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Winfried Schäfer über "Blue Girl" im Iran: "Die Angst ist allgegenwärtig"


Winfried Schäfer
Tragödie um weiblichen Fan im Iran: "Die Angst ist allgegenwärtig"

  • David Digili
InterviewVon David Digili

10.10.2019Lesedauer: 6 Min.
Interview
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Aufgabe im Iran: Schäfer trainierte den Spitzenklub Esteghlal von Oktober 2017 bis Sommer 2019.Vergrößern des Bildes
Aufgabe im Iran: Schäfer trainierte den Spitzenklub Esteghlal von Oktober 2017 bis Sommer 2019. (Quelle: imago-images-bilder)

Im Iran zündete sich eine Frau selbst an, weil ihr das Gefängnis drohte. Die Anklage gegen sie: der Besuch eines Fußballspiels. Winfried Schäfer kennt das Land gut. Er erklärt die Lage und greift die Fifa an.

Sahar Khodayari wird der Fußballwelt als "Blue Girl" in Erinnerung bleiben. Die Iranerin und leidenschaftliche Anhängerin des Teheraner Spitzenklubs Esteghlal wollte im März 2019 als Mann verkleidet ins Eizum-Azadi-Stadion der iranischen Hauptstadt, um sich ein Spiel ihrer Lieblingsmannschaft anzuschauen. Die Farbe ihrer Klamotten war blau, weshalb sie im Nachhinein den Namen "Blue Girl" erhielt. Im Iran ist es seit der Islamischen Revolution 1979 Frauen der Besuch von Fußballspielen untersagt – das Mullah-Regime will sie damit vor der "rohen Atmosphäre" im Stadion und dem Anblick "halbnackter Männer" schützen.

Sicherheitskräfte enttarnten Khodayari jedoch, sie wurde festgenommen und auf Kaution vorläufig wieder freigelassen. Noch bevor es im Herbst zu einer Verurteilung kommen konnte, zündete sie sich vor dem Gericht selbst an, starb am 9. September an ihren schweren Verletzungen. Die Tragödie wurde erst Tage später einer breiteren Weltöffentlichkeit bekannt, unter dem Hashtag "#bluegirl" sendeten Fußballstars und Fans ihre Beileidsbekundungen. Esteghlal lief in T-Shirts mit der Aufschrift "Blue Girl" auf. Seitdem wächst der Widerstand in der iranischen Bevölkerung gegen das Verbot.

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Der langjährige Bundesligatrainer Winfried Schäfer stand noch bis Ende April 2019 an der Seitenlinie von Esteghlal, trainierte den Klub fast zwei Jahre lang. Schäfer hat in dieser Zeit die Mentalität der Menschen im 82-Millionen-Einwohner-Land kennengelernt und tiefe Einblicke in ihre Gefühlslage bekommen.

Im Interview spricht der frühere Übungsleiter des Karlsruher SC über die Haltung der iranischen Gesellschaft, die Angst des Regimes – und die besondere Funktion des Fußballs im Land.

t-online.de: Herr Schäfer, die FIFA hat erst nach über einer Woche auf die Verzweiflungstat von "Blue Girl" reagiert zu spät?

Winfried Schäfer (69): Ich bin mir nicht sicher, ob Ihre Leser die Hintergründe dieser Tragödie kennen. Das Mädchen hat sich nicht das Leben genommen, weil sie das Stadion nicht betreten durfte, sondern weil man sie wegen des Versuchs zu sechs Monaten Gefängnis verurteilt hat. Im Iran hat jeder eine klare Vorstellung davon, was in den Gefängnissen geschieht. Ich kann mir nicht vorstellen, dass die Fifa die Zusammenhänge nicht kennt, und ich war enttäuscht, dass es eine so intensive Bewegung auf Instagram brauchte, um die Medien und dann auch die Fifa aufzuwecken.

Was für eine Reaktion hätten Sie sich gewünscht?

