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EM 2024 in Deutschland: Sommermärchen 2.0? Der Zauber eines Heim-Turniers


EM 2024 in Deutschland
Dieses Spiel bleibt ewig im Gedächtnis

  • Noah Platschko
MeinungVon Noah Platschko

Aktualisiert am 14.06.2024Lesedauer: 4 Min.
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Sorgte mit seinem 1:0 in der Nachspielzeit gegen Polen für Ekstase beim Dortmunder Publikum: Oliver Neuville.Vergrößern des Bildes
Sorgte mit seinem 1:0 in der Nachspielzeit gegen Polen für Ekstase beim Dortmunder Publikum: Oliver Neuville. (Quelle: Oliver Hardt/imago-images-bilder)

Deutschland darf zum ersten Mal seit der WM 2006 wieder ein Fußball-Großereignis austragen. Vor 18 Jahren verzauberte das "Sommermärchen" ein ganzes Land – und unseren Autor, der damals noch ein Kind war.

Heute ist es so weit: Die Europameisterschaft in Deutschland beginnt. Die Erwartungen sind riesig, schließlich hatte das letzte Männerfußball-Großereignis, die Heim-WM 2006, für Euphorie und bei vielen für ein neues Zusammengehörigkeitsgefühl gesorgt. Ein persönlicher Rückblick.

Freitag, 9.6.2006, 18 Uhr: Deutschland gegen Costa Rica

Es ist Freitagabend, in einem Dorf im Nordschwarzwald. 17.55 Uhr. "Entschuldigen Sie, wir schließen." Die Frau der städtischen Stadtbücherei wendet sich an meinen Vater und mich und bittet uns zu gehen. Ich, ein Bub von elf Jahren, erhasche noch einen letzten Blick auf die Titelseite des "Schwarzwälder Boten". "So könnte Deutschland heute spielen" titelt die schwäbische Tageszeitung, darunter eine Grafik mit elf Spielern. Jens Lehmann im Tor, Bastian Schweinsteiger und Torsten Frings im Mittelfeld, Miroslav Klose und Lukas Podolski im Sturm, Michael Ballack auf der Bank. Und Philipp Lahm. Lahm auf links.

Keine 15 Minuten später der erste Torschrei. Jener Lahm mit dem Haken am verlängerten linken Strafraumeck, Costa Ricas Danny Fonseca rutscht weg. Lahm schaut, zirkelt, trifft. 1:0 für Deutschland. Der Startschuss für das Sommermärchen, für mich damals allerdings nur ein ganz normales Tor. Deutschland führt also gegen Costa Rica. Ich nehme es zur Kenntnis, freue mich aber über ein Tor, wie man sich als Elfjähriger eben über ein Tor freut. Denn viele Tore bedeuten ein gutes Spiel, denke ich.

Also freue ich mich auch über den Ausgleich von Paul Wanchope sechs Minuten später. Und über die abermalige Führung durch Miroslav Klose, der an diesem Tag 28 wurde. "Klose ist eigentlich Pole", sagt mein Vater, selbst Deutscher mit polnischen Wurzeln. "So wie der Podolski." Für mich waren beides Fußballer – und zwar sehr gute. Am Ende steht es 4:2 zwischen Deutschland und Costa Rica. Torsten Frings erlöst kurz vor Abpfiff per Distanzschuss 57.000 Zuschauer in der Allianz Arena, der Auftakt ist geglückt.

Mittwoch, 14.6.2006, 21 Uhr: Deutschland gegen Polen

Flutlicht im Westfalenstadion von Dortmund. Deutschland spielt im zweiten Gruppenspiel gegen Polen. Spannung pur bei uns im Wohnzimmer. Vati und Mutti fiebern mit meinem Bruder und mir vor dem Fernseher mit, wie gefühlt das ganze Land. Die Sympathien sind klar verteilt, die Familie ist für Polen. Irgendwie nachvollziehbar: in Polen geboren, aufgewachsen, die Verbindung bis zum heutigen Tage existent.

