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Obdachlosenzählung in Berlin: Die Schreie der Geister


Obdachlosenzählung in Berlin
Die Schreie der Geister

Von Patrick Diekmann

Aktualisiert am 02.02.2020Lesedauer: 9 Min.
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Ein Obdachloser unter einer Brücke am Zoo: In Berlin sollen schätzungsweise bis zu 10.000 Menschen auf der Straße leben.Vergrößern des Bildes
Ein Obdachloser unter einer Brücke am Zoo: In Berlin sollen schätzungsweise bis zu 10.000 Menschen auf der Straße leben. (Quelle: imago-images-bilder)

Erstmals wurden in Berlin Obdachlose gezählt, t-online.de-Reporter Patrick Diekmann war dabei. Und hat viel über das Leben dieser Menschen erfahren. Und etwas über sich selbst.

Augen sind der Spiegel unseres Selbst. Ein kurzer Moment, ein direkter Blick in das Gesicht eines anderen Menschen weckt oft Emotionen. Sympathie, Freude, Scham, vieles davon fühlen wir unterbewusst, auch im Alltag, wenn wir Fremden begegnen. Angenehmen Blicken halten wir stand, unangenehmen weichen wir aus. Diese Augenblicke durchleben wir in atemberaubender Geschwindigkeit. Oft sind diese Momente nicht greifbar, manchmal bemerken wir sie nicht einmal.

Als ich in der Stadtmission am Berliner Bahnhof Zoo sitze, habe ich die Augen kurz geschlossen. Ein wildes Stimmengewirr hämmert auf mich ein, wie die lauten Laubgebläse, die meist morgens auf den Bürgersteigen der Stadt auf und ab wandern. Viele Menschen reden durcheinander, einige schreien sogar. "Leg' dich nicht mit mir an. Du weißt, was dann passiert", höre ich eine Frau rufen. In den Stimmen liegt Anspannung und die Hektik einer Herde Büffel, die gerade von Löwen umkreist wird.

Ich öffne die Augen wieder. Einen Moment lasse ich nur die Kulisse des Ortes auf mich wirken, den ich zuvor nur aus Zeitungsartikeln kannte. In dem Raum gibt es neben einer Küche nur einige Tische, Stühle mit blauen Plastiksitzflächen stehen davor. Es ist viel los am Mittwochabend. Die meist ehrenamtlichen Helfer haben in einer Ecke gerade mit der Essensausgabe begonnen, einer verteilt Nikoläuse aus Schokolade an die Gäste, ein Überbleibsel von Weihnachten. Zwischen den Tischen gehen Journalisten auf und ab. Sie reden mit den Bedürftigen, führen Interviews, überall sind Fernsehkameras, Mikrofone und Fotografen zu sehen.

Heute ist ein besonderer Tag für Berlin, denn erstmals sollen die Obdachlosen in der Stadt gezählt werden. Aber bei der ersten "Nacht der Solidarität" in Berlin geht es um mehr als um verlässliche Zahlen, mit denen die Sozialverbände die Hilfe für Obdachlose besser koordinieren möchten. Es geht um einen Dialog und um Verständnis für die Menschen, die vom Rest der Gesellschaft oft vergessen werden. Obdachlose sind die Geister unseres Alltags. Viele Menschen begegnen ihnen täglich, aber wenden ihre Blicke ab oder schauen durch sie hindurch.

So ist es auch bei mir. Ich treffe täglich viele von ihnen auf meinen Wegen durch die Stadt, wenn möglich gebe ich etwas Geld oder eine Kleinigkeit zu essen. Aber dabei blicke ich die Menschen nur kurz an, den Grund dafür kann ich mir nicht erklären. Für mich ist der heutige Abend ein Pfad der Selbsterkenntnis, denn trotz des täglichen Kontakts in großen Städten gibt es oft Berührungsängste, die sich erst dann auflösen, wenn man Obdachlose, ihre Lebenswelt und ihre Geschichten kennenlernt. Das Bild von Obdachlosigkeit in unseren Köpfen ist eine Mauer, die wir durchbrechen müssen, um Menschlichkeit dahinter zu finden.