Ein klares Ultimatum. Die Liga hatte noch nicht begonnen. Die Fifa hätte sagen müssen: Die Regeln für Gleichberechtigung müssen durchgesetzt werden, andernfalls werden Vereine und Nationalmannschaft vom internationalen Spielbetrieb ausgeschlossen. Keine Kompromisse. Wäre es ein rassistischer Skandal – nehmen wir an, ein Land würde Menschen bestimmter Ethnien nicht ins Stadion lassen –, dann würde die Fifa reagieren.

Sie haben den Verein Esteghlal von 2017 bis 2019 trainiert und den Fußball im Iran erlebt. Nach Ihrer Erfahrung: Werden sich Sport und Gesellschaft im Land (auch) durch den tragischen Vorfall ändern

Man muss erst einmal die Rolle des Fußballs dort für die Leser im Westen einordnen. Fußball ist hoch politisch: Zum einen verkörpern manche Vereine politische Positionen oder ethnische Minderheiten, zum anderen bieten die Fußballspiele seit vielen Jahren die einzige Möglichkeit, in der Öffentlichkeit zusammenzukommen und zu protestieren. Nehmen Sie meinen Ex-Klub Esteghlal. Der Klub wurde vom Shah gegründet und symbolisiert die gute alte Zeit. Millionen von Fans lieben Esteghlal, weil der Klub ein Symbol für einen anderen Iran ist.

Der Fußball ist eine Möglichkeit, Kritik öffentlich zu äußern?

Wenn man sich im Stadion über das Sportministerium auslässt, dann ist das politischer Protest. Wenn man Frauen nicht erlaubt, ins Stadion zu gehen, dann schließt man sie nicht nur vom Fußball aus, sondern auch von der politischen und gesellschaftlichen Teilhabe. Protest ist natürlich unter anderen Umständen unmöglich, aber im Stadion geht es, denn es geht ja nur um Fußball. Beide Seiten, die Fans und die Regierung wissen um was es wirklich geht, aber das Regime hat so eine Angst vor echten Protesten, dass man den Fußball nicht antastet. Ein anders Beispiel sind Vereine bestimmter Regionen. Traktor Täbris ist das Symbol für die Menschen der Region Täbris, die eine starke separatistische Strömung haben. Der Vorfall wird nichts ändern. Das Thema hat sich leider schon wieder erledigt.

Waren oder sind Sie noch in Kontakt mit dem Klub? Haben Sie etwas von Reaktionen innerhalb des Vereins mitbekommen?

Mein Trainerstab und ich verklagen der Verein, weil man uns mehr als sechs Monate nicht bezahlt hat und leider in einer Art und Weise behandelt hat, die in jedem anderen Land höchst kriminell wäre. Leider ist die Vereinsführung eng mit dem Regime verknüpft. Der Protest der Fans richtet sich im Moment gegen die Vereinsführung. Die Tatsache, dass der Verein selbst sehr spät auf das Drama des Mädchens reagiert hat, bestätigt für viele Fans noch einmal die Vermutung, dass der Verein fest in den Händen des Regimes ist. Ich bin noch mit den Spielern in Kontakt und mit meinem ehemaligen iranischen Trainerstab. Ganz wunderbare, tolle Menschen.

Wie sieht es im iranischen Fußball aus? Dominieren Unterstützer des Frauenverbots in Stadien?

Niemand, den ich kennen lernte, unterstützt das Verbot, niemand unterstützt den Kopftuchzwang, niemand unterstützt das Regime. Aber jeder hat Angst. Man muss vielleicht anmerken, wie groß die Ablehnung des Regimes in der Bevölkerung ist. Man kann sich das nur schwer vorstellen, wenn man nicht im Iran gelebt hat. In zwei Jahren habe ich nicht einen Menschen getroffen, der dem Regime positiv gegenübersteht – und ich spreche von Menschen sehr unterschiedlicher Hintergründe. Industrielle, Akademiker, Fußballspieler, Taxifahrer und sogar Minister.

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Zeichnet sich mit jüngeren Generationen ein Wandel ab?

Die Menschen die ich kennen gelernt habe, sind wie gesagt überhaupt nicht auf der Linie des Regimes. Ganz gleich, ob alt oder jung.

