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Schach in Deutschland? "Oh je" – Großmeister im Interview


Experte über die Faszination Schach
"Der Königsplan hat sieben Stufen"

  • David Digili
InterviewVon David Digili

30.04.2023Lesedauer: 7 Min.
Interview
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Der Gesprächspartner muss auf jede unserer Fragen antworten. Anschließend bekommt er seine Antworten vorgelegt und kann sie autorisieren.

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Das große Duell der Schach-WM in Astana: Ding Liren im Duell mit Jan Nepomnjaschtschi. (Quelle: Stanislav Filippov/AP/dpa)

Schach-Experte Stefan Kindermann spricht über "blöde Fehler", das richtige Alter, mit dem Sport zu beginnen, und Nachholbedarf in Deutschland.

Es war ein echter Krimi bei der Schach-Weltmeisterschaft im kasachischen Astana: der Russe Jan Nepomnjaschtschi gegen den Chinesen Ding Liren. Das Duell der beiden in Abwesenheit des wegen fehlender Motivation nicht angetretenen Weltranglistenersten Magnus Carlsen, dem besten Schachspieler der Welt, endete nach 14 Partien im Tie-Break mit dem Sieg von Liren. Er ist der erste Chinese, der den Titel errang.

Stefan Kindermann hat die Partien besonders aufmerksam verfolgt: Der gebürtige Wiener ist seit 1988 Schachgroßmeister und Geschäftsführer der 2005 von ihm mitbegründeten Münchner Schachakademie. Mit der Schachstiftung München fördert er als Vorstandsvorsitzender sozial benachteiligte Menschen. Kindermann ist Autor mehrerer Fachbücher zum Thema und arbeitet auch als Keynote-Speaker und Coach.

Gemeinsam mit Professor Robert von Weizsäcker hat Kindermann den "Königsplan" entwickelt, ein Strategiemodell, das auf den Erfolgsstrategien von Schachgroßmeistern basiert und diese Erkenntnisse auf das Berufsleben überträgt.

Im Interview sprechen Kindermann und seine Kollegin, Schachmeisterin und Mentaltrainerin Veronika Exler, über ein wichtiges Gefühl, "blöde Fehler", das richtige Alter, mit dem Sport zu beginnen, und Nachholbedarf in Deutschland.

t-online: Herr Kindermann, mit welcher Annahme über Schach würden Sie gerne aufräumen?

Stefan Kindermann: Ich erlebe es oft gerade bei Vortragsveranstaltungen, dass man den Schachmeister als wandelnden Computer auf zwei Beinen sieht, als den viel zitierten "homo oeconomicus" – also einen totalen Gewinnmaximierer und rationalen Logiker.

Kühl und berechnend …

Und das stimmt nun wirklich überhaupt nicht.

Warum?

Ich erkläre das gerne so: Eines meiner Lieblingsthemen ist der Umgang mit der eigenen Intuition – und da kann man natürlich sehr viel aus dem Schach ziehen. Wenn man sich da nämlich die Zahl der Möglichkeiten, also der möglichen Züge anschaut, dann sollte sofort offensichtlich sein, dass Logik und Ratio damit völlig überfordert wären. Ein Rechenbeispiel setzt die Zahl der möglichen Schachpartien in Relation zur Zahl der Atome im Universum. Wir haben 10 hoch 84 Atome – und 10 hoch 120 Möglichkeiten im Schach.

Sie sprechen von der Ratio, also der Vernunft, dem schlussfolgernden Verstand. Der steht hintenan?

Einfacher erklärt: Beim ersten Zug hat man 20 Möglichkeiten, beim nächsten dann schon 400 und so weiter. Würde man da versuchen, nur rein logisch heranzugehen – man wäre vollkommen chancenlos.

Ein ewig junger Witz aus dem Golfsport ist: "Jetzt kann ichs". Passt das dann nicht auch zum Schach?

Vor Kurzem erst hat Magnus Carlsen, der ja schon seit zehn Jahren Schachweltmeister ist – obwohl er gerade nicht spielt –, etwas gesagt: Der Großteil seiner Entscheidungen basiere auf Intuition und die Ratio sei nur zum Gegenchecken da, ob seine Intuition denn in die richtige Richtung weist.

Das Bauchgefühl bestimmt also?

Bauchgefühl und Intuition werden gerne mal als Synonyme füreinander verwendet, aus meiner Sicht trifft es das aber nicht ganz. Die Intuition kann sich auf verschiedenste Weisen äußern. Unsere Gefühle sind das Transportmittel, das die Intuition aus dem unbewussten Bereich in den bewussten bringt. Das kann häufig als Bauchgefühl auftreten, aber eben auch ganz anders. Ein elektrisches Kitzeln in den Fingerspitzen, das kann auch andere Körperteile betreffen.