"Ich möchte Gutes bewirken"

Die "Nacht der Solidarität" beginnt mit einer Schulung. Einen Steinwurf von der Stadtmission entfernt kommen gegen 19.30 Uhr knapp 50 ehrenamtliche Helferinnen und Helfer im Zentrum am Zoo der Berliner Stadtmission zusammen. Der Raum befindet sich direkt unter den S-Bahn-Gleisen und ist spartanisch eingerichtet, es gibt nur eine Handvoll Holzbänke, Journalisten nehmen auf Pappkartons Platz. Es ist dunkel, kalt, der Ort ist von den Organisatoren ausgewählt worden, weil er ein Spiegel der Verhältnisse ist, in denen Obdachlose Tag für Tag leben.

Aber die Kulisse ist für mich nur eine Fassade. Viele Studierende, die Presse und einige Politiker sind gekommen. Sie führen ein ähnliches Leben wie ich, Berührungsängste habe ich keine und in den zahlreichen Gesprächen blicke ich den Menschen direkt in ihre Gesichter, so wie ich das auch bei Freunden oder Bekannten mache.

"Ich möchte etwas Gutes bewirken. Leben und Wohnen ist ein Menschenrecht und ich sehe täglich in Berlin viele Obdachlose. Ich frage mich dann oft, was ich tun kann. Eine kleine Spende ist zwar hilfreich, aber das ist nur der Anfang", sagt die Helferin Sophie Fähnrich, die bei der Zählung eine der Teamleiterinnen ist. "Ich erhoffe mir vom heutigen Abend, dass besonders im Winter Obdachlose weniger auf der Straße schlafen müssen."

Insgesamt 2.600 Helfer sollen am Abend obdachlose Menschen in der ganzen Stadt zählen, jede Straße soll abgelaufen werden. Und das ist auch nötig: Berlin wächst, und das Problem mit der Obdachlosigkeit wächst mit. Bisher gibt es zur Lage in der deutschen Hauptstadt lediglich grobe Schätzungen: Angenommen werden 6.000 bis 10.000 Obdachlose, bei vermutlich steigender Tendenz in den vergangenen Jahren. Nach Schätzungen der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe leben bundesweit 41.000 Menschen im Laufe eines Jahres ohne jede Unterkunft auf der Straße.

In einer anderen Welt

Viele der Zählerinnen und Zähler ziehen ihre Motivation aus ihren Begegnungen mit Obdachlosen im Alltag. "Ich habe zuvor auch schon privat oft mit Obdachlosen zu tun gehabt. Deswegen weiß ich zum Beispiel von einem Obdachlosen, dass er nicht in ein Wohnheim gehen kann, weil er homosexuell ist", berichtet der Helfer Toros Yavuz. "Und vielleicht stellt sich ja heute heraus, dass es da einen großen Bedarf gibt, sodass die Stadt darauf regieren kann."

Nach der Schulung machen sich die Gruppen pünktlich um 22 Uhr auf ihre jeweiligen Zählrouten. Die Presse darf die Zählungen nicht begleiten, aus Respekt vor den Befragten, heißt es. Ich gehe zur Stadtmission auf der anderen Seite der S-Bahn-Gleise, die Zählgruppen sollen spätestens in drei Stunden auch dorthin kommen. Als ich in der Einrichtung eintreffe, hat die Essensausgabe bereits begonnen. Helfer in blauen Westen reichen Kartoffelsuppe durch das Fenster hinaus auf den Bürgersteig, dort hat sich schon eine Schlange von knapp 20 Menschen gebildet. Mit der Suppe in der Hand flüchten dann einige Bedürftige vor Regen und Kälte in die Wärme des Gebäudes.

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Ich bin nur wenige Meter gegangen, aber in der Stadtmission bin ich in einer anderen Welt. Ich setze mich mit einem Kaffee an den einzigen komplett freien Tisch und beobachte das Treiben in dem Raum. Augen zu, Augen auf. In den ersten Minuten bin ich wie gelähmt, weiß nicht wirklich, was ich tun soll. Also bleibe ich erst einmal sitzen. Auf der einen Seite beginnen sich zwei Frauen zu streiten und schreien sich an, in der Mitte legt sich ein Mann auf zwei der blauen Stühle und regt sich nicht mehr. Sofort versuchen ihn zwei der Helfer zu wecken, als das nicht funktioniert, fühlen sie seinen Puls. Der Mann lebt, schläft aber tief und fest.

