Beruhigungsmittel Krimi â Corona-Hype oder mehr?
Deutschland steht still, doch die Fernseher des Landes laufen auf Hochtouren. Primetime-Krimis sorgen regelmĂ€Ăig fĂŒr Rekordzahlen und werfen die Frage auf: Was sagt das ĂŒber unsere Zeit? Eine AnnĂ€herung.
Die wogenden Wellen des Wattenmeeres vor der Insel Norderney, eine mysteriöse Hoteldirektorin mit DDR-Vergangenheit, irre ZustĂ€nde in einer Stuttgarter Baugemeinschaft: Millionen Deutsche kennen diese VersatzstĂŒcke aus den jĂŒngsten "Tatort"-Geschichten. Nicht nur der Sonntagskrimi erfreut sich derzeit schwindelerregender QuotenhöhenflĂŒge. Auch die "Nord bei Nordwest"-Folge "Im Namen des Vaters" verzeichnete 10,08 Millionen Zuschauer und "Nord Nord Mord", "Marie Brand", "Wilsberg", "Ein starkes Team" und "Die Toten vom Bodensee" lockten jeweils mehr als 8 Millionen Zuschauer vor die Röhre.
Es ist ein erstaunliches FernsehphĂ€nomen, das sich derzeit beobachten lĂ€sst. Vergleicht man nur die Zuschauerzahlen der vier "Tatort"-Erstausstrahlungen im Januar 2019, 2020 und 2021 miteinander, ist der Rekordmonat dieses Jahr perfekt. Mehr als 41 Millionen "Tatort"-Fans im Januar ĂŒbertrumpfen die 34 und 37 Millionen aus den Vorjahren deutlich. Ein Corona-Umstand? Mit Sicherheit spielt es eine Rolle, dass Deutschland im Lockdown verharrt und die Menschen in der Isolation hĂ€ufiger zur Fernbedienung greifen.
"Kriminalfilme erzÀhlen von Ordnungsstörungen"
Doch warum sind es ausgerechnet Krimis, die als telegene Marke eine BlĂŒtezeit erleben? Schon seit jeher ist das Genre mit den Ermittlerduos des Deutschen liebstes TV-Produkt. Es kommt also nicht von ungefĂ€hr, dass ARD und ZDF â kraft ihres Auftrags GralshĂŒter der deutschen FernsehbedĂŒrfnisse â wie am FlieĂband Krimis produzieren. Die Suche nach dem Bösen steht vor allem fĂŒr ein GrundbedĂŒrfnis: Beruhigung. Was auf den ersten Blick widersprĂŒchlich klingen mag, wirkt bei nĂ€herer Betrachtung logisch.
"Kriminalfilme erzĂ€hlen von Ordnungsstörungen und der Wiederherstellung einer Ordnung. Am Ende eines Krimis gelten Probleme in der Regel als gelöst, die moralische Schieflage als korrigiert", beschreibt Professor Dennis GrĂ€f von der Uni Passau das Genre auf Nachfrage von t-online. Er muss es wissen, schlieĂlich hat er mit der Arbeit "Tatort. Ein populĂ€res Medium als kultureller Speicher" promoviert. TatsĂ€chlich sind die VerhĂ€ltnisse in deutschen Krimis klar ausdifferenziert: Der alte Kampf â Gut gegen Böse â erzĂ€hlt in 90 Minuten. Die Zuschauer können sich mit den Figuren der Ermittler identifizieren und sich so in der Gewissheit wĂ€hnen, auf der richtigen Seite zu stehen.
Ein Ausnahmezustand wie die Corona-Pandemie als Katalysator einer ohnehin vorhandenen Sehnsucht? GrĂ€f meint: "In einer Zeit der Krise, so lieĂe sich vermuten, könnte das BedĂŒrfnis nach Geschichten, die zu einer Ordnung finden, höher sein als in einer nicht als krisenhaft wahrgenommenen Zeit." In eine heile Welt flĂŒchten, oder zumindest in einen Kosmos, der Klarheit verspricht, das ist Eskapismus in Reinform und seit Jahrhunderten bekannt.
Interessant an den neuen Quotenrekorden ist eher ein anderer Aspekt. Es ist nicht lange her, da war in den Unkenrufen ĂŒber das lineare Fernsehen immer das gleiche zu vernehmen: Das TV-Medium sei aus der Zeit gefallen. 20.15 Uhr, Primetime, Fernsehr als Lagerfeuer? LĂ€ngst Geschichte, so der Tenor. Streamingangebote wie Netflix, Amazon und Co. versprachen den Menschen eine "schöne neue Welt", in der keine AbhĂ€ngigkeiten von Sendeterminen die Tagesplanung diktieren. Einschalten wo und wann man will, das scheint aber in Corona-Zeiten nur noch bedingt in Mode zu sein.
Struktur im Alltag â und der Fernseher lĂ€uft ab 20 Uhr
Greift Deutschland wieder kollektiv ab acht Uhr zur Fernbedienung? DafĂŒr sprechen vor allem auch die Zahlen der "Tagesschau". Pro Tag kam die Nachrichtensendung vergangenes Jahr auf durchschnittlich 11,78 Millionen Zuschauer. Laut ARD der "höchste Wert seit Beginn der Quotenmessung". Medienforscher Prof. Dr. Joachim Trebbe sagte im GesprĂ€ch mit t-online bereits im April 2020: "Es gelingt dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk in der Krise Vertrauen zurĂŒckzugewinnen." Chaos verlange nach Einordnung und diese Chance wĂŒrden ARD und ZDF nutzen, so der Wissenschaftler von der FU Berlin.
Die Krimis laufen reihenweise im Anschluss und profitieren vom Zulauf ihrer VorgÀngersendung. Ein klar strukturiertes TV-Programm also, das in einer Zeit der Ungewissheiten Ordnung verleiht. War es nicht das, wovon "Tatort"-Experte Dennis GrÀf im Hinblick auf die Funktionsweisen des Krimis sprach? An diesem erweiterten Zusammenhang bekundet er so seine Zweifel: "Hier wÀre die Frage zu stellen, ob es wirklich wahrscheinlich ist, dass die Krise durch fiktionale Angebote zu kompensieren versucht wird, weil die gegenwÀrtige Krise doch zu sehr den Alltag strukturiert und omniprÀsent ist."
Das Erfolgsmodell Krimi, es ist alt und es profitiert von der Krise. KausalitĂ€ten zwischen Lockdown und Krimi-Hype, sie lassen sich nur schwer ermitteln â wie in einem vertrackten Fall, der erst kurz vor Schluss die Auflösung preisgibt. Endet das kollektive Verharren in den eigenen vier WĂ€nden mit den ersten frĂŒhlingshaften BlĂŒten, wird Licht ins Dunkel dieses WohnzimmerphĂ€nomens kommen und damit vielleicht die Erkenntnis, das ein Hype so schnell wieder vergehen kann, wie er gekommen ist. Nur die Programmmacher des öffentlich-rechtlichen Fernsehens sollten die Gunst der Stunde nutzen. Die Diskussion um 86 Cent mehr fĂŒr den Rundfunkbeitrag, sie wird von der FrĂŒhlingssonne auch in einigen Monaten nicht ausgeblendet. Aber, um im Krimibild zu bleiben: Am Ende wird alles gut.