Nach Ihrer Einschätzung: Wie lange braucht es denn, das Spiel "richtig" zu begreifen – und das richtige Bauchgefühl zu haben?

Die aktuellen Topspieler in der Weltspitze haben alle mit sechs, sieben Jahren angefangen oder sogar früher – und wichtig dabei: Die haben nicht irgendwie angefangen, sondern hatten auch richtig gute Trainer dabei. Und gerade das macht beim Thema Intuition so einen großen Unterschied.

Das müssen Sie erklären.

Wenn man so früh mit dem Schach anfängt, geht vieles auch ganz früh in die kindliche Intuition über. Das kann man dann auch auf Tennis, auf das Klavierspielen oder ganz vieles anderes übertragen. Am Ende ist das dann so selbstverständlich wie Essen und Trinken. Und das macht einen riesigen Unterschied. Wenn man später anfängt, geht es viel mehr über die bereits angesprochene Ratio, und man muss die fehlende Intuition über den Intellekt kompensieren. Daher werden dann immer, offen gesagt, blöde Fehler vorkommen, die mit Erfahrung aus der Kindheit wohl nie passieren würden.

Früh übt sich?

Die Grundlage ist eine andere. Das ist in anderen Sportarten ja genauso, wo die Bewegungsabläufe dann viel flüssiger und selbstverständlicher sind.

Ist die Intuition, dieses Gespür, dieses Bauchgefühl, dann auch auf den Alltag zu übertragen?

Das ist ziemlich verzwickt.

Wieso das?

Es kann unter Umständen auch eine Falle sein. Gerade bei Menschen, die in einem bestimmten Bereich sehr erfolgreich sind, die eine große Expertise in einem Bereich besitzen und einen riesigen Fundus an Wissen und Erfahrung haben, ist dann mit einiger Wahrscheinlichkeit auch die Intuition ziemlich gut. Aber wenn man dann versucht, das auf einen völlig anderen Bereich zu übertragen – das kann dann komplett danebengehen. Deshalb braucht es meiner Meinung nach noch einen Übersetzungsschritt.

Wie sollte der aussehen?

Was man im Schach lernt, das sagen viele Spieler, auch Carlsen, ist die Fähigkeit, unter Zeitdruck schnell Entscheidungen zu treffen – und auch den Mut zu haben, im Rahmen der eigenen Möglichkeiten, gute Entscheidungen zu treffen und die Verantwortung zu übernehmen.

Sie plädieren ohnehin dafür, Denk- und Mentalstrategien aus dem Schach auch im Alltag und im Beruf anzuwenden – wo sehen Sie da besonders viel Potenzial?

Unser Strategiemodell, der "Königsplan", hat sieben Stufen. Die Idee dahinter ist, dass man ihn in jeder Situation einsetzen kann, in der es um Planen und vor allem um Entscheidungen geht.

Womit wird begonnen?

Die wichtigste Frage, die man sich aus unserer Sicht vor einer größeren Herausforderung stellen sollte, ist: Wie geht es mir eigentlich? Wenn ich dann zur Antwort gelange: Es geht mir gut – dann ist alles gut, dann muss ich gar nichts machen. Aber wenn ich stattdessen zur Erkenntnis gelange: Ich habe Angst, ich bin total ausgepowert, stehe völlig neben mir, bin erschöpft – dann kommt man zur ersten Stufe des "Königsplans": Was kann ich für mich tun? Diese erste Stufe ist im Spitzensport heutzutage selbstverständlich, wird aber aus meiner Sicht im Berufsleben sehr vernachlässigt.

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Also das Bewusstsein über sich selbst?

Eines der Geheimnisse von Spitzensportlern heutzutage ist doch, dass sie sich schon vor einer Herausforderung oder währenddessen in einen guten Zustand versetzen können, mental und physisch. Das schaffen sie, obwohl sie natürlich auch andere Belastungen bewältigen müssen, ob Zahnschmerzen oder Liebeskummer.

Veronika Exler: Das Wichtige ist auch, dass man sich Zeit für die Regeneration nimmt. In der heutigen Gesellschaft scheint dafür einfach kein Platz da zu sein. Ich merke das oft selbst, wenn ich von einem Termin zum nächsten reise. Irgendwie zwischendurch ausruhen, erholen, zu Kräften kommen – das geht einfach nicht.

Aber wie viele Menschen schätzen den eigenen Zustand denn realistisch ein?

Kindermann: Das ist es. Nicht nur im Sport, auch im Berufsleben stehen viele Menschen unter Druck. Sich da dann einzugestehen, dass es zu viel ist, dass man Versagensängste hat – das ist zwar noch keine Lösung, aber zumindest ein erster Schritt und zeigt, dass man die Eigenbeobachtung ernst nimmt. Dann folgt die Überlegung: Was kann ich für mich selbst tun? Vielleicht suche ich mir dann auch professionelle Hilfe.

