Radikalkur beim DFB Wer war der Stinkstiefel?
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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Die deutsche Nationalelf begeistert auch nach der Heim-EM ihre Fans. Großen Anteil daran hat laut dem Bundestrainer auch die neue Chemie im Team.
Aus Amsterdam berichtet Noah Platschko
Auch am Tag nach dem furiosen 5:0 gegen überforderte Ungarn ging die Party weiter. Rund 7.000 Fans wollten sich am Sonntagvormittag im Düsseldorfer Paul-James-Stadion weder das öffentliche Training entgehen lassen noch die DFB-Stars, auch wenn zum Spielersatztraining lediglich die Reservisten auf dem Platz standen.
Beim Autogrammeschreiben durften allerdings auch die Hauptdarsteller des Samstagabends nicht fehlen, Florian Wirtz, Jamal Musiala und Co. gaben sich die Ehre –genauso wie Sportdirektor Rudi Völler, der die positive Atmosphäre nach der Gala am Vortag sichtlich genoss. "Wir haben die Massen begeistert", bilanzierte der 64-Jährige.
Exakt heute vor einem Jahr, am 9. September 2023, war die Welt des DFB eine völlig andere, eine düstere. Das 1:4 der Nationalmannschaft gegen Japan markierte den temporären Tiefpunkt der Ära Flick, in Wolfsburg herrschte nach einem gellenden Pfeifkonzert des Publikums Weltuntergangsstimmung. Schlechte Ergebnisse, ratlose Spieler und ein überfordert wirkender Trainer, dessen Amtszeit nur einen Tag später ein unrühmliches Ende fand.
Julian Nagelsmann übernahm vor der USA-Reise im Oktober. Doch auch der neue Übungsleiter konnte nicht auf die Schnelle alles zum Guten wenden, blickt man zurück auf das enttäuschende 2:3 gegen die Türkei in Berlin sowie das desolate 0:2 gegen Österreich in Wien wenige Tage später.
Insbesondere der ernüchternde Auftritt im Wiener Ernst-Happel-Stadion veranlasste den Bundestrainer zu einer Radikalkur beim DFB. Nur drei der Startelfspieler jener 0:2-Pleite von Wien gehörten gegen Ungarn überhaupt noch dem aktuellen Kader an.
Der Tausch des Personals hat auch zu einer veränderten Atmosphäre innerhalb des Teams geführt. Ein Umstand, den Nagelsmann nach dem Sieg über Ungarn sowohl im ZDF als auch in der Pressekonferenz nach dem Spiel hervorhob. "Was ein Riesenunterschied ist, ist die Chemie in dieser Gruppe. Wenn ich das mit März oder November vergleiche, dann ist der Umgang der Jungs miteinander ein anderer – und auch der Nährboden für das, was wir irgendwann erreichen wollen." Nagelsmann weiter. "Man merkt sofort in der Kabine, dass die sich alle füreinander freuen. Da ist kein Stinkstiefel dabei, das ist schon sehr angenehm."
Klare Aufgabenverteilung
Altgediente Kräfte wie Mats Hummels, Leon Goretzka, Julian Brandt oder Niklas Süle spielen aktuell keine Rolle mehr und wurden durch Akteure wie Waldemar Anton, Angelo Stiller, Chris Führich oder Robin Koch ersetzt. In Nagelsmanns "Rollensystem" scheint sich jeder seiner Aufgabe bewusst zu sein, ob er nun 90 Minuten spielt, 60 Minuten oder gar nicht.
"Ich wollte sehen, dass die Spieler Lust hatten, ein Spiel für die Nationalmannschaft zu bestreiten – und dieses auch zu gewinnen. Man soll ihnen ansehen, dass ein Länderspiel kein normales Spiel ist", so der Bundestrainer.
Dieser Mentalitätswandel macht in der Tat einen gewaltigen Unterschied zu den fast apathischen Auftritten in der Endphase seines Vorgängers Flick, in der das DFB-Trikot eher wie eine aufgezwungene Bleiweste wirkte.
Dazu kommt der von Nagelsmann ehrlich vorgetragene Anspruch, jedes Spiel ernst zu nehmen und mit Blick auf zukünftige Aufgaben mit 100 Prozent Einsatz und Siegeswillen in die Partien zu gehen. Eine Selbstverständlichkeit, sollte man meinen. In Zeiten eines überbordenden Terminkalenders allerdings durchaus beachtlich.
Der Weg scheint also der richtige zu sein für die Nagelsmann-Elf, die am Dienstagabend (ab 20:45 Uhr im Liveticker bei t-online) den Positivtrend fortsetzen mag. Mit der "Elftal" aus den Niederlanden wartet dann mit Sicherheit ein anderes Kaliber – und eine besondere Herausforderung. An Motivation dürfte es den Spielern nicht mangeln. Denn dieses Team hat Lust auf mehr.
- Eigene Beobachtungen vor Ort