Einige Momente später setzt sich ein junges Mädchen zu mir an den Tisch. Sie ist klein, trägt kurz geschnittene Haare und mehrere Schichten Kleidung, die ihr teilweise viel zu groß sind. Ihre Haut im Gesicht ist stark gerötet, aus ihrem rechten Turnschuh lugt eine blaue Plastiktüte hervor. Ich warte, spreche sie erst an, als sie aufgegessen hat.

Jenny ist 16 Jahre alt und lebt schon seit zwei Jahren auf der Straße. Sie bezeichnet sich selbst als Einzelkämpferin, obwohl sie in einer Beziehung ist. Für gewöhnlich schläft sie mit ihrem Freund und ihrem Hund unter einer Brücke im Regierungsviertel. "Für mich ist das Leben ein ständiger Kampf", meint Jenny. In eine Übernachtungsunterkunft möchte sie nicht gehen, weil sie Angst hat, ausgeraubt zu werden. Ihre rechte Hand ist geschwollen, Blutergüsse sind zu sehen. Gestern Nacht habe sie sich geprügelt.

Als 14-Jährige auf die Straße

Im Gespräch mit Jenny fällt mir immer wieder auf, dass mein Blick abschweift. Ich schaue oft zur Wand, wahre dadurch etwas Distanz. Ich habe Mitleid, aber hilft es Obdachlosen, wenn ich das zeige? Ich weiß es nicht. Jennys Geschichte ist bewegend, sie lebt in einem Alter auf der Straße, in der die meisten Jugendlichen im Schutz des Elternhauses aufwachsen und die Schule besuchen. Ihre Erzählungen stammen aus einer Lebenswelt, die mir außerhalb von oberflächlichen Betrachtungen völlig fremd ist.

Aber in den Gesprächsmomenten, in denen ich schüchtern wahlweise auf die Wand oder auf mein Handy schaue, wird mir eines klar: Mir ist das Gespräch über Jennys Leben auf der Straße unangenehmer als der 16-Jährigen. Obwohl es um ihr Leid und ihre Probleme geht. Doch sie genießt die Aufmerksamkeit, betont, dass sie stark sei. "Keiner sollte sich mit mir anlegen", wiederholt sie ein ums andere Mal. Wer auf der Straße Schwäche zeigt, werde ausgeraubt, verprügelt oder vergewaltigt. Wenn sie keine Freunde haben, schließen sich die Menschen hier zu Zweckgemeinschaften zusammen, um auf sich aufzupassen.

Die Obdachlosenzählung wird zumindest von Jenny positiv aufgenommen. Sie verspricht sich davon mehr Aufmerksamkeit und Hilfe. "Es ist wichtig, zu erfahren, wie viele Obdachlose es hier gibt, vor allem auch junge Menschen", meint die 16-Jährige. "Ich würde gern mit meinem Freund eine eigene Wohnung haben." Ich begleite sie für eine Zigarette nach draußen. Plötzlich muss sie sich in einen Mülleimer übergeben. Das könne sie sich nicht erklären. "Ich habe doch meinen Pegel nur gehalten."

"Es fehlt uns an Verständnis"

Alkohol und Drogen sind zwar in der Obdachlosenszene ein Problem, aber in der Mission gibt es zahlreiche Bedürftige, die nicht mehr trinken, weil sie schlechte Erfahrungen gemacht haben. Ich bin zurück an meinem Tisch im Speisesaal. Wieder bleibe ich nicht lang allein, Jens und Kathi setzen sich zu mir. Kathi ist eine Frau, die aber im Körper eines Mannes geboren wurde. Sie trägt einen beigen Wintermantel, ihre Fingernägel sind säuberlich grün lackiert und ihr Haar zu einem blonden Zopf gebunden. Jens ist deutlich kleiner als Kathi, er hat kurze braune Haare, einen Bart und auch er trägt mehrere Schichten Kleidung und eine rote Funktionsjacke, die ihn in den kalten Nächten warm halten soll.