Wie war das denn bei Ihnen?

Der praktische Trick ist, dass man für sich gewisse Entspannungsroutinen entwickelt. Ich zum Beispiel bin Langschläfer und habe das Glück, dass ich meistens auch spät anfangen kann, wenn ich keine speziellen Termine habe. Aber ich habe für mich als ganz einfache Routine entdeckt, dass ich jeden Morgen zwei Stunden früher aufstehe, mir Zeit nehme für Sport, Zeitung lesen. Dann weiß ich für mich, dass ich zumindest in einigermaßen präsentabler Form bin (lacht). Und in unserem Modell "Königsplan" zeigen wir in der ersten Stufe ganz konkrete Werkzeuge, um sich auch kurzfristig in eine möglichst gute Verfassung zu bringen.

Dafür braucht es aber natürlich auch Erfahrung, die junge Menschen, junge Sportler, noch nicht haben.

Und gerade da kommt es darauf an, einen Mentor, einen Trainer zu haben, der nicht nur sportlich pusht, sondern auch die Persönlichkeitsentwicklung vorantreibt.

Und was sagt die Trainerin?

Exler: Aus eigener Erfahrung: Für mich ist das Wichtigste, dass meine Schülerinnen und Schüler Spaß haben, dass wir Erfolge zusammen feiern. Genauso aber auch, dass man seine Schüler nicht heruntermacht, wenn es mal nicht so läuft, das ist ganz entscheidend.

Es ist der Zuspruch?

Für mich sind meine Schüler gleichzeitig auch Freunde, das soll sich nicht nur auf geschäftlicher Ebene bewegen, auch der persönliche Kontakt ist wichtig.

Wie weit ist man in Deutschland, was das Angebot und auch die Strukturen angeht?

Kindermann: Oh je (lacht).

Klingt nicht sehr positiv …

Es gibt im Gegensatz zu Deutschland nun mal schon einige Länder, in denen das Spiel schon lange von klein auf gefördert wird. Traditionell sind das die Länder der ehemaligen Sowjetunion, aber auch Indien.

Was wird dort anders gemacht?

Dort gibt es Schach bereits als Schulfach, es existiert ein richtiges Trainersystem. In Deutschland oder auch Österreich gibt es zwar Förderung für die absoluten Topspieler, aber auf breiterer Basis besteht noch Nachholbedarf. Auch deshalb haben wir unsere eigene Akademie gegründet.

Exler: Ein Beispiel noch von mir: Zu meiner Schulzeit gab es noch gar kein Schach an den Volksschulen. Erst zu meiner Studienzeit gab es erste Angebote, mittlerweile ist das Angebot riesig. In Wien gibt es eine große Anzahl an Schulen, die Schachkurse anbieten.

Eine positive Entwicklung in kurzer Zeit?

In Österreich hat sich total viel getan in den letzten Jahren. Vor allem, als Schach zum Sport wurde, hatten wir viel bessere finanzielle Möglichkeiten durch die Förderung.

Wie kann Deutschland zu den führenden Nationen aufschließen?

Kindermann: Es liegt auch an den Mitgliederzahlen im Schach, dass die Förderung ausbaufähig ist. Der Deutsche Schachverband hat etwa 90.000 bis 100.000 Mitglieder, das ist natürlich nicht so toll.

Was stimmt Sie zuversichtlich?

Im Schach ist das Reservoir an Hobbyspielern sehr groß. Positiv ist vor allem, dass das Schulschach in Deutschland boomt. Und das weniger durch den sportlichen Aspekt, sondern weil Schach einfach auch als Geistestraining für Kinder sehr förderlich ist.

Das Interesse ist also da.

Man sieht es gerade bei den Top-Schachvereinen, dass durch private Sponsoren vieles möglich gemacht wird. Wir hier in München beispielsweise haben großes Glück, dass mein guter Freund Roman Krulich da ist, der mittlerweile der wohl größte Schachförderer in Deutschland ist, unsere Schachstiftung mitgegründet hat, erst kürzlich den Frauen-Grand-Prix gesponsert hat und unser Bundesligateam unterstützt.

Sie wünschen sich eine Beispielwirkung?

Wenn man das auf eine breitere Basis stellen könnte – dafür müssten dringend ausreichende öffentliche Fördermittel bereitgestellt werden, damit fängt alles an. Vor allem ist Schach schon für Grundschulkinder eine optimale Fördermaßnahme, durch die man die schulische Entwicklung erheblich unterstützen kann.

Verwendete Quellen
  • Zoom-Interview mit Stefan Kindermann und Veronika Exler
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