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Kolumne: 10 Gebote für den Journalismus? Das ist lobenswert


Die "Süddeutsche" wird 75
Zehn Gebote für den Journalismus? Das ist lobenswert

  • Gerhad Spörl
Von Gerhard Spörl

03.08.2020Lesedauer: 5 Min.
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Kolumnist Gerhard Spörl macht sich Gedanken über die "Journalismus-Gebote" der "Süddeutschen Zeitung".Vergrößern des Bildes
Kolumnist Gerhard Spörl macht sich Gedanken über die "Journalismus-Gebote" der "Süddeutschen Zeitung". (Quelle: imago-images-bilder)

Eine Institution der deutschen Presselandschaft wird 75 und denkt dabei intensiv über die Zukunft der Branche nach. Zehn Gebote sind herausgekommen, die eine tiefere Betrachtung verdient haben.

Für Journalisten beginnt das Tagwerk damit, dass sie lesen, was andere Journalisten geschrieben haben. Jeder von uns hat seine eigene heilige Ordnung. Meine beginnt mit der Lektüre der "Süddeutschen Zeitung".

Ich mag sie, weil sie mich nicht morgens schon mit alarmistischen Betrachtungen belästigt. Ich bewundere sie, weil sie beispiellose Nachwuchspflege betreibt. Viele von den heutigen Schreiberinnen und Schreibern kenne ich nicht mehr, sie müssen jung sein, sie wirken kompetent und sie setzen die Tradition der Zeitung fort – eine große Kunst, hinter der ich eine lenkende Hand vermute, auch wenn in unserem Gewerbe vieles durch eine Kombination aus Zufall und Absicht geschieht.

In diesem Jahr wird die "SZ" 75 Jahre alt. Der Geburtstag liegt zwar erst im Oktober, aber am Samstag veröffentlichte sie schon mal 10 Gebote, die sie einen Kompass für die digitale Transformation nennt. Das ist genauso ungewöhnlich wie lobenswert. Stellen Sie sich vor, die Deutsche Bank, die es nötig hätte, gäbe sich 10 Gebote, oder Borussia Dortmund käme auf diese Idee.

"Ein heiterer Freund und Begleiter"

Besonders das dritte Gebot hat es mir angetan. Es lautet: Die "SZ" "ist ein vertrauter, unbestechlicher, neugieriger, offener, kluger und wenn möglich heiterer Freund und Begleiter".

Schön gesagt. Vertraut: Na klar, fast jeder aus meiner Generation hat sein bevorzugtes Blatt. Unbestechlich: Finde ich unglücklich, um Neutralität bemüht, wäre mir lieber. Neugierig: Wer nicht neugierig ist, wäre falsch in unserem Metier. Freund und Begleiter: Ja, so möchte man an seine Leser denken.

Gebote sind dazu da, dass wir sie so gut befolgen, wie nur irgend geht. Allerdings liegt es nicht immer in unserer Macht, was wir tun oder schreiben sollen. Manchmal liegt sie auch in den Umständen, die ihre eigene Logik entfalten. In den Konferenzen in der "Zeit" oder im "Spiegel" haben wir regelmäßig um Maßstäbe und Verhaltensweisen gerungen. In Wahrheit aber sind die Ausnahmen von den Geboten besonders interessant. Nicht nur in Kriegen oder Bürgerkriegen, sondern auch in Zeiten wie diesen.

Auch Alarmismus hat seine Berechtigung

"Wenn möglich heiter": Unter dem Einfluss von Corona ist das nicht einfach. Das Gegenteil von Heiterkeit hat seine Berechtigung. Alarmismus bietet eine gute Chance, dass wir weiterhin glimpflich davon kommen, glimpflicher als andere Länder. Also habe ich geschrieben, die Regierung verdient Vertrauen und Markus Söder mag richtig liegen und Armin Laschet nicht.

Wer so denkt und schreibt, muss sich natürlich vorhalten lassen, dass er die Grund- und Freiheitsrechte gering achtet, wobei ich einschränken würde: auf Zeit. Und wer sich nicht für allzuständig hält, muss einräumen, dass er sich womöglich in seiner Einschätzung des Notwendigen irrt. Nicht zufällig schränken Gerichte jetzt staatliche Maßnahmen ein oder heben sie gar auf. Nicht zufällig argumentieren die Richter, dass es eben auch ein bürgerliches Recht auf Risiko gibt. Wobei sich natürlich sofort die Frage aufdrängt: Muss auch ich dieses Recht auf Risiko ertragen, das sich jemand anderes nimmt?

