Lutz Seilers neuer Roman "Stern 111"
Leipzig (dpa) - Kruso ist zurĂŒck! All jene, die diese Nachricht elektrisiert, weil sie Lutz Seilers preisgekrönten, gleichnamigen VorgĂ€nger-Roman schĂ€tzen, werden vermutlich ohnehin zu "Stern 111" greifen.
Aber auch alle anderen könnten einen Blick in das Buch wagen. Die Jury fĂŒr den Preis der Leipziger Buchmesse hĂ€lt "Stern 111" auf jeden Fall fĂŒr eine Empfehlung. Die Kritiker haben den Roman auf die Shortlist gesetzt.
Seiler nimmt die Leser diesmal mit nach Berlin zur Zeit des Mauerfalls. Carl Bischoff (26) aus Gera steht plötzlich ohne Eltern da. Inge und Walter Bischoff gehen in den Westen. Sie lassen Carl 500 Mark, das 20 Jahre lang liebevoll gepflegte Auto der sowjetischen Marke Shiguli und den Auftrag da, die Nachhut der Kleinfamilie in der zerfallenden DDR zu bilden. Carl ist gelernter Maurer, trĂ€umt aber davon, ein Dichter zu werden. Anstatt die elterliche Wohnung in Gera zu hĂŒten, geht er nach Berlin.
Allein dieser Rahmen verspricht Abenteuer. Berlin 1989/90 - das war Anarchie und Freiheit. Nichts war gewiss, aber alles möglich. Der suchende Carl wird von einer Gruppe von Hausbesetzern gefunden. "Nein, nein, Shigulimann, du musst hier gar nichts erklÀren. Nicht wenige sind unterwegs in dieser frisch befreiten Stadt. Die ganze Welt wird neu verteilt in diesen Tagen." So wird Carl die Lage erklÀrt von der "antikapitalistischen Untergrundkolchose", zu der er fortan gehören wird.
Wie schon in seinem DebĂŒtroman "Kruso", das 2014 mit dem Deutschen Buchpreis in Frankfurt ausgezeichnet wurde, schafft es Seiler auch in "Stern 111", die besondere Stimmung der Zeit einzufangen. EindrĂŒcklich beschreibt er das bröckelnde Ost-Berlin, in dem die alten Vorschriften nicht mehr gelten und neue noch nicht in Sicht sind. "Es gibt hier keine Regeln, kein verdammtes Gesetz", so sagt eine der Mitstreiterinnen von Carl.
Es sind mehrere StrĂ€nge und Lebensgeschichten, die Seiler miteinander verwebt. Carl hĂ€lt per Brief Kontakt zu seinen Eltern, die als FlĂŒchtlinge in Nordhessen gelandet sind. Diese Auswanderung, Carl spricht in anfĂ€nglicher VerstĂ€ndnislosigkeit auch von der "Selbstverbannung seiner Eltern", hat es im '89/'90 der RealitĂ€t tausendfach gegeben. Aber war der Plan zur Flucht der Eltern wirklich so ĂŒberstĂŒrzt, wie es dem Sohn erscheint? Wie echt war das Leben, das sie als heile, kleine Familie in der DDR gefĂŒhrt hatten?
Wenn Seiler solche Fragen aufwirft, beleuchtet er auch eine Zeit, in der heute viele ErklĂ€rungen fĂŒr die anscheinende Andersartigkeit des Ostens suchen. Er schreibt von Entwurzelung und Suche: "Seltsam, wie eine Himmelsrichtung im Grund alles ausdrĂŒcken konnte, die ganze Geschichte. Im Osten. Im Westen. Norden und SĂŒden erscheinen relativ bedeutungslos." Aber Seiler schreibt auch von Ankommen und Finden. In einem Epilog lĂ€sst er Carl, der biografische Ăhnlichkeit mit ihm selbst aufweist, viele Jahre spĂ€ter auf die Grenzen der Freiheit zurĂŒckblicken.
Und welche Rolle spielt nun Kruso, der groĂe Macher von Hiddensee aus dem VorgĂ€nger-Buch, in "Stern 111"? Kruso ist von der Ostsee-Insel nach Berlin gekommen. Er mischt in der Hausbesetzer-Szene mit und wird "Commandante" genannt. Aber: Die Zeit hat sich weitergedreht, die DDR ist untergegangen, Hiddensee ist nicht mehr der Sehnsuchtsort - und Kruso muss sich wie alle anderen auch in einem neuen Leben zurechtfinden. Das, so weiĂ man aus der Geschichte, haben die einen besser und die anderen schlechter hingekriegt.
Lutz Seiler: Stern 111, Suhrkamp Verlag, Berlin, 528 Seiten, 24,00 Euro, ISBN: 978-3-518-42925-9