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Olympia 2016: Sarkasmus für die Selecao - Verehrung für Deutschland


So wirkt das deutsche 7:1 nach
Sarkasmus für die Selecao - Verehrung für Deutschland

Von t-online
12.08.2016Lesedauer: 4 Min.
Ein Bild, das um die Welt ging: Clovis Acosta Fernandes, der berühmteste Fußball-Fan Brasiliens (re.), hadert nach dem 1:7 gegen Deutschland.Vergrößern des BildesEin Bild, das um die Welt ging: Clovis Acosta Fernandes, der berühmteste Fußball-Fan Brasiliens (re.), hadert nach dem 1:7 gegen Deutschland. (Quelle: MIS/imago-images-bilder)
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Aus Rio de Janeiro berichtet Johann Schicklinski

Filipe Rocha bekommt auf einmal glänzende Augen. Soeben hat der Taxifahrer auf meiner Akkreditierung ausgemacht, dass ich aus Deutschland komme. "Ah, Alemanha. Seven-One, seven-one. World-Champion", bringt er mir freudestrahlend entgegen.

Er bezieht sich natürlich auf das historische WM-Halbfinale zwischen Gastgeber Brasilien und Deutschland am 8. Juli 2014 in Belo Horizonte. Ein Tag, der sich ins kollektive Gedächtnis des fünftgrößten Landes der Welt eingebrannt hat.

Egal, wohin man in den Tagen von Olympia 2016 in Rio kommt: Im Gespräch mit Brasilianern wird das damalige Match unweigerlich sofort zum Thema, sobald man als Deutscher "enttarnt" ist.

Synonym für ein grandioses Scheitern

Übel nimmt dem DFB-Team die heftige Niederlage keiner mehr - zu klar war die deutsche Überlegenheit damals. Das "sätschi - um", wie 7:1 auf Portugiesisch heißt, ist sogar in den allgemeinen brasilianischen Sprachgebrauch eingegangen: Es ist zum geflügelten Wort geworden, dass als Synonym für ein grandioses Scheitern benutzt wird.

Fast könnte man meinen, die Nation des Rekord-Weltmeisters sei von der immer noch unwirklich wirkenden Partie damals traumatisiert. Doch diese Phase hat das Land längst hinter sich gelassen. Was für die umittelbare Zeit nach der WM gegolten haben mag, ist mittlerweile in Sarkasmus und Zorn umgeschlagen.

"Wir sind einfach nicht mehr gut genug", sagt Filipe Rocha, der erstaunlich gut Englisch spricht, auf der langen Taxifahrt: "Schau dir an, was wir seitdem gewonnen haben: Nichts!" Und weiter: "Wir sind nur noch in der Vermarktung und in den sozialen Netzwerken groß. Abseits des Feldes sind unsere Spieler Weltklasse."

Bemerkenswerter Abstieg

Das Selbstverständnis im Land des Rekordweltmeisters wird seit 2014 auf eine harte Probe gestellt. Nach der WM setzte sich der Abstieg der Selecao in einer bemerkenswert rasanten Art und Weise fort. Bei der Copa America 2015 schied Brasilien im Viertelfinale gegen Paraguay aus. Bei der diesjährigen Jubiläumsausgabe des Kontinentalturniers war sogar in der Vorrunden-Schluss. Dabei hießen die Gruppengegner Ecuador, Peru und Haiti. Ein noch tieferer Tiefpunkt als das 1:7 von Belo Horizonte.

Und aktuell, beim olympischen Fußballturnier, rumpeln sich Neymar und Co. derart durch das Turnier, dass von den Tribünen statt Anfeuerung in den ersten beiden Vorrundenspielen nur Spott und Häme zu hören war. Bei der Nullnummer gegen den Irak gab es ab Mitte der zweiten Halbzeit im ganzen Stadion "Marta, Marta"-Rufe - der Superstar des brasilianischen Frauenteams ist hier ein absoluter Fan-Liebling. Erst das 4:0 im dritten Gruppenspiel gegen Dänemark hat das Publikum vorerst versöhnt. Doch der Friede ist brüchig, nur weitere Erfolge können ihn festigen.