Auch Kathi und Jens freuen sich über die Aufmerksamkeit durch die vielen Journalisten. "Es ist schön, wenn sich Menschen unsere Geschichten anhören, so wie du das gerade tust. Denn es fehlt uns allgemein an Verständnis", meint Jens, der erst seit Dezember auf der Straße lebt. "Man sollte nicht alle über einen Kamm scheren. In manchen Einrichtungen gibt es meistens Terror. Die Nachbarn machen laute Musik oder trinken die ganze Zeit. Und dann habe ich mitgetrunken und davon habe ich jetzt die Schnauze voll. Straße ist zwar scheiße, aber die Unterkunft ist noch viel beschissener."

Kathi lebt dagegen schon deutlich länger auf der Straße. Ihr ganzes Leben, wie die 40-Jährige sagt. In ihren Erzählungen widerspricht sie sich gelegentlich. Ihr geht es darum, gehört und respektiert zu werden. "Auch Obdachlose brauchen Liebe und Geborgenheit und so gehen wir psychisch kaputt. Alle sagen, dass wir Asoziale, Säufer oder Drogenjunkies sind, aber wir sind auch Menschen", sagt Kathi. "Nur weil wir ein beschissenes Leben haben, werden wir vorverurteilt. Aber viele von uns sind keine schlechten Menschen. Äußerlich sieht man mir das nicht an, aber innerlich könnte ich schreien. Niemand hört unseren Hilferuf."

Die Erzählungen von Jens und Kathi gehen mir unter die Haut. Und unabhängig, ob sie wirklich so passiert sind, zeigen sie, dass das Leben auf der Straße vor allem in der Psyche Narben hinterlässt. Sie berichten ausschließlich von ihrem täglichen Leid, fröhliche Momente und positive Erlebnisse gibt es wenig. Kathi wurde schon mal in ihrem Schlafsack angezündet, Jens schläft mit einem Messer unter der Jacke, weil er Angst vor Übergriffen hat. Man fühle sich wie Dreck und werde auch so behandelt, sagt Kathi. Jens nickt zustimmend. Natürlich wünschen sich beide auch eine Wohnung, aber materielle Dinge sind ihnen gar nicht so wichtig. Ihnen geht es vielmehr um Anerkennung, Respekt und als Teil der Gemeinschaft wahrgenommen zu werden.

"Du gehst schnorren und wirst bespuckt und als asoziale Schlampe bezeichnet. Die Schmerzen hat man ein Leben lang", erzählt die 40-Jährige. "Ich wünsche mir jemanden, mit dem ich mein Leben teilen kann. Einen Freund, der mich versteht, der mich auch mal in den Arm nimmt und sagt, dass er mich so nimmt, wie ich bin. Jemanden, dem egal ist, was früher passiert ist."

Keine Geister mehr

Über zwei Stunden sitze ich nun in der Stadtmission und höre zu. Für mich ist es ein Prozess, ich merke, dass nach und nach die Distanz zwischen mir und den Menschen in der Einrichtung geringer wird. Schon vor der Rückkehr der Zählgruppen wird mir der Sinn der "Nacht der Solidarität" klar. Wenn ich nun Obdachlose anblicke, sehe ich vor allem Menschen mit individuellen Geschichten und nicht bloß eine Idee, die ich von einem bestimmten Lebensumstand im Kopf habe. Um Berührungsängste zu überwinden, braucht es Dialog und durch Aktionen wie diese werden Obdachlose sichtbarer gemacht. Und das gibt vor allem ihnen das Gefühl, zur Gemeinschaft zu gehören.

Diese Erfahrungen teilen auch viele der freiwilligen Helferinnen und Helfer, die gegen 0 Uhr in der Stadtmission ankommen. Sie berichten fast ausschließlich von positiven Erfahrungen und netten Gesprächen. "Ich hätte vorher nicht gedacht, dass es mit mir so viel macht", meint Sophie. "Aber der heutige Abend hinterlässt Spuren und man denkt auch über eigene Vorurteile nach und darüber, wie es wäre, wenn man selbst wohnungslos wäre."

Die Geister unseres Alltags haben ein Gesicht.

Verwendete Quellen
  • Persönliche Beobachtungen und Gespräche während der Obdachlosenzählung in Berlin, Nachrichtenagentur dpa
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