Wie haben Sie die Esteghlal-Fans persönlich erlebt – vielleicht auch im Alltag?

Leidenschaftlich bis fanatisch. Wenn wir gewonnen haben, wurden wir auf der Straße von wildfremden Menschen geküsst. Wenn der Verein verliert, entlädt sich leider auch schnell ein unglaublicher Hass. Das zeigt sich dann vor allem in den sozialen Medien. Esteghlal bedeutet für viele eben weit mehr als nur Fußball. Der Verein ist ein gesellschaftliches und politisches Symbol wie viele andere Vereine auch. Aber Esteghlal steht für das, was viele Menschen im Iran glauben, verloren zu haben. Einen besseren, edlen, freien Iran. Ich möchte das nicht bewerten, aber so sehen die Fans den Verein.

Die emotionale Bindung ist groß?

Die Popularität der Spieler und Trainer ist unbeschreiblich. Es gibt im Iran tatsächlich keinen Esteghlal- oder Persepolis-Spieler und -Trainer (Persepolis ist der Teheraner Stadtrivale, Anm. d. Red.), die nicht sofort auf der Straße erkannt werden. Als wir den Pokal gewonnen haben – den ersten Titel seit fünf Jahren – mussten wir in die Kabine fliehen. Ich spreche von „um sein Leben rennen“, weil die Fans den Platz stürmten und in ihrer Begeisterung wirklich bedrohlich wurden. Jeder wollte uns küssen und umarmen. Wir mussten mit der Mannschaft drei Stunden in der Kabine bleiben, bis wir dann zum Bus rennen konnten, um uns in Sicherheit zu bringen. Es war tatsächlich für mich nicht möglich, unerkannt das Haus zu verlassen.

Gibt es Angst vor Repressalien bei öffentlich geäußerter Unterstützung für die Anliegen weiblicher Fans?

Die Angst ist in der Bevölkerung allgegenwärtig. Nicht wegen dieses Themas, sondern generell wegen politischer Äußerungen. Das war ja auch der Grund, weshalb mein Sohn, der auf den Fall des Mädchens zuerst aufmerksam wurde, auf unseren Instagram-Seiten so aktiv über das Thema geschrieben hatte. Uns war sofort klar, dass unsere ehemaligen Spieler sich äußern wollen. Bedenken Sie bitte: Das Spiel, um das es ging, war eines von uns. Es war unser letztes Spiel in der asiatischen Champions League, und wir alle lasen über diesen Fall Monate später auf einer kleinen Fanseite im Internet.

Sie haben Ihre Plattformen genutzt.

Wir wussten aber auch, dass zumindest ein Nationalspieler bereits in der Vergangenheit kurzzeitig verhaftet wurde, weil er sich öffentlich politisch äußerte. Meine Instagram-Seite hat rund 400.000 Follower. Wenn ich, der Ausländer, der nicht mehr bei Esteghlal arbeitet, über das Schicksal des Mädchens schreibe, dann helfe ich damit, die iranischen Fußballer zu schützen, die sich ebenfalls äußern. Einen Tag, nachdem wir damit angefangen haben, massiv zu schreiben, hat sich das Team geäußert – und dann immer mehr Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens im Iran.

Hat es Sie überrascht, dass die Mannschaft „Blue Girl“ im ersten Spiel nach ihrem Tod mit T-Shirts gewürdigt hat?

Nein, das entspricht ganz dem tollen Charakter der Spieler. Deshalb ist es so wichtig, dass solche Fälle international durch westliche Medien aufgegriffen werden. Damit helfen wir den Menschen, die sich im Iran öffentlich äußern.


Beim Länderspiel des Iran am 10. Oktober gegen Kambodscha dürfen nun Frauen ins Stadion – wie bewerten Sie diese Entscheidung?

Das ist genau das, was ich an der Fifa kritisiere. An dem Punkt waren wir im letzten Jahr bereits. Die Sekretärinnen des Verbandes und ein paar ausgesuchte Ehefrauen werden da in den VIP-Bereich eskortiert. Das ändert überhaupt nichts.

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