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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Umstrittene These zu Blatten "Wenn der Berg kommt statt ruft"
Gigantische Fels-, Eis- und Geröllmengen haben das Dorf Blatten zerstört. Der Meteorologe Jörg Kachelmann macht den Klimawandel verantwortlich. Hat er recht?
In der Schweiz ist passiert, was Experten befürchtet haben: Vom Berg Kleines Nesthorn sind Millionen Kubikmeter Gipfelgestein abgebrochen, auf einen darunter liegenden Gletscher gekracht und von dort in einer massiven Gerölllawine ins Tal gerutscht. Das einst idyllische Bergdorf Blatten ist zerstört. Die meisten Häuser sind entweder unter einer 50 bis 200 Meter dicken Schuttschicht begraben oder vom sich hinter dem Felskegel stauenden Flüsschen Lonza überflutet worden.
Sind Katastrophen wie diese etwas, an das sich die Menschen in den Bergen gewöhnen müssen – weil der Klimawandel Felsstürze immer wahrscheinlicher macht?
- Schockierende Vorher-Nachher-Bilder: Das blieb von Blatten übrig
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Der Meteorologe Jörg Kachelmann ist sich in dem Punkt sicher: "Wir werden in den kommenden Jahren und Jahrzehnten öfter sehen, dass alpine Dörfer nicht mehr da sind", schreibt er bei X. "Klimawandel ist, wenn der Berg kommt statt ruft."
Ein "normaler Prozess" im Hochgebirge?
Die Position ist durchaus streitbar. Einige Geologen zeigen sich deutlich vorsichtiger, wenn sie nach dem Zusammenhang zwischen Klimawandel und katastrophalen Felsstürzen gefragt werden.
Im Hochgebirge seien Berg- und Felsstürze ein "normaler Prozess, mit dem man eigentlich immer rechnen muss", betont etwa Bergexperte Robert Kenner von der Eidgenössischen Forschungsanstalt für Wald, Schnee und Landschaft. Berge seien durchzogen von Schwächezonen, erläuterte er im Schweizer Radio. Wenn diese so orientiert seien, dass Stürze möglich sind, dann werde es irgendwann auch zu Abbrüchen kommen.
Klimawandel: Der "Stress im Berg" steigt
Die Frage sei nur: wann? Hier kommt die vom Menschen gemachte Klimakrise ins Spiel. Die globale Erwärmung führe dazu, dass in den Alpen der Permafrostboden schmilzt. Laut Kenner ist schon die Hälfte aufgetaut. Der Experte erklärt: Wenn vermehrt Wasser in einen Berg eindringt und der Druck steigt, führt das dazu, "dass ein erhöhter Stress im Berg herrscht".
Mit anderen Worten: Ein Felssturz, der sich ohne Klimakrise eventuell erst in 100 oder 200 Jahren ereignet hätte, kommt nun vielleicht schon eher. Im konkreten Fall bleibt Kenner allerdings zurückhaltend. "Es gibt andere Einflussfaktoren, die zum Felssturz führen können", sagt er. "In Summe ist es immer ein Mischmasch aus ganz vielen verschiedenen Faktoren."
Fels verliert Druck- und Zugfestigkeit
Auch der Geologe Flavio Anselmetti von der Universität Bern zögert aus diesen Gründen in einem Interview mit dem Magazin "Spiegel", den Felssturz in Blatten als eine direkte Folge des Klimawandels zu bezeichnen. Klar sei indes: Der tauende Permafrost lasse generell vermehrt Felsen abbrechen. Die Gefahr von Steinschlägen steige.
Michael Krautblatter, Leiter des Lehrstuhls für Hangbewegung der TU München, bekräftigt das. In den vergangenen Jahren sei eine Zunahme von Felsstürzen in den Regionen zu beobachten gewesen, in denen der Permafrostboden taue, sagte er der "Bild"-Zeitung. Laboruntersuchungen hätten ergeben, dass Fels bei Erwärmung Druck- und Zugfestigkeit um bis zu 40 Prozent verliere.
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"Es wird gefährlicher": Mehr als 50 Standorte auf Risikoliste
Die Folge laut Krautblatter: "Das Bergwandern wird gefährlicher." Bei der Forschung zu Felsstürzen gehe es darum, "in Zukunft Menschenleben zu retten".
Klar ist: Felsstürze sind potenziell tödlich. In Blatten wird nach dem Gletscherzusammenbruch noch immer eine Person vermisst. Die Suche wurde inzwischen eingestellt. Beim Felssturz von Bondo 2017 starben acht Menschen, als von der Nordflanke des 3.369 Meter hohen Piz Cengalo im Schweizer Kanton Graubünden drei Millionen Kubikmeter Gestein abbrachen. Auch damals wiesen Experten auf einen Zusammenhang mit dem tauenden Permafrostboden hin.
Auf einer Liste haben die Experten vom Schweizer Institut für Schnee- und Lawinenforschung bereits vor einigen Jahren Standorte aufgeführt, in denen in Zukunft weitere Felsstürze drohen. Allein für das Schweizer Wallis umfasste diese Liste mehr als 50 Orte – auch Blatten war darunter.
- srf.ch: "Robert Kenner: 'Über die Hälfte des Permafrosts ist aufgetaut'"
- spiegel.de: "'Jetzt droht bereits die nächste Katastrophe'"
- bild.de: "'Wandern in den Alpen wird gefährlicher'"
- 24heures.ch: "Blatten enseveli: la catastrophe en cartes, graphiques et vidéos" (Französisch)
- srf.ch: "Schweizer Pionierforschung entschlüsselt, wie Permafrost auftaut"