Dann kommt die erste Minute der Nachspielzeit. David Odonkor auf Oliver Neuville, 1:0. Das Weiterkommen so gut wie perfekt. Die Stimmung im Wohnzimmer auf einmal semi-gut, denn der deutsche Sieg besiegelt gleichzeitig quasi das WM-Aus Polens. Darum auch für mich kein Grund zu jubeln. Noch nicht.

Dienstag, 20. Juni, 16 Uhr: Deutschland gegen Ecuador

An diesem Tag im Jahr 2006 ändert sich etwas. Ich gehe wie gewohnt zur Schule. Sechste Klasse, Englisch bei Frau Kling, Mathe bei Herrn Linddörfer. Meine Klassenkameraden und Klassenkameradinnen fragen mich nach Schulschluss, ob ich zum Deutschlandspiel kommen möchte. Erst zum Trompetenunterricht, aber dann Fußball gucken im Garten. Klingt gut, denke ich. Ich sage zu.

Kurz nach 16 Uhr tapse ich mit meinem Trompetenkoffer auf dem Rücken in den Garten voller Elfjähriger, die bereits jubeln. Klose hatte gerade das 1:0 gegen Ecuador geschossen. Deutschland auf Kurs Gruppensieg. Alle Kinder jubeln und freuen sich. Mit Deutschland-Fahnen, Trikots und Schminke im Gesicht.

Und auf einmal lasse ich mich anstecken. Von der Freude der Freunde, der positiven Stimmung, dem Gemeinschaftsgefühl. Deutschland im Achtelfinale. Ich hole die Trompete raus und tröte fröhlich vor mich hin. Warum sich auch nicht freuen? Das Land, in dem ich lebe, hat sich für das Achtelfinale gegen Schweden qualifiziert. Prinz Poldi schießt beide Tore gegen Schweden. Wieder ein Schritt getan. Nächster Halt Argentinien, so langsam wird es ernst.

Freitag, 30. Juni, 17 Uhr: Deutschland gegen Argentinien

Dieses Spiel bleibt mir auf ewig im Gedächtnis. Dieser heiße Freitag Ende Juni, an dem keiner mehr auf den Straßen zu sehen ist. An dem eigentlich jeder eine Abkühlung sucht, der nicht gebannt vor den Bildschirmen hängt und zunächst sieht, wie Roberto Ayala die Nationalelf schockt. Der dann aber auch sieht, wie Ballack auf Borowski flankt, der chirurgisch präzise per Kopf Klose bedient, der zum Ausgleich einnickt. Ekstase, Jubel, Verlängerung, Elfmeterschießen.

Ich sehe Oliver Kahn, der seinem jahrelangen Kontrahenten die Hand reicht, wie in einem zu kitschig geratenen Hollywoodfilm. Ich sehe Neuville, Ballack, Podolski und Borowski, die zum Elfmeterpunkt schreiten. Alle treffen. Esteban Cambiasso nicht. Das Olympiastadion explodiert. Mein Bruder und ich schreien und fallen uns in die Arme. Halbfinale. Doch gegen wen? Egal! Deutschland ist so weit gekommen, wie es die wenigsten nach der enttäuschenden EM 2004 erwartet hätten.

Heute, 18 Jahre später, weiß ich noch, wie sich dieser Moment anfühlte. Und gefühlt jeder sich anstecken ließ von der Freude in diesem Land. Später sollte sich herausstellen, dass diese WM angeblich gekauft worden sei. Gekaufte WM, gekaufte Gefühle? Nein. Die Gefühle waren echt. Und das ist das, was geblieben ist. Von dem Turnier, das mich damals zum Fan machte. Von Podolski, Klose und Co.

Anmerkung: Dieser Text erschien erstmals im September 2018.

Verwendete Quellen
  • Basierend auf Erinnerungen
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