"Mit Ronaldo und Ronaldinho waren wir noch gut"

Auch für Jorge Ruiz, der als Volunteer beim olympischen Straßenradrennen an der Copacabana eingeteilt ist, gehört Brasilien nicht mehr zur Weltspitze. "Wir waren mal gut. 2002, mit Ronaldo und dem jungen Ronaldinho, das waren noch Zeiten", schwelgt er in Erinnerungen.

Sowohl Jorge Ruiz als auch Rocha verehren indes Deutschland - ebenfalls eine Nachwirkung der WM. "Ihr habt wunderbare Spieler wie Kroos, Khedira oder Neuer. Ihr seid verdient Weltmeister. Ihr hab damals gespielt wie die eigentliche Selecao", sagt Ruiz. Rocha outet sich indes als Fan von Mesut Özil: "Er spielt so, wie die Brasilianer früher gespielt haben."

"Wir haben verlernt, brasilianisch zu spielen"

Gründe, warum der Rekord-Weltmeister den Anschluss an die Weltspitze verloren hat? "Wir haben unsere Fußball-Identität verloren. Wir können nicht mehr brasilianisch spielen. Unsere guten Nachwuchsspieler werden so früh weggekauft, dass sie die brasilianische Identität nicht mehr entwickeln können. So werden sie zu europäischen Spielern, doch das passt nicht zum Fußball der Selecao", sagt Rocha, Fan des Arbeiterklubs Vasco da Gama.

Andere Brasilianer kritisieren hingegen die Verbandsspitze, die "unfähig" sei. "Sie sind alle korrupt. Und überhaupt: wer kam auf die Idee, Carlos Dunga zum Nationaltrainer zu machen?", fragt ein brasilianischer Passant, der mir im Bus gegenübersitzt und mit dem ich - nachdem er meine Akkreditierung ausgemacht hat - ins Gespräch gekommen bin. Dunga beerbte im Juli 2014 den nach der Klatsche gegen Deutschland entlassenen Ruiz Felipe Scolari. Unter seine Regie fallen die Pleiten bei der Copa America.

Es sind Gespräche wie diese, die sich in diesen Tagen häufig wiederholen. Sei es im Bus, in der Metro, im Hotel oder mit brasilianischen Journalisten an den Wettkampf-Orten: Sie zeigen, welchen Stellenwert der Fußball in Brasilien hat. Er ist trotz Olympia auch aktuell das Thema Nummer eins.

Alle Augen auf die Damen

Kurzfristige Besserung für die Selecao ist erst einmal nicht zu erwarten. Selbst bei Olympia, wo die Goldmedaille für das Männerteam doch so sehr Balsam auf die Wunden den letzten Jahre sein soll, ist die Begeisterung abgeflaut. Nach den durchwachsenen Leistungen der Männer herrscht die größere Euphorie aktuell bei den Spielen der Damen, die ihrem Status als Topfavorit auf den Olympiasieg bisher gerecht werden.

Sie haben auch Rocha und Ruiz beeindruck. "Sie spielen vielleicht nicht so kraftvoll wie die Männer. Aber dafür spielen sie noch brasilianisch", meint Rocha.

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Und in der Tat: Während Neymar und Co. wie schon bei der WM 2014 am großen Druck zu zerbrechen drohen, wächst bei den Samba-Kickerinnen mit jedem Erfolg das Selbstbewusstsein. "Marta wird sie zu Gold führen. Und dann wird Brasilien feiern", prophezeit Ruiz.

Sollten dazu trotz der anfänglichen Leistungen auch die Männer um die Medaillen mitspielen, wird sich auch um Neymar und Co. schnell wieder eine Euphorie bilden. Auch das ist Brasilien. Und dann wären Zorn und Sarkasmus vergessen, und auch das 7:1 von vor zwei Jahren würde zumindest langsam aber sicher in den Hintergrund rücken.

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