Ein Ereignis – verschiedene Perspektiven

"Wenn möglich heiter" ist auch schwierig, wenn viele andere anders denken und schreiben. Zum Beispiel neulich der Gipfel der Europäischen Union, auf dem das Wiederaufbauprogramm über 750 Milliarden Euro beschlossen wurde. Da gab es zwei unterschiedliche Perspektiven. Die eine konzentrierte sich auf den Prozess, der sich über vier Tage hinzog, an denen böse Bemerkungen hin und her flogen, vier kleine Länder die zwei Großen in die Verzweiflung trieben und Scheitern plötzlich möglich zu sein schien.

Darüber ließ sich trefflich mokieren, das ließ sich herzhaft kritisieren, das machen wir gerne, weil wir uns damit größer machen als wir sind. Wenig eignet sich mehr für Sarkasmus und böse Ironie als die Europäische Union.

Die andere Perspektive ging so: Vergesst den Prozess, schaut auf das Resultat. Am Tag nach der Einigung gingen zwei Fachleute so vor, die den Gipfel kommentierten. Im Interview mit t-online.de übte Wolfgang Ischinger, der Leiter der Münchner Sicherheitskonferenz, zwar grundsätzliche Kritik an der EU, nannte aber die 750 Milliarden Euro an Krediten und Zuschüssen einen ermutigenden Erfolg. Marcel Fratzscher, der Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung, schrieb auf "Spiegel Online", Deutschland sei der wirtschaftliche Gewinner dieses Gipfels und im Ergebnis liege ein größerer Erfolg als auf den ersten Blick ersichtlich.

Auf den inneren Pluralismus kommt es an

Die einen sagten so. Die anderen sagten so. Oft stehen die heitere und die nicht heitere Betrachtung nebeneinander in einem Blatt oder auf einer News-Plattform. Der Vorteil liegt darin, dass die Aufgeregten unter den Lesern genau so wie die Unaufgeregten ihre Meinung widergespiegelt finden. Der innere Pluralismus einer Redaktion ist entscheidend, das respektvolle Nebeneinander unterschiedlicher Meinungen. Diese Offenheit ist wichtiger als "im Zweifelsfall heiter".

Entscheidend ist ohnehin anderes. Der Umgang mit Irrtümern. Das Einräumen von Versäumnissen. Die Transparenz für redaktionelle Vorgänge, in denen sich Skandalöses ereignet. Was der "Spiegel" im Fall Relotius offenlegte, war beispielhaft für die ganze Branche.

Im Fall Wirecard hätten viele Redaktionen Grund zur Selbstkritik. Der staunenswerte Aufstieg zum weltweiten Unternehmen für digitalen Zahlungsverkehr ist ja mit allerlei Ohs und Ahs in den Wirtschaftsteilen so ziemlich sämtlicher Erzeugnisse begleitet worden. Markus Braun, der Vorstandsvorsitzende, wurde wie ein Rockstar behandelt. Aus Aschheim in die Welt. Aus dem Nichts in den Dax. Dann aus dem Dax in das Nichts. Und Jan Marsalek auf der Flucht.

Allein zwei Kollegen der "Financial Times" spielten nicht mit, machten frühzeitig auf vorgetäuschte Verträge und fingierte Umsätze aufmerksam, wurden deshalb verdächtigt, das Geschäft von trüben Finanziers zu betreiben, sogar von der BaFin. Das Blatt hielt durch, die beiden Journalisten ließen nicht locker. Von den deutschen Blättern bekamen sie, so weit ich sehe, keine Unterstützung. Am Ende aber hatten die Briten richtig gelegen und alle anderen falsch.

Sich an den Mainstream zu halten ist manchmal leichter

Manchmal fällt es eben schwer, offen und unbestechlich und neugierig den Ereignissen zu folgen. Manchmal ist es leichter, sich an den Mainstream zu halten. Immer ist es schade, wenn wir Journalisten unter unseren Möglichkeiten bleiben, vor allem wenn wir hinterher so tun, als hätten wir es immer schon gewusst. Und im Rückblick wären ein paar Worte der Selbstkritik und der Anerkennung für die beiden Briten angemessen, oder?

Was nichts daran ändert, dass morgen wieder mein Tagwerk mit der "Süddeutschen Zeitung" beginnen wird. Nichts ist in unserem Beruf in Stein gemeißelt, nicht einmal die zehn Gebote. Was uns aber nicht daran hindern sollte, darüber nachzudenken, was wir tun und was wir versäumen.

Deshalb schon mal jetzt: Happy Birthday, liebe "SZ".

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