nach sich ziehen. Denn, es würde nicht genügen, die Rechtmäßigkeit der zweiten Gelben Karte zu kontrollieren, sondern man müsste sich auch noch einmal das Vergehen, das zur ersten Gelben Karte geführt hat, anschauen, da es nur dadurch auch durch die zweite Verwarnung zu einem Platzverweis gekommen ist. Da würde es aber immer noch nicht aufhören: Wir müssten auch jeden Zweikampf vor der ersten Gelben Karte kontrollieren, denn es wäre ja möglich, dass wir bereits vorher eine Gelbe Karte übersehen haben, die so letztendlich doch zu einer Gelb-Roten Karte führen würde."

Statt die Schiedsrichter durch solche schier niemals endenden Teufelskreise zu jagen, plädiert Drees dafür, zu hinterfragen, wann der VAR innerhalb der bestehenden Szenarien eingreift, "sprich: was definieren wir als klaren Fehler, der ein Eingreifen legitimiert"? Die internationalen Fußballregelhüter des Ifab hätten dafür eigentlich eine plausible Faustregel formuliert: "Wenn 100 von 100 Personen sich einen Strafstoßpfiff anschauen und entscheiden, dass es kein Strafstoß ist, soll der VAR eingreifen."

Die Problematik in Deutschland sei jedoch, so erläutert Drees, "dass bereits bei einer Situation, die nur 40 von 100 Personen als Fehlentscheidung ansehen, eine öffentliche Diskussion darüber geführt wird, warum der VAR nicht eingreift." Dadurch werde deutlich stärker in die Spielleitung eingegriffen, da solche interpretierbaren Szenen eigentlich dem Ermessungsspielraum des Hauptschiedsrichters unterliegen. Auch deshalb wird Drees deutlich: "Der Öffentlichkeit muss klar sein, dass der VAR nicht dafür da ist, in solchen strittigen Szenen aus dem Graubereich eine Schwarz-Weiß-Entscheidung zu treffen."

Statistik untermauert Nutzen des VAR

Andererseits gibt es wohl genauso viele Fans, die eben diesen Aspekt monieren: dass der VAR zu viel Einfluss auf den Hauptschiedsrichter ausübt und oftmals über die Rolle des Souffleurs hinausagiert. Drees kennt die Problematik und bietet auch die passende Lösung an. "Eine puristischere Anwendung des VAR wäre sicherlich förderlich für die Akzeptanz", befindet er. "Wir müssen dazu kommen, dass die Videoschiedsrichter nur eingreifen, wenn die Fehlentscheidung klar und offensichtlich ist, dass diese Situation keinen Interpretationsspielraum bietet, etwa, wenn der Ball bei einem gepfiffenen Handspiel die Hand und den Arm nicht einmal berührt hat."

Ist der VAR also nun eher Fluch oder Segen? Drees zieht die Statistik zur Hilfe. "Der Stand nach dem 33. Spieltag der vergangenen Saison war, dass der VAR in der Bundesliga 99 Mal eingegriffen hat. Aufteilen lässt sich das auf 44 Strafstoß-, 44 Tor-, und 11 Rote-Karte-Entscheidungen. In der Analyse kommen wir zu dem Ergebnis, dass eine Intervention des Videoassistenten in 90 Fällen vollkommen richtig war", rechnet der frühere Unparteiische vor. Ein beeindruckendes Ergebnis – das ihm in der Öffentlichkeit jedoch viel zu wenig wertgeschätzt wird.

"Wir diskutieren andauernd nur über die neun Situationen, in denen der VAR – zugegeben – leider nicht eingegriffen hat. Das stimmt mich nachdenklich, weil der Wunsch nach einer technischen Unterstützung des Schiedsrichters nach Fehlentscheidungen aus der Mitte des Fußballs, von Trainern, Spielern und Fans, kam", so Drees, der erzählt, dass die Vereine damals mittels der DFL an die Schiedsrichter herangetreten seien und um die Implementierung des VAR-Systems gebeten haben – nicht andersherum. Drees: "Die Schiedsrichter hielten den Einsatz einer solchen Technologie zum damaligen Zeitpunkt für nicht erforderlich, wollten dem Wunsch der Vereine jedoch nicht im Weg stehen und haben sich im Sinne des Fußballs bereiterklärt diese Revolution mitzugestalten."

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Missen will Drees die Technologie dennoch nicht. Schließlich passieren mit ihr "kaum noch gravierende Fehler", die an den Schiedsrichtern haften bleiben. "Die heutigen Kollegen müssen dank des VAR nicht mehr die ganze Woche überall lesen, wie schlecht ihre Leistung doch war, so wie es zu meiner Zeit immer wieder mal der Fall war", sagt Drees, "das ist aus meiner Sicht der größte Vorteil des VAR für die Schiedsrichter."

Fifa arbeitet an "VAR light"

Ähnlich sieht es auch der Fußballweltverband Fifa, der im November 2020 bekanntgab, an einem "VAR light" zu arbeiten, einer abgespeckten Version, der etwa aus der Bundesliga bekannten Technologie, die potenziell bis hinab in die Kreisliga implementiert werden könnte.

Einen Einsatz des Videosystems im niedrigklassigen Fußball sieht Drees jedoch skeptisch: "Ich verstehe den Ansatz, die Schere zwischen Profi- und Amateurfußball dadurch ein Stück weit zu schließen, jedoch glaube ich nicht, dass der VAR im Freizeitbereich akzeptiert werden würde. Zudem wären die voraussichtlichen Kosten eines 'VAR light' mit der dazugehörigen Kameratechnik sowie die Betreuung des Systems für viele Amateurvereine nicht tragbar." Zum Vergleich: Der Betrieb und die Instandsetzung des aktuell verbreiteten VAR-Systems verursache jedem Bundesligisten pro Saison "Kosten im hohen sechsstelligen Bereich", verrät Drees. Selbst ein Bruchteil dieses Betrags wäre für die meisten unterklassigen Vereine utopisch.

Spielleitung der Zukunft? "Könnte zweiten Schiedsrichter auf dem Feld geben"

Wie weit könnte die Spielleitung im Profibereich, in dem das Geld oftmals deutlich lockerer sitzt, gehen? Erhalten Schiedsrichter bald Livedaten und Infos über die Spieler auf ihre Smartwatches? Bewachen noch mehr Sensoren und Kameras das Spielfeld und führen somit zu weniger Offiziellen auf und ums Feld? Drees fasziniert besonders der Aspekt der Automatisierung.

"Was ich mir für die mittelfristige Zukunft vorstellen kann ist, dass die Abseitsentscheidung automatisiert wird. Arsene Wenger in seiner Rolle als Direktor für Entwicklung bei der Fifa hat angekündigt, dass ein solches System für die WM 2022 in Arbeit ist", so der frühere Weltklasse-Referee. Zwar bleibe er Wengers Zeitplan gegenüber skeptisch, aber: "Ich bin auch davon überzeugt, dass der Schiedsrichter in Zukunft die Abseitsentscheidung auf seiner Uhr angezeigt bekommt."

Auch deshalb kann sich Drees vorstellen, "dass sich die Aufgaben der Schiedsrichterassistenten und -assistentinnen grundsätzlich verändern könnten." Er mutmaßt: "Gegebenenfalls könnte es zum Beispiel einen zweiten Schiedsrichter oder eine zweite Schiedsrichterin auf dem Feld geben, ähnlich wie es bereits im Handball die Praxis ist."

Abseitsentscheidungen bleiben Stoff für Diskussionen

Doch auch ein zweiter Hauptschiedsrichter auf dem Feld würde uns Diskussionen um Abseitsentscheidungen nicht ersparen, ist sich Drees sicher. "Das Regelbuch des Ifab ist die Grundlage der Spielführung – und solange darin steht, dass Abseits ist, wenn ein angreifender Spieler mit einem Körperteil, mit dem er legal ein Tor erzielen kann, näher am gegnerischen Tor ist als der vorletzte verteidigende Spieler, reicht auch ein Zentimeter für einen Abseitspfiff – auf dem Feld und vor dem Bildschirm. Ob das VAR-System technisch in der Lage ist, solche Situationen – mit all ihren Variablen - so exakt auszumessen, darf kritisch hinterfragt werden."

Alternativen, um solche kniffligen Situation besser und präzisier aufzulösen, sieht Drees nicht. Er erläutert: "Sollte es zu einer Regeländerung kommen, die besagt, dass wir etwa erst bei zehn Zentimetern Abseits das Spiel unterbrechen, würden die Zuschauer vor dem Fernsehen sicherlich davon profitieren, die Graubereiche sich jedoch nur verschieben: Was ist mit elf Zentimetern? Können wir einwandfrei nachweisen, dass sie oder er nicht doch nur neun Zentimeter im Abseits stand?"

So zeigt sich ausgerechnet am Beispiel des Abseits einmal mehr: Egal, wie weit die Technisierung des Fußballs fortschreitet, egal, ob mit oder ohne VAR – der Fußball wird nie zu einem Sport ohne Emotionen und Diskussionen verkommen.

Verwendete Quellen
  • Gespräch mit Dr. Jochen Drees
  • Eigene